Ein Kind zu bekommen, ist ein Wunder. So weit, so gut. Aber niemand hat unserer Autorin gesagt, wie viele Leute da plötzlich mitreden möchten. Leute, die sie überhaupt nicht kennt. Eine Geschichte über Grenzüberschreitungen und ein Aufruf, darüber zu sprechen.
Bevor ich mein erstes Kind bekam, hatte ich nur eine diffuse, vielleicht auch durch die schönen Erzählungen aus dem Umfeld entstandende romantisierte Vorstellung. Ein Wesen, das zehn Monate im Bauch heranwächst und irgendwann in einem Zimmer mit Kerzenlicht und dunkelblauen Wänden ganz sanft zur Welt kommt. Dass ich Wissenslücken hatte, die ein bisschen mehr als nur „Lücken“ waren, das wurde klar, als es soweit war.
Ich hatte mich nicht auf den Notkaiserschnitt vorbereitet, weil niemand zu mir gesagt hatte, was eine Geburt außer Glück alles noch sein und mit sich bringen kann. Keine befreundete Mutter hatte mit mir darüber gesprochen. Keine Ärztin. Auch nicht die Frau, die uns am Beispiel einer gestrickten (schwarzweiß geringelten) Gebärmutter gezeigt hatte, wie so eine (Bilderbuch-)Geburt abläuft.
„So wenig die Leute vor einer Geburt reden, so viel reden sie dann danach.“
Ich hatte geglaubt, dass ich mich mit meinem Sohn erst einmal zurückziehen darf, um „Hallo“ zu sagen und das alles zu begreifen. Aber so wenig die Leute vor einer Geburt reden, so viel reden sie dann danach. Mein Sohn trank nicht, das Saugen klappte einfach nicht. Sämtliche Hebammen und Schwestern tobten sich an uns aus – erst im Krankenhaus, wo meine Brust immer weiter anschwoll. Allein durch das Absaugen kam nicht alles raus, der erste Abszess entstand.
„Auch wenn alles blutet – Zähne zusammenbeißen! Wirst sehen, das lohnt sich.“
Nach fünf Tagen durfte ich nach Hause. Ich hatte lange keine Hebamme gefunden. Und dann aber doch eine, über die ich nicht mehr sagen werde als das, was sie zu mir gesagt hat. Ich öffnete die Wohnungstür und ihr Blick fiel zuerst auf meinen Bauch: „Oh, ist das Baby noch drin?“ Dann ging sie ins Schlafzimmer.
„Liebst du deinen Sohn denn genug? Ich meine, sonst würde er doch trinken.“
Sie schaute sich meinen Sohn an, ohne ihn zu berühren. Als ich ihn anlegte und nichts passierte, sagte sie, ich solle mal die Zuneigung zu meinem Sohn überprüfen. Es sehe so aus, als würde ich ihn nicht genug lieben, anders könne sie sich das nicht erklären. Und sicher: Aus der Distanz kann ich heute darüberstehen oder wütend werden. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich gerade mein erstes Kind bekommen, war extrem sensibel und dieser Satz warf mich um, wie so vieles andere danach auch.
In der dritten Woche musste ich zum Kinderarzt. Ich wickelte ihn ins Tragetuch und kurz vor der U-Bahnstation stellte sich mir plötzlich eine alte Dame in den Weg und fragte, ob es denn auch genug Luft bekomme. Ich wich zurück, als sie mit ihrer Hand nach dem Stoff greifen wollte. „Das erstickt doch, das arme Ding! Was sind Sie denn für eine Mutter?“
„Das erstickt doch, das arme Ding! Was sind Sie denn für eine Mutter?“
Die Geburt war im Oktober, das ganze Zerren und Reden und die Aufregung und das Verteufeln des Fläschchens zog sich bis Dezember. Jede Nacht saß ich an der elektrischen Abpumpmaschine. Die ist riesengroß und extrem laut. Und weil ich mittlerweile kaum noch Milch hatte, aber alle um mich herum sagten, wie wichtig die sei und ich ja auch wollte, dass es meinem Kind gut ging, saß ich stundenlang da und freute mich müde über jeden Tropfen. Er bekam erst das Fläschchen und danach immer noch das bisschen, was die Maschine aus mir herausgesaugt hatte. –
Die Hebamme fragte, ob ich sie noch brauche. Und ich schüttelte den Kopf und machte die Tür hinter ihr zu.
„Wenn plötzlich so viele Stimmen durcheinanderreden, ist es unmöglich, auf den eigenen Körper zu hören.“
In der Silvesternacht bekam ich Fieber und wurde mit dem dritten Abszess in der Brust eingeliefert. Der Arzt im Krankenhaus sah sich das an und sagte, das sei jetzt vermutlich schmerzhafter als die Geburt.
Danach hörte ich auf. Ich hörte auf, auf die vielen Stimmen um mich herum zu hören. Ich hörte auf, abzupumpen. Ich hörte auf, mich zu verstecken. Und ich fing an, die Mütter um mich herum zu fragen, welche Erfahrungen sie gemacht hatten mit Grenzüberschreitungen von außen. Später sprach ich darüber auch mit der wundervollen Hebamme, die mich mit dem zweiten Kind betreute.
Oft fällt dieser Satz: „Höre auf deinen eigenen Körper!“. Aber genau das ist das Problem. Wenn plötzlich so viele Stimmen durcheinanderreden, ist es unmöglich, auf den eigenen Körper zu hören.