Foto: Leonie Henze

Alles neu: Wie geht das Leben nach einer Nahtoderfahrung weiter?

Anastasia Umrik machte vor einigen Jahren eine Nahtoderfahrung. Diese hatte einen großen und unerwartet positiven Einfluss darauf, wie sie heute lebt und arbeitet. Ein Protokoll.

Ein Neuanfang kann ein Abenteuer sein; eine aktive Entscheidung, etwas Neues zu wagen. Aber nicht jeder Neuanfang ist selbst gewählt oder entsteht aus einer privilegierten Position heraus. Viele Menschen haben gar keine andere Wahl, als neu anzufangen – sie sind gezwungen, das Beste aus einer neuen Situation zu machen.

Wie fängt man neu an? Wie geht man mit Veränderungen um, auf die man kaum Einfluss hat? Was lernt man dabei, übers Leben, über sich selbst? Wir sprechen mit unterschiedlichen Menschen über ihren Neuanfang. Ihre (Lebens-)Geschichten zeigen, wie verschieden die Gründe sein können, neu anzufangen und wie unterschiedlich die Erkenntnisse sind, die diese einschneidenden Erlebnisse mit sich bringen.

Im ersten Teil unserer Protokoll-Serie „Alles neu“ erfahrt ihr, wie die Künstlerin Stephanie Turzer neu angefangen hat, nachdem ihr Zuhause abgebrannt ist. Im zweiten Teil erzählt die Journalistin Dana Buchzik vom Ausstieg aus der Sekte, in der sie aufgewachsen ist, und dem Leben danach. Im dritten und letzten Teil dieser Protokoll-Serie lest ihr, wie die die Rednerin, Coachin und Autorin Anastasia Umrik ihr Leben nach einer Nahtoderfahrung umgekrempelt hat. 

Wenn der Körper alle Notfallsysteme hochfährt

„Ich bin dem Tod bereits mehrere Male sehr nahegekommen. Und jedes Mal hat er mich wieder näher ans Leben gebracht. Man könnte fast sagen, der Tod ist so etwas wie mein Wegweiser. Die Nahtoderfahrung, die ich mit 29 Jahren machte, markierte denn auch einen Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte mehrere erfolgreiche Projekte zu Behinderung und Inklusion ins Leben gerufen, und bemühte mich als Speakerin und Aktivistin um Aufmerksamkeit für diese Themen. Doch trotz dieser – von vielen Menschen als Erfolge bezeichneten – Projekte war ich unzufrieden. Ich hatte meine ganze Energie in diese Arbeit gesteckt, konnte mich aber nicht über den wachsenden Erfolg freuen; er fütterte sich nämlich aus Wut.

Ich war wütend, dass ich nicht als Frau, sondern als Frau mit Behinderung gesehen wurde. Statt zu leben, habe ich gekämpft: gegen die Gesellschaft und das System, gegen Diskriminierung und Vorurteile, gegen meine Behinderung und mich selbst. Die ganze Zeit war ich dagegen, gegen alles, und habe dabei völlig vergessen, dafür zu sein. Ich habe jegliche Sanftheit vernachlässigt und mich zu selten erholt; ich habe alles, was nur ging, aus mir raus und in meine Projekte gepresst – obwohl ich mich schon so lange so unglaublich leer fühlte. Dabei habe ich vergessen, mich selbst zu fragen, aus welchem Gefühl heraus ich agiere. Und weil ich damit erfolgreich war, habe ich einfach immer weitergemacht. Den Gedanken aufzuhören habe ich stets beiseitegeschoben, aus Angst, andere Menschen zu enttäuschen; aus Angst, nicht mehr zu leisten, was von mir erwartet wird.

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Angst hatte ich auch vor dem Tod. Und das bereits mein ganzes Leben. Mir wurde als Kind gesagt, dass ich aufgrund meiner Muskelerkrankung wahrscheinlich mit elf Jahren sterben werde. Von da an schwebte dieses Damoklesschwert immer über mir. In jedem Moment meines Lebens habe ich damit gerechnet, zu sterben. Die Angst, die mich stets begleitet hat, war riesig.

Tja, und dann habe ich mich beim Abendessen verschluckt. An einem Fischstäbchen. Ist das zu glauben? Fischstäbchen, mein absolutes Lieblingsessen; das war es zumindest bis zu dem Tag, an dem ich mich an so einem Scheißding verschluckt habe. Irgendwie ist ein Stück davon in meine Luftröhre gelangt, und von dem Moment an ging es weder vor noch zurück. Es fühlte sich an, als wäre ich unter Wasser, Luft holen ging nicht mehr. In so einem Moment realisiert man sehr schnell: Scheiße, das ist ernst. Der Körper fährt alle Notfallsysteme hoch und das Herz rast bis zum Gehtnichtmehr.

Der Tod ist geschlechtsneutral

Den nahenden Tod habe ich als etwas sehr Pragmatisches wahrgenommen. Die Kurzfassung wäre: dunkel und weg. Weder habe ich Licht am anderen Ende des Tunnels gesehen, noch haben irgendwelche Engel mit mir gesprochen. Gesehen habe ich nur die Gesichter der Menschen, die ich am meisten liebe. Der Rückblick auf mein Leben ist in höchster Geschwindigkeit an mir vorbeigezogen – das hat kaum länger als 20 Sekunden gedauert. Diese Rückblende war heruntergekocht auf wenige Dinge; übrig geblieben sind nur die eindrücklichsten Erlebnisse, alles andere war irrelevant. Was ich beruflich gemacht habe, welche schulischen Leistungen ich erbracht habe – total egal. Im Tod war plötzlich alles, was ich davor geleistet hatte, egal. Gesehen habe ich nur die Gesichter der Menschen, die ich am meisten liebe.

Ich habe vor einiger Zeit in einem TedTalk ebenfalls über meine Nahtoderfahrung gesprochen – da habe ich dieses Erlebnis poetischer beschrieben, den Tod beispielsweise als warm, weich und weiblich bezeichnet. Heute würde ich eher sagen, der Tod ist geschlechtsneutral. Was ich mit dieser Beschreibung damals ausdrücken wollte: Der Tod wirkte nicht so hart, wie man ihn sich vorstellt, nachdem man so häufig die Bilder von knochigen, dunklen Gestalten gesehen hat. Ich konnte die Liebe im Tod sehen. Ein Wesen, das niemandem schaden will. Es fühlt sich im Nachhinein auch so an, als hätte es mir die Wahl gelassen und ich mich bewusst dafür entschieden, zurückzukommen – ohne darüber verhandeln zu müssen. Weil ich so viele Gefühle durchlebte, kam mir die Zeitspanne dieser Nahtoderfahrung vor wie eine Ewigkeit. In Echtzeit dauerte es hingegen nur ungefähr zehn Minuten, bis ein Freund – mit dem ich zu Abend gegessen habe – mich zurückholen konnte und ich wieder bei Bewusstsein war.

Ein Leben geprägt von Angst, getrieben von Leistungsgedanken

Dem Tod nach all den Jahren der Angst so nah zu kommen, war heftig. Die Nahtoderfahrung war wie eine konfrontative Therapie. Zurück im Leben wurde mir nämlich bewusst, dass diese große Angst vor dem Tod daher rührte, dass ich mich so gar nicht bereit fühlt, zu sterben. Natürlich fühle ich mich auch heute nicht bereit dafür, wer tut das schon? Doch ich war nicht bereit zu sterben, weil es sich anfühlte, als ob ich noch gar nicht richtig gelebt hätte. Weil ich statt zu leben eben nur funktioniert habe, angetrieben von Wut und Leistungsdruck.

Durch diese Erfahrung wurde mir bewusst, dass der Tod nicht bloß ein Schreckgespenst, sondern sehr real ist, dass er jederzeit für uns alle zur Realität werden kann. Diese Nahtoderfahrung war eine Erinnerung daran, die verbleibende Zeit für mich selbst zu nutzen. Mir wurde bewusst, dass ich mein Leben nicht damit verbringen muss, zu funktionieren, zu leisten und zu kämpfen, sondern einfach nur sein, einfach nur leben darf. Als ich das realisierte, fühlte es sich an, als wäre ein Korken aus mir geplatzt. Das Erwachen aus der Nahtoderfahrung war ein Befreiungsschlag; eine Erlaubnis, mich all den Interessen und Facetten zu widmen, die ich bisher vernachlässigt hatte. Ich erlaubte mir endlich, mehr zu sein als die gegen Diskriminierung kämpfende Aktivistin; mehr als die Frau mit der Behinderung. Ich begriff, dass mich dieser Kampf nicht freier machte. Und das gab mir den Mut, mein Leben umzukrempeln.

Dieser Neuanfang fiel mir selbstverständlich nicht so leicht, wie das jetzt klingen mag. Ich bin am Morgen nach der Nahtoderfahrung nicht aufgestanden und habe plötzlich ,Juhu. Hallo neues Leben!‘ gerufen, sondern bin erst einmal an die Elbe gegangen, habe dort einen Kakao getrunken und bestimmt zwei Stunden lang geweint. Danach herauszufinden, wie ich neu anfangen soll, war gar nicht so einfach. Nachdem ich meine Projekte „anderStark“ und „inkluWas“ beendet hatte, fragten mich viele, was ich als nächstes tun würde. Die Antwort: Ich mache erst einmal nichts. Das auszusprechen, war gar nicht so einfach. Dieser Leistungsgedanke, der mich stets angetrieben hatte, steckte weiterhin in mir. Es war mir peinlich zu sagen: Ich bin arbeitslos, habe kein Geld und mache nichts, weil ich gerade nicht weiß, was ich will und wer ich bin. Was mir geholfen hat: eine Therapie zu machen und dort zu ergründen, woher diese Leistungsgedanken, dieser Druck, immer funktionieren zu müssen, überhaupt kamen.

Dinge, bei denen das Herz ,ja‘ ruft

Ich möchte ungern sagen, dass ich heute bewusster lebe – ,Bewusstheit‘ ist so ein ausgelutschtes Modewort. Ich würde es eher als ein instinktiveres, ein intuitiveres Leben bezeichnen. Die Natur bewegt sich mit den Jahreszeiten, keine Pflanze ist durchgehend grün. Wieso also erwarten wir von uns selbst, dass wir im November genau gleich funktionieren wie im Mai? Das ist selbstverständlich kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem – von uns wird erwartet, dass wir gewisse Dinge in einem bestimmten Tempo erledigen, dass wir funktionieren. Und dann sollen wir bitte noch Yoga machen, Matcha-Latte trinken, spazieren gehen, unser Sozialleben pflegen, kreativ sein, gesund essen und, und, und. Indem wir die Ansprüche an uns selbst so hochschrauben, programmieren wir uns selbst auf Enttäuschung; dieses Vorhaben ist meiner Meinung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Die Nahtoderfahrung war für mich die Erlaubnis, nur noch Dinge zu tun, bei denen mein Herz ,ja‘ ruft. Und wenn mein Körper mir drei Tage lang zu spüren gibt, dass jetzt Migräne angesagt ist, weil ich erschöpft bin, dann akzeptiere ich das und versuche nicht, dagegen anzukämpfen, versuche nicht, dennoch zu funktionieren. Mit dieser Herangehensweise ans Leben geht es mir heute psychisch und physisch viel besser als vor meiner Nahtoderfahrung. So schlimm es war, beinahe zu sterben, so wertvoll war es, durch den Tod zu lernen, dass es auch anders geht. Man könnte sagen: Der Tod hat mich das gute Leben gelehrt.“

Foto: David Fischer Baglietto 

Anastasia Umrik ist Coachin, Autorin, Speakerin, Podcasterin und TEDx-Rednerin. Zudem schreibt sie gerade ihr erstes Buch, in dem es ebenfalls um ihre Nahtoderfahrung und das Thema Neuanfang gehen wird. .

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