Unsere Community-Autorin war jahrelang Alkoholikerin – und schaffte es trotzdem bis zuletzt, ihre Sucht zu verheimlichen. Seit zwei Jahren ist sie trocken und fragt sich: Warum gilt es in unserer Gesellschaft immer noch als uncool, auf Alkohol zu verzichten?
Trinke ich zu viel?
Aus heutiger Sicht würde ich tatsächlich ganz frech behaupten, dass allein schon diese Frage ein kleiner Grund zur Sorge sein könnte beziehungsweise einen Gedankengang mehr wert sein sollte.
Warum trinken wir denn eigentlich so oft und so viel Alkohol? Alkohol ist doch im Grunde genommen „über“präsent.
Wir trinken nach der Arbeit, im Park, mit Freunden, zum Geburtstag, zu Weihnachten, an Feiertagen, an Wochentagen. Gefühlt machen es alle (oder zumindest viele) und wenn wir uns dann die Frage der Überschrift stellen, dann schneiden wir im Vergleich immer noch ganz gut ab. Also trinken wir nicht zu viel, denn andere trinken ja auch und das auch noch viel mehr und wenn das so ist, dann kann ich ja so weitermachen wie bisher, denn dann habe ich ja kein Problem und erst recht keinen Grund zur Sorge. Fertig.
„Warum trinken wir nochmal?“
- zum Spaß haben
- zur Entspannung
- zum Loslassen
- zum fallen lassen
- um unsere Schüchternheit zu überwinden
- vielleicht auch, um Ängste zu überwinden
- um keine Sorgen mehr zu haben
- weil die Party sonst vielleicht zu langweilig wäre (Party = Leben?)
- um nicht mehr traurig zu sein
- um die Leere zu füllen
- weil es so gut schmeckt (?)
- um nicht mehr alleine zu sein
- um sich während sozialer Interaktionen nicht verloren zu fühlen
- um zu vergessen
- damit das erste Date nicht zu steif verläuft
- damit der One-Night-Stand nicht albern wird (hätten wir ohne Alkoholeinfluss vielleicht weniger davon?)
Und das sind nur eine der wenigen Gründe, weswegen wir trinken. In den wenigsten Fällen geht es doch tatsächlich um den Geschmack, denn schmeckt das sechste Bier überhaupt noch? Man schmeckt doch dann gar nichts mehr. Und das dritte Glas Wein (oder das eine Burgunder-Weinglas, in welches 0,75 Liter Rotwein passen). Der Geschmack ist doch letztendlich meist egal, es geht doch um die Wirkung.
„Wir wollen auf rosaroten Wolken schweben“
Und dieses Gefühl vermittelt uns der erste, der zweite und vielleicht auch noch der dritte Schluck. Wir können aufatmen und haben das Gefühl, dass wir auf Wolken schweben.
Bis wir am nächsten Morgen die Quittung bekommen und verkatert die Augen öffnen. Dann wummert es im Schädel. Oder alles fühlt sich ganz dumpf an. Es fällt uns schwerer einen klaren Gedanken zu fassen. Die Motivation lässt zu wünschen übrig und wir trauern der rosaroten Wolke hinterher – die hat nämlich nicht das gehalten, was sie am Abend zuvor noch versprochen hat.
Am nächsten Morgen fühlen wir uns eventuell genauso leer, genauso einsam, genauso traurig, genauso gelangweilt, genauso „asozial“ (sehr überspitzt ausgedrückt), wie den Tag zuvor. Der Rausch ist eine Lüge.
Ich kann mir ein Leben ohne Alkohol gar nicht vorstellen!
Keine Sorge! Das konnte ich vor gut zwei Jahren auch nicht, denn für mich war die logische Reihenfolge: Alkohol = Lösung meiner Probleme = Spaß = mein Leben. Im Umkehrschluss hieße das ja dann, dass der Verzicht auf Alkohol zur Folge hat, dass ich meine Probleme nicht lösen kann, somit keinen Spaß mehr habe, keine Freunde mehr haben werde, nie wieder eine Bar oder einen Club betreten kann und deswegen kein lebenswertes Leben mehr zu leben habe.
Das Ding ist aber, wenn wir Alkohol als Problemlöser einsetzen, dann haben wir gleich noch ein Problem mehr an der Backe und über längere Sicht bleibt uns nichts anderes übrig, als zu betrachten, was eigentlich hinter unseren „Problemen“ steckt. Warum ist mir langweilig? Warum habe ich keinen Spaß? Warum bin ich so schüchtern? Warum fühle ich mich einsam? Warum habe ich das Gefühl der inneren Leere? Warum habe ich Angst?
Die Wahrheit kommt letztendlich ans Tageslicht, wenn wir aufhören, Alkohol als Selbstmedikation zu nutzen. Und ich möchte in diesem Zuge absolut keine Moralapostel sein und ich bin auch nicht der Meinung, dass der absolute Verzicht auf Alkohol die Lösung all unserer Probleme ist. Aber ich denke, wir sollten sehr viel achtsamer mit uns und dementsprechend auch mit dem Konsum von Alkohol umgehen.
„Ist dir denn jetzt nicht langweilig?“
Was machst du denn mit deiner ganzen freien Zeit? Diese beiden Fragen werden mir tatsächlich sehr oft gestellt. Und meine Antwort darauf lautet: Nein, mir ist nicht langweilig, weil ich endlich lebe. Ich habe mich für mich, meine Gesundheit und mein Leben entschieden. Ich habe mich dazu entschlossen mir ein Leben aufzubauen, welches ich als unglaublich lebenswert erachte und das hieß zunächst einmal dort aufzuräumen, wo noch Bedarf war und das war ziemlich harte Arbeit. Aber wenn du nicht aufräumst, dann bleibt es eben dreckig und dann kannst du versuchen, mit Alkohol (oder anderweitigen Drogen) nachzuspülen, das macht die Sache aber nicht besser (im Gegenteil).
Und die Langeweile? Langeweile haben ist ja zunächst einmal weder gut noch schlecht. Als ich noch getrunken habe, hatte ich ziemlich oft Langeweile, weil ich einfach nichts mit mir und meinem Leben anzufangen wusste. Wir müssen verstehen, dass uns Alkohol nicht hilft, mit unseren Gefühlen klar zu kommen. Ich würde mich persönlich nicht als depressiven Menschen bezeichnen, aber unter dem Einfluss von Alkohol bin ich definitiv depressiver geworden. Das eine bedingt nämlich oftmals das andere. In den ersten Momenten haben wir das Gefühl, dass unser Leben durch den „Genuss“ von Alkohol leichter wird – aber der Morgen danach spricht Bände und ein Kater (auch wenn er nur ganz leicht ist) fühlt sich nie gut an.
Meine freie Zeit fülle ich nun mit Dingen, die mir Freude bereiten. Als ich noch getrunken habe, hatte ich zwar tausend Ideen – habe aber keine davon umgesetzt. Heute schreibe ich, zeichne, arbeite an meinem Blog, kümmere mich um meinen Hund, treibe Sport, lese Bücher, meditiere, mache Yoga, gehe arbeiten, treffe mich mit Freund*innen und Familie, gehe auf Reisen, habe Ziele und Visionen und immer noch Ideen, die ich nun in die Tat umsetzen möchte. Das wäre mir nicht möglich, würde ich noch trinken.
5 Dinge die sich verändert haben, seitdem ich keinen Alkohol mehr trinke:
Ich wache jeden morgen auf und habe einen klaren Kopf. Seit dem 13. September 2017 hatte ich keinen Kater mehr. Ich wache auf und bin manchmal immer noch erstaunt darüber, dass nichts gegen meine Schädeldecke hämmert, dass ich, sobald ich die Augen öffne, sofort einen klaren Gedanken fassen kann und das ist schon einmal ein Jackpot.
Ich lebe gesünder und fühle mich dadurch wohler in meinem Körper. Nicht dass ich es nötig gehabt hätte, aber ich habe, nachdem ich aufgehört habe zu trinken, an Gewicht verloren. Ich achte mehr auf meinen Körper, treibe regelmäßig Sport, ernähre mich gesund und fühle mich (vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben) die meiste Zeit tatsächlich sehr wohl in meiner Haut.
Ich schlafe die Nächte durch. Das war nicht immer so. Und schlafen, nachdem man sich Alkohol gegeben hat, ist meist kein richtiger Schlaf, sondern gleicht eher einem komatösen Zustand und man fühlt sich danach alles andere als erholt. Heut schlafe ich die Nächte durch und bin am nächsten Morgen fit.
Ich lege mehr Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen. Die Beziehung zu meinen Freund*innen und zu meiner Familie hat sich verändert und ist enger geworden. Grade in Familienangelegenheiten musste aufgeräumt werden, aber die Arbeit hat sich definitiv gelohnt. Manche Freundschaften mussten beendet werden oder haben sich aufgelöst, aber der Großteil ist geblieben und dafür bin ich unfassbar dankbar.
Ich habe wieder Träume. Ich lebe mehr und mehr meine Wahrheit und habe das Gefühl, mehr und mehr zu meinem inneren Kern vorzustoßen. Waren die Tage früher teilweise so leer, habe ich heute das Gefühl, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll bei all den Ideen, die mir durch meinen Kopf schwirren.
„You don‘t need to hit rock bottom“ – Holly Glenn Whitaker”
Es geht vielleicht gar nicht darum, so lange zu warten, bis der Alkohol zum Problem wird, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das Leben ohne Alkohol tatsächlich lebenswert – wenn nicht sogar lebenswerter ist. Das alkoholfrei „hip“ sein kann, machen uns die Amis und Briten vor. Die feiern nämlich ihre „Sobriety“.
Ruby Warrington zum Beispiel würde sich selbst nicht als Abhängige bezeichnen, jedoch nahm ihrer Meinung nach ihr Alkoholkonsum irgendwann zu viel Raum in ihrem Leben ein und erfüllte einen ungesunden Zweck. In ihrem Buch „Sober Curious“ beschreibt sie ihre damalige Beziehung zu Alkohol und wie sie diesen nach und nach aus ihrem Leben entfernt hat und heute ein sehr erfülltes und achtsames Leben führt.
Mit ihrem Blog „Hip Sobriety“ und der nun in einem neuen und weiterentwickelten Format online buchbaren Sobriety School: Tempest ist Holly Whitaker eine der Vorreiterinnen der Sobriety-Szene. Und wie ich finde, sind uns die Amis da meilenweit voraus. Holly ist selbst trockene Alkoholikerin, litt unter einer Essstörung und hat unfassbar viel Cannabis geraucht. Irgendwann gab es kein zurück mehr, aber weder die Treffen der Anonymen Alkoholiker noch eine stationäre Therapie waren für sie der Weg zur inneren Heilung – sie entwickelte ihr eigenes Abstinenz-Programm und begleitet nun tausende von Menschen in ein rauschloses Leben.
Und ich frage mich: wann fangen wir an unsere „Sobriety“ zu feiern? Wann hören wir auf damit, uns selbst abzustempeln? Warum sind wir nicht stolz darauf, nichts mehr zu trinken/ nicht mehr trinken zu müssen und ein gesünderes und achtsames Leben zu führen? Wann sind wir endlich hip und sober?
Vlada ist 33 Jahre alt und seit September 2017 clean und trocken. Seit September 2018 bloggt sie über das Thema Abhängigkeit und Sobriety. Dabei möchte sie den Fokus gar nicht unmittelbar auf „traurige Geschichten und wie schrecklich das alles ist“ legen, ihr geht es eher darum, das Gefühl zu vermitteln, dass Abhängigkeit an und für sich eine Krankheit ist, die mitunter tödlich enden kann, aber dass es einen Weg aus der Sucht gibt. Sie möchte gern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir in unserer Gesellschaft darüber nachdenken sollten, warum Alkohol und andere Substanzen eigentlich so „über”präsent sind.