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Fehlgeburt: Ein Brief an mein ungeborenes Kind

Fehlgeburten – für viele immer noch ein Tabuthema. Doch ich denke, wir sollten, nein, wir müssen darüber reden. Das hier ist meine Geschichte.

Brief an dich

Heute war wieder einer dieser Tage. Dein Bruder war den ganzen Tag wütend. Er saß trotzig in seinem Zimmer. Deine Schwester hat geweint und geweint. Sie war nun endlich eingeschlafen.

Mein Schädel brummte. Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich ließ mich auf mein Bett sinken und starrte in den strahlend blauen Himmel. Plötzlich musste ich wieder an Dich denken.

Als ich da so lag und aus dem Fenster schaute, war es wie damals, als ich Dich verlor …

Rückblick

Ich fühlte ich mich plötzlich um einige Monate zurückversetzt. Es war ein heißer Sommertag im August 2014. Ich sollte meinen ersten Vorsorgetermin haben. Ich war gerade in der neunten Woche schwanger – mit Dir.

Eigentlich hatten wir uns gerade erst entschieden, dass Dein Bruder ein Geschwisterchen bekommen sollte. Wir hatten vor, noch ein wenig zu warten. Aber damit haben wir es nicht so genau genommen. Und ich ahnte vom ersten Tag an, dass ich Dich unter meinem Herzen trage. Ich spürte gleich die Veränderung in meinem Körper, jedes noch so kleine Anzeichen nahm ich wahr. Als ich zwei Wochen später endlich einen Test machen konnte, wurde mein Gefühl bestätigt.

Wir waren ein bisschen perplex, dass es so schnell ging, doch wir freuten uns auf Dich. Obwohl es mir ganz schön schlecht ging, in den nächsten paar Wochen. Mir war oft übel, ich hatte Kreislaufbeschwerden und ich sah außerdem ganz furchtbar aus. Aber damit konnte ich leben. Es dauerte gar nicht lange, bis mein Bauch schon wieder eine deutliche Wölbung zeigte, sodass es schwer war, Dich in der ersten, kritischen Zeit zu verstecken, bevor wir es aller Welt erzählen wollten.

Plötzlich warst du weg

Nun war es also endlich so weit – ich sollte erfahren, ob alles in Ordnung ist; die erste Untersuchung stand an. Doch genau in dem Moment, als ich dort ankam, wo ich Dich zum ersten Mal sehen sollte, spürte ich plötzlich, dass ich Dich verloren hatte. Es war mir sofort klar.

Als die Ärztin mich dann untersuchte, schüttelte sie nur mit dem Kopf. Ich konnte gar nichts sagen. Dort, wo Du hättest sein sollen, war nichts mehr zu sehen. Du hast Dich nicht weiterentwickelt, Dein Herz hat niemals angefangen zu schlagen.

Ich verließ die Praxis völlig regungslos, Doch als ich im Auto saß, brach es aus mir heraus. Ich musste Papa anrufen und es ihm sagen. Ich konnte es kaum aussprechen.

Die letzte Nacht

Wir sollten sofort ins Krankenhaus fahren, doch weil es schon so spät war, wurde an diesem Tag nichts mehr unternommen. So blieb ich über Nacht – allein mit mir und meinen Schmerzen. Ich starrte in die tiefschwarze Nacht, machte kein Auge zu.

Ich dachte an Dich, an das was ich verloren hatte, nach dem ich Dich doch gerade erst ein paar Wochen in meinem Leben wusste, auch wenn Du in dieser Zeit nicht viel mehr warst, als eine leere Hülle. Doch ich trug Dich in meinem Herzen, schmiedete Pläne, malte mir unsere Zukunft mit Dir aus. Du warst ein Teil von mir – und von einem Moment auf den anderen waren alle Hoffnungen und Träume wie eine Seifenblase zerplatzt. So verging die scheinbar nicht enden wollende Nacht in Gedanken an Dich und auch an Deinen Bruder, den ich zum ersten Mal die ganze Nacht allein lassen musste, auch wenn ich doch in diesen Stunden so gerne Trost bei ihm gefunden hätte.

Am nächsten Morgen wurde ich untersucht. Mein Körper hatte scheinbar viel geleistet und eine OP blieb mir erspart. Mir wurden Tabletten gegeben, die Wehen auslösen und damit dafür sorgen sollten, dass nichts zurückbleibt – nichts von dem, woraus Du hättest entstehen sollen.

Allein mit meinen Gedanken

So lag ich dann ein paar Stunden später auf meinem Bett und starrte in den strahlend blauen Himmel. Die Tabletten zeigten ihre Wirkung. Aber nicht nur die Schmerzen, die immer wieder wie eine Welle anrollten, ließen mich den ganzen Tag in finstere Gedanken versinken, während ich zuhörte wie Dein Bruder draußen im Garten lachte und tobte. Stille und Trubel – so nah beieinander.

Ich ruhte mich das ganze Wochenende aus. Eine sehr kurze Erholungsphase, zu kurz. Doch am nächsten Tag musste ich wieder voll funktionsfähig sein. Papa musste auf Geschäftsreise und Dein Bruder brauchte mich. Es war ein körperlicher Kraftakt – doch was lenkt einen besser ab, als fröhliches, pures Kinderlachen?

Platz für deine Schwester

Dein Bruder war für mich die beste Medizin. Er hat das wirklich toll gemacht, ohne es zu wissen. Er und vermutlich auch die Tatsache, dass ich Dein Herzchen niemals habe schlagen hören, haben mir recht bald geholfen, mit dem Verlust umgehen zu können.

Etwa vier Monate später spürte ich neues Leben in mir. Deine Schwester hatte es sich in meinem Bauch gemütlich gemacht. Angst machte sich breit – Angst, dass ich auch sie verlieren könnte. Doch schon bald durfte ich erfahren, dass alles in Ordnung ist. Ihr Herz schlug und alles war so, wie es sein sollte.

Seit einiger Zeit ist sie nun bei uns und hat unsere Familie vollständig gemacht. Sie ist wirklich wundervoll. Doch manchmal ist es ein komisches Gefühl – denn wenn es Dich gäbe, dann gäbe es sie nicht.

Du hast den Platz für sie frei gemacht. Ein Platz, der Dir zustand, den Du ihr aber geschenkt hast. Genau wie sie und Dein Bruder wirst Du bei mir immer einen Platz haben. Du bist ein Teil von mir und wirst es immer sein – ich trage Dich in meinem Herzen.

Dieser Text ist zuerst auf Nadines Blog Zwischen Windeln und Wahnsinn erschienen. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlicht.

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