Ein Kind zu bekommen, sei ein Wunder, hörte sie von allen Seiten, als sie schwanger wurde. Aber niemand erzählte, was Geburt alles sein kann und wie viele Leute da plötzlich mitreden möchten. Eine Geschichte über Grenzüberschreitungen und ein Aufruf, viel mehr über Geburt und die Zeit danach zu sprechen.
Content Note: Geburtstrauma
Bevor ich mein erstes Kind bekam, hatte ich nur eine diffuse, vielleicht auch durch die euphorischen Reaktionen aus dem Umfeld entstandende romantisierte Vorstellung. Ein Wesen, das zehn Monate im Bauch heranwächst und irgendwann in einem Zimmer mit sonnengelben Wänden und Kerzenlicht ganz sanft zur Welt kommt. (An dieser Stelle denkt euch dieses Reißverschlussgeräusch, das man aus Filmen kennt.) Bis es so weit war. Und das war der Zeitpunkt, an dem mir klar wurde, dass über vieles nicht offen gesprochen wird. Dass es große Lücken in der Erzählung über Geburt gibt.
Ich hatte mich nicht auf den Notkaiserschnitt vorbereitet. Auf die Panik im Kreißsaal. Die Angst um das Kind. Mir war nicht klar, was eine Geburt alles sein und auslösen kann. Keine befreundete Mutter hatte mit mir darüber gesprochen. Keine Ärztin. Auch nicht die Frau, die uns im Geburtsvorbereitungskurs am Beispiel einer gestrickten (schwarzweiß geringelten) Gebärmutter gezeigt hatte, wie so eine (Bilderbuch-)Geburt abläuft. Und jetzt könnte man sagen, ich sei „naiv“ gewesen. Aber ich denke nicht, dass das stimmt. Die Schwangerschaft an sich ist eine einzige Veränderung. Du teilst deinen Körper mit einem anderen Menschen, der wächst und wächst und du hast eine bestimmte Vorstellung vom Ende dieser Schwangerschaftszeit.
Als mir die Ärztin in dieser Nacht sagte, dass es jetzt schnell gehen müsse und wir nicht länger warten können, hatte ich nichts mehr selbst in der Hand. Sie übernahmen das alles. Mein Körper wurde aufgerichtet, auf eine Liege gehievt, in einen anderen Raum geschoben, wieder aufgerichtet. Als die lokale Betäubung dann nichts brachte, bekam ich eine Vollnarkose.
„So wenig die Leute vor einer Geburt reden, so viel reden sie dann danach.“
Anne-Kathrin Heier
Ich hatte geglaubt, dass ich mich mit meinem Kind erst einmal zurückziehen darf, um „Hallo“ zu sagen und das alles zu begreifen. Ich fühlte mich irgendwie unvollständig, ich hatte die Geburt, „das Ende der Geschichte“, nicht miterlebt und befand mich irgendwo zwischen Panik und einem Funktionierenmüssen. Ich hätte mir eine Person gewünscht, die mir zuhört oder mich nur in den Arm nimmt und erst mal nicht mehr loslässt.
Aber so wenig die Leute vor einer Geburt reden, so viel reden sie dann danach. Mein Sohn trank nicht, das Saugen klappte einfach nicht. Sämtliche Hebammen und Schwestern tobten sich an uns aus – zuerst im Krankenhaus, wo meine Brust immer weiter anschwoll. Allein durch das Absaugen kam nicht alles raus, es bildete sich der erste Abszess. Nach fünf Tagen durfte ich dann nach Hause. Ich hatte lange keine Hebamme gefunden. Und dann aber doch eine, über die ich nicht mehr sagen werde als das, was sie zu mir gesagt hat. Ich öffnete die Wohnungstür und ihr Blick fiel zuerst auf meinen Bauch: „Ach, ist das Baby noch drin?“ Dann ging sie ins Schlafzimmer.
„Als ich meinen Sohn anlegte und nichts passierte, sagte sie, ich solle die Zuneigung zu meinem Kind überprüfen. Für sie sehe es aus, als würde ich ihn nicht genug lieben.“
Anne-Kathrin Heier
Sie schaute sich meine geschwollene Brust an, ohne mich zu berühren. Als ich meinen Sohn anlegte und nichts passierte, sagte sie, ich solle die Zuneigung zu meinem Kind überprüfen. Für sie sehe es aus, als würde ich ihn nicht genug lieben, anders könne sie sich das nicht erklären. Und schließlich hätte ich mein Baby auch nicht natürlich bekommen, was niemals gut sei, weder für die Mutter noch für das Kind. – Sicher: Aus der Distanz kann ich heute darüberstehen oder auch wütend werden. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich gerade mein erstes Kind bekommen, war sehr verletzlich und dieser Satz warf mich um, wie so vieles andere danach auch.
In der dritten Woche musste ich zum Kinderarzt. Ich wickelte ihn ins Tragetuch und kurz vor der U-Bahnstation stellte sich mir plötzlich eine alte Dame in den Weg und fragte, ob es denn auch genug Luft bekomme. Ich wich zurück, als sie mit ihrer Hand nach dem Stoff greifen wollte. „Das erstickt doch, das arme Ding! Was sind Sie denn für eine Mutter?“
„Das erstickt doch, das arme Ding! Was sind Sie denn für eine Mutter?“
Die Geburt war im Oktober, das ganze Zerren und Reden und die Aufregung und das Verteufeln des Fläschchens zog sich bis Dezember. Jede Nacht saß ich an der elektrischen Abpumpmaschine. Die ist riesengroß und extrem laut. Und weil ich mittlerweile kaum noch Milch hatte, aber alle um mich herum sagten, wie wichtig die sei und ich ja auch wollte, dass es meinem Kind gut geht, saß ich stundenlang da, war todmüde und irgendwie froh über jeden Tropfen. Er bekam erst das Fläschchen und danach immer noch das bisschen, was die Maschine aus mir herausgesaugt hatte. –
Die Hebamme fragte, ob ich sie noch brauche. Und ich schüttelte den Kopf und machte die Tür hinter ihr zu.
„Wenn plötzlich so viele Stimmen durcheinanderreden, ist es unmöglich, auf den eigenen Körper zu hören.“
Anne-Kathrin Heier
In der Silvesternacht bekam ich Fieber und wurde mit dem dritten Abszess in der Brust eingeliefert. Der Arzt im Krankenhaus sah sich das an und sagte, das sei jetzt vermutlich schmerzhafter als die Geburt.
Danach hörte ich auf. Ich hörte auf, auf die vielen Stimmen um mich herum zu hören. Ich hörte auf, abzupumpen. Ich hörte auf, mich zu verstecken. Und ich fing an, die Mütter um mich herum zu fragen, welche Erfahrungen sie gemacht hatten mit Grenzüberschreitungen von außen. Später sprach ich darüber auch mit der wundervollen Hebamme, die mich mit dem zweiten Kind betreute.
Oft fällt dieser Satz: „Höre auf deinen eigenen Körper!“. Aber genau das ist das Problem. Denn wenn plötzlich nach einer Geburt so viele Stimmen durcheinanderreden, ist es unmöglich, auf den eigenen Körper zu hören.
Welche Grenzüberschreitungen sind euch passiert – mit Baby, Kleinkind oder auch größeren Kindern? Schreibt es uns ins Kommentarfeld oder an editorial@editionf.com.