Foto: Lucie Marshall

Wird die Diagnose ADHS bei Kindern zu schnell gestellt?

Neues aus dem Berliner Grundschulalltag: Die Diagnose ADHS wird mittlerweile so schnell vergeben, wie ich Gummibärchen esse. Auch meinen Sohn hat es fast erwischt.

Kurz nach meinem Aufstieg in das Universum „Elternvertretung“ spricht mich Sams Erzieherin bei der nachmittäglichen Abholung im Hort an:  „Frau Marshall, haben Sie kurz Zeit?“ Ich nicke, und wir gehen vor die  Tür. „Glückwunsch zur Wahl zur Elternvertretung“, fängt sie an, ich  lächele gequält und murmele irgendetwas Unverständliches.

Sams Erzieherin ist neu. Also, seit 3-4 Wochen hier. Eigentlich soll sie als Erzieherin den Lehrer im Unterricht unterstützen, aufgrund von konstantem Lehrer*innenausfall ist sie in Wirklichkeit aber diejenige, die unterrichtet und versucht zu retten, was zu retten ist. Man sieht ihr nach der kurzen Zeit schon die Mischung aus Verzweiflung und Überforderung an. „Ich wollte mit Ihnen mal kurz über Sam reden.“ Oh Gott, denke ich, was hat er denn jetzt wieder ausgefressen? „Also“, sie holt Luft, „ich habe Sam gestern jetzt mal genau beobachtet. Er ist ja ein sehr energiegeladener Junge.“ Ich nicke. Das ist a) nichts Neues und b) nichts Schlimmes.

„Also“, sie ringt nach Worten, „ich sag es jetzt mal ganz frei  heraus: Ich glaube, Sam hat ADHS.“ Ich starre sie an: „Wie bitte?“ „Also, der war gestern gar nicht ruhig zu kriegen, der konnte nicht still sitzen, der konnte sich nicht konzentrieren, der hat nicht gehört, der… der… der… also, das geht über das normale Maß an Unruhe hinaus.“  Ich starre sie – jetzt fassungslos – an und merke, wie sich in mir ein Tsunami aufbaut.

„Muss das Runde ins Eckige? Oder müssen wir nicht das Eckige endlich mal rund machen?“

Habe ich ein wildes Kind? Auf jeden Fall. Und ja: Er braucht Bewesung. Er ist neugierig, er fragt mir Löcher in den Bauch, sodass mir manchmal das Ohr blutet. Er ist so selbstbestimmt, dass ich manchmal mit ihm Diskussionen führe, bei denen ich kurz vor dem Durchdrehen bin. Fazit: Er ist ein ziemlich normaler achtjähriger  Junge, der sich viel bewegen muss. De facto fällt Sport seit vier Wochen aus und der neue Pausenhof soll seit langer Zeit eigentlich fertig sein. So steht es zumindest auf dem Schild, das an dem Baugerüst vor dem Pausenhof klebt.

Ich versuche meinen Tsunami in den Griff zu kriegen, ich atme ein und aus. Ich bin jetzt ja Elternvertreterin. Es wäre nicht gut, in den ersten Tagen gleich der Erzieherin an die Gurgel zu gehen. Pädagogisch einwandfrei und mit fast zitterfreier Stimme schaffe ich es, eine Frage zu formulieren: „Und wie war der Tag gestern?“

Sie sieht mich verwirrt an. „Äh, also ich musste Vertretung machen  und war darauf natürlich nicht vorbereitet. Und zuerst liefen die Kinder 20 Minuten ohne Betreuung durch die Schule, weil niemand wusste, wer  die Vertretung macht und … naja, Sie wissen ja, das ist nicht so toll,  wenn man dann 21 Schüler vor sich hat und nicht vorbereitet ist. Und dieses JÜL von Klasse 1 – 3 ist halt auch nicht leicht. Ich wusste gar nicht, wie ich den Jüngsten und den Ältesten gleichzeitig unterrichten sollte. Und dann haben sich Mohammad, Alexander und Juli auch noch  gestritten und Alexander hat Mohammad eine verpasst und dann habe ich  alle in einen Kreis gesetzt und versucht zu erklären, wie man mit Konflikten umgeht. Und dann ist noch Sport ausgefallen. Und…“

Sie stottert. Mein Tsunami klingt langsam ab. Jetzt hätte ich die Erzieherin am liebsten umarmt. „Es war kein  guter Tag“, schließt sie ab. „Hört sich danach an“, erwidere ich und meine Welle möchte jetzt lieber den Direktor erfassen, der seine Lehrer nicht pflegt und auf JÜL besteht, ohne dafür aber ausreichend Personal zu haben.  

„Mein Sohn hat kein ADHS“, beende ich das Gespräch und gehe, um mein Kind aus dieser bescheuerten Institution abzuholen.

Am nächsten Nachmittag sehe ich sie auf dem Schulhof. Sie winkt mir zu und läuft mir entgegen: „Frau Marshall, ich… ich… ich wollte mich  entschuldigen. Gestern war kein guter Tag. Ich … Ich habe Sam heute  nochmal mit anderen Augen beobachtet.“

Und die Moral von der Geschicht‘? Muss das Runde ins Eckige? Oder müssen wir nicht das Eckige endlich mal rund machen?

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