Matt Hardy | Unsplash

Auf dem Mittelmeer ertrinken immer noch Menschen – und wir schauen weiterhin weg

Ein Video der New York Times zeigt, wie flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer vor den Augen der libyschen Küstenwache ertrinken. Europa muss die Verantwortung dafür übernehmen, fordert unsere Redakteurin Helen in ihrer Politik-Kolumne: „Ist das euer Ernst”.

Die Rekonstruktion der europäischen Verantwortung für das Sterben auf dem Mittelmeer

Anfang der Woche hat die New York Times, ein Video veröffentlicht, in dem Journalist*innen des amerikanischen Mediums, gemeinsam mit der britischen Recherche-Agentur Forensic Architecture eine Rettungsaktion auf dem Mittelmeer, zwischen Libyen und Italien im November 2017 nachvollziehen. In dem Video sieht man, wie Retter*innen der deutschen Organisation Seawatch Menschenleben retten und die libysche Küstenwache genau das versucht zu verhindern. Erstere werden dafür von den EU-Mitgliedsstaaten kriminalisert, letztere von der EU finanziert.

Das Video zeigt, wie Menschen, die gerettet werden könnten, ertrinken. Es zeigt das Versagen der libyschen Küstenwache. Und es zeigt die Konsequenzen der europäischen Abschottungspolitik. In dem Video wird deutlich, was Hilfsorganisationen, Seenotretter*innen und Aktivist*innen schon lange anprangern: Auf dem Mittelmeer verrät Europa seine Werte. Jede*r die*der dieses Video gesehen hat, kann nicht mehr wegsehen. Nun wird sich sicherlich endlich etwas ändern

Wahrscheinlich wird sich gar nichts ändern. Allein vergangenes Wochenende sind mindestens 100 Menschen auf dem Mittelmeer ertrunken. Gleichzeitig wartet die Sea Watch 3, mit 47 geretteten Menschen wieder einmal auf einen sicheren Hafen und die europäischen Regierungen kriminalisieren weiter die Seenotretter*innen. In Libyen werden weiterhin Menschen, die in Europa Zuflucht finden wollten, eingesperrt, gefoltert und verfolgt. Und viele der Menschen, die es irgendwie nach Europa schaffen, hängen in Lagern wie auf Lesbos fest. Auch dort ist gerade Winter. Und auch dort sterben Menschen an den Folgen der EU-Politik. Über all das gibt es Berichte, Videos, Bilder. Aber der öffentliche Aufschrei bleibt weitgehend aus. Es ist ja alles so schön weit weg.

Die traurige Wahrheit: sterbende Menschen lassen uns kalt 

Doch das Video der New York Times wird noch an einer anderen Stelle eine Rolle spielen: Bei einer Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wurde die Klage zweier Überlebender des Unglücks vom November 2017 gegen die EU eingereicht. Dort könnten die europäischen Staaten tatsächlich dazu gezwungen werden, Verantwortung dafür zu übernehmen, Libyen dafür zu bezahlen, Menschen von Europas Grenzen fern zu halten, tot oder lebendig.

Hier würde jetzt ganz wunderbar der pathetische Appell stehen, dass es hier verdammt nochmal um Menschen geht und wir nicht mehr wegsehen dürfen, dass die Politik sich ändern und dass die EU Verantwortung übernehmen muss, aber die traurige Wahrheit ist: Ich glaube nicht mehr daran, dass sich etwas ändert. Wir wissen von dem Leid und trotzdem wird eine Politik betrieben, die dem nichts entgegensetzt. Und genau deshalb ist es vielleicht höchste Zeit, andere Wege zu gehen. Die Autorin und Journalistin Fatma Aydemir schrieb diese Woche in ihrer Kolumne für die taz in Zusammenhang mit dem vermeintlichen Aufruf einer Rettungsorganisation zur Scheinehe mit Geflüchteten darüber, und warum es bei einer Heirat wahrscheinlich nie um etwas anderes geht als um eine strategische Aufteilung der eigenen Privilegien. Und vielleicht ist es an der Zeit, uns zu fragen, wie wir unsere Privilegien, unabhängig von der Politik, nutzen können, um etwas entgegenzusetzen. Oder man verschließt einfach weiter die Augen davor, dass Menschen sterben. 2018 waren es jeden Tag sechs.

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