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Charlotte Wiedemann: „Viele Weiße glauben immer noch, jahrhundertelanger Rassismus sei ohne Folge für ihr eigenes Leben”

Charlotte Wiedemanns Buch „Der lange Abschied von der weißen Dominanz” setzt sich mit der Macht von Weißsein in der Vergangenheit und in unser heutigen globalisierten Welt auseinander. Wir haben uns mit der Journalistin unterhalten.

„Weiß ist mehr als eine Hautfarbe”

In „Der lange Abschied von der weißen Dominanz” setzt sich die Autorin und Journalistin Charlotte Wiedemann mit den Machtstrukturen in westlichen Gesellschaften auseinander. Sie erklärt, was es mit der weißen Dominanz auf sich hat, wie diese über Jahrhunderte hinweg nicht nur das westliche, sondern ein globales Weltbild geprägt hat und warum sich dieses einseitige Machtverhältnis in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verändern wird und auch muss.

Der Abschied von dieser Dominanz, sagt Wiedemann, ist und wird jedoch ein langwieriger Prozess. Außerdem spricht sie von einem weißen Machtverlust und welche gesellschaftlichen Veränderungen damit einhergehen müssten und erklärt, warum Vielfalt mehr ist als nur Toleranz.

Was ist mit der „weißen Dominanz” gemeint und warum handelt es sich um einen langen Abschied?

„Weiß ist mehr als eine Hautfarbe, es handelt sich um eine soziale Position, um Haltungen und Deutungsmuster. Weiße Dominanz zeigt sich im Verbrauch von Ressourcen, in Wirtschaftsmacht und Finanzströmen, in der Deutung von Konflikten, in der Geschichtsschreibung. Auf den meisten dieser Felder bricht ein neues Zeitalter an: Der Westen bestimmt nicht mehr die Ordnung der Welt, und die alteingesessenen Europäer*innen können anderen ihre Definitionen von Fortschritt, Entwicklung oder Feminismus nicht länger aufzwingen. Doch sich von dem Mindset zu verabschieden, das durch 500 Jahre europäische Expansionspolitik entstanden ist, ist ein sehr komplexer Prozess. Deshalb hat es eine gewisse utopische Note, wenn ich zu einem aktiven Abschiednehmen von der Dominanz auffordere und mir die Möglichkeit eines anderen Weißseins vorstelle.”

Sie schreiben : „Anders als Frankreich und Großbritannien ist Deutschland ungeübt darin, mit einer multiethnischen Intelligenzija umzugehen.” Warum ist der Diskurs in diesen Ländern weiter?

„Er ist nicht in jeder Hinsicht weiter, denn diese Länder haben ja gleichfalls massive rassistische Strukturen. Aber ein wichtiger Unterschied ist: Deutschland hat seine Kolonien bereits 1918 verloren. Bis dahin waren nur einzelne Menschen aus dem deutschkolonialen Afrika ins Deutsche Reich gezogen. Nach Frankreich und Großbritannien kamen hingegen ab den 1950er-Jahren zahlreiche Intellektuelle aus den Kolonien und später Ex-Kolonien. In Paris und London trafen sich Vordenker*innen des antikolonialen Denkens aus Afrika, der Karibik und vom indischen Subkontinent. Wer dazu bereit war, konnte an ihrem Weltdenken teilhaben. Damals entstanden bereits Zeitschriften und Verlage für ein nicht-eurozentrisches Denken. Das sind Entwicklungen, die erst in jüngerer Zeit in Deutschland angekommen sind, nachdem hier zum Glück mit der zweiten und dritten Generation von Migrant*innen auch eine kosmopolitische Elite entsteht. Manche mögen den Ausdruck Elite nicht. Ich finde ihn nützlich, um die Unterschiede zur ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter*innen zu betonen; die hatten keine Professuren, saßen nicht auf Podien, schrieben, von Ausnahmen abgesehen, keine Bücher. Es sind deren erfolgreiche Kinder und Enkel*innen, die heute einen neuen Wind in die Gesellschaft bringen.”

In dem Zusammenhang sprechen Sie auch von einer heutigen Zäsur im Umgang mit Migrant*innen und erwähnen dabei Aladin El-Mafaalani und sein „Integrations-Paradox”. Was hat es damit auf sich?

„Der Soziologe Aladin El-Mafaalani, ein in Deutschland geborener Sohn syrischer Einwanderer*innen, definiert dieses Paradox so: ‚Wenn Integration gelingt, wird die Gesellschaft nicht harmonischer, nicht konfliktfreier. Im Gegenteil.’ Er benutzt dafür die Metapher eines Tischs, an dem früher nur eine*r redete, obwohl immer mehr dort Platz nahmen. Nun wollen alle mitreden und mitbestimmen. Und mehr Teilhabe weckt die Erwartung auf gleiche Teilhabe. Wenn sich heute viele über Diskriminierung beschweren, sei das ein Zeichen von Fortschritt, argumentiert El-Mafaalani. Denn nur wer eine Ungleichbehandlung als illegitim erachte, fühle sich diskriminiert. Ich finde das eine interessante Beobachtung, wobei ich selbst den Begriff ‚Integration’ nicht benutze. Aber der Eindruck, es gäbe heute so viel mehr Rassismus als früher, entsteht auch dadurch, dass heute viel mehr Betroffene die rassistischen Vorkommnisse anklagen und öffentlich machen. Das macht vielleicht die besondere Turbulenz der gegenwärtigen Phase aus.”

Was beinhaltet ein „weißer Machtverlust” und wie reagiert die weiße Mehrheitsgesellschaft auf diesen?

„Ich sehe zwei Reaktionsweisen. Einerseits begreifen mehr Menschen als früher, dass die Zukunft nicht weiß ist. Manche versuchen, einen konstruktiven Umgang damit zu finden, mit der Vielfalt im eigenen Land wie mit der Ahnung, dass die Ordnung der Welt künftig nicht mehr von ihresgleichen, von einer weißen euro-amerikanischen Minderheit, bestimmt sein wird. Auf der anderen Seite steht eine rabiate Abwehr all dessen: Die aggressive Verteidigung von Weißsein als Herrschaftsmodell, im eigenen Land wie global. Beide Haltungen werden gegenwärtig von Minderheiten eingenommen, und beide hoffen auf Hegemonie. Dazwischen steht in Deutschland eine Mehrheit, die verunsichert ist, die latent nach rechts tendiert, aber keine verkappten Nazis wählen möchte. Für die Zukunft scheint mir wesentlich, dass ein weißer Faschismus keine Mehrheit bekommt. Es muss deshalb Angebote eines niedrigschwelligen Anti-Rassismus geben, in dem sich auch Ältere wiederfinden können, die mit Differenz nur ungelenk umgehen können. Mein Buch versteht sich als ein Beitrag dazu.”

Sie sagen auch, es gäbe für Deutschland „keinen Weg zurück in die gemütliche Homogenität von gestern. Dies als Tatsache anzuerkennen, muss jedem Streit vorausgehen.” Warum ist die vermeintliche Homogenität von gestern nicht zurückzuholen?

„Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen war die Homogenität, die ich zum Beispiel in meiner Grundschule erlebt habe, eine künstliche. Der Nationalsozialismus hatte die gesellschaftliche Vielfalt, die es in der Weimarer Republik gab, vernichtet. Dieser Aspekt, dass ich also selbst in einer künstlichen Homogenität aufgewachsen bin, war mir lange nicht bewusst. Der zweite Grund: Für Kinder in einer Grundschulklasse von heute ist Vielfalt ein Fakt und keine Option. Für meine Generation, für die Älteren, ist das anders, sie müssen sich an Verhältnisse gewöhnen, die sie selbst als Kinder nicht kannten. Ich verstehe bis zu einem gewissen Grad jede*n, der*m das Probleme macht. Aber ich sage auch: Hey, es gibt kein zurück. Und wenn du eine Vielfalt ablehnst, die Fakt ist, dann redest du einem Bürgerkrieg das Wort.”

Sie erklären, dass wir mit dem Zusatz „mit Migrationshintergrund” „Halbfremde” geschaffen haben. Warum ist der Begriff problematisch?

„Von zehn sogenannten Migrant*innenkindern sind acht in Deutschland geboren. In den USA wären sie in einem solchen Fall Amerikaner*innen, hier haben sie einen Migrationshintergrund. Um dessen offizielle Definition zu erfüllen, reicht es, dass ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde. Diese Formel trifft bei uns auf etwa fünfundzwanzig Millionen Menschen zu, wobei die Hälfte von ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die Vorstellung, ein Migrant*innenstatus werde vererbt und gar durch einen einzigen Elternteil, ist natürlich eine Verbeugung vor einem völkischen Ressentiment. Für soziologische Zwecke arbeiten auch andere Staaten mit dem ,migration background‘, doch in Deutschland wurde daraus ein Alltags- und Medienwort. Und weil sich der Begriff nicht wirklich sprechen lässt, sind die Betroffenen schlicht ,Migrant*innen’, als wären sie ständig auf Wanderschaft. Das grenzt aus.”

In einem Kapitel erklären Sie: „Es ist nicht leicht, Vielfalt zu leben. Denn dies bedarf mitnichten nur der Toleranz; es bedarf einer Selbstveränderung, die nicht jeder will.” Welche Selbstveränderung muss dafür in Gang gesetzt werden und weshalb sträuben sich manche Menschen dagegen?

„Es gibt einen Begriff aus der Wissenschaft, die sogenannten ‚Etablierten-Vorrechte‘, das lässt sich  am Beispiel des berühmten Eisenbahnabteils veranschaulichen. Man hat es sich gerade im leeren Abteil mit einem Buch gemütlich gemacht, da steigt eine vierköpfige Familie zu, und nichts ist wie vorher. Wir tendieren dazu, aus der Tatsache, dass wir zuerst da waren, Privilegien abzuleiten und sind verstimmt, wenn sich der Platzvorteil als Illusion entpuppt. Aber die Idee, wer zuerst hier war, genieße Vorrechte, widerspricht der Verfassung, jede*r Bürger*in hat gleiche Rechte. Den Alteingesessenen fällt es schwer, Gesellschaft als etwas zu betrachten, das tagtäglich neu ausgehandelt wird. Und die Gesellschaften aller heutigen Einwanderungsländer wandeln sich tatsächlich besonders rasch; kulturelle Praktiken sterben schneller weg. Um nicht in Verlustgefühlen zu erstarren, ist eine ständige Selbstveränderung gefragt. Das muss man auch wollen, und nicht jede*r will es.”

Ein Unterkapitel Ihres Buchs heißt: #WhiteFragility. Können Sie erklären, was das bedeutet?

„Es gibt eine Abwehr, das eigene Weißsein und seine Folgen zu reflektieren. Dafür hat die US-amerikanische Soziologin Robin DiAngelo den Begriff ,white fragility‘ geprägt; wir sind zerbrechlich, überempfindlich. Zum Beispiel würden weiße Frauen, die wegen Rassismus kritisiert werden, häufig zu weinen beginnen, und sie würden dann von denen getröstet, die vorher Opfer ihrer rassistischen Äußerung waren.”

Können Sie in dem Zusammenhang auch erklären, was „unbewusstes Weißsein” ist?

„Die Vorstellung, jemand könnte etwas über uns wissen, nur weil wir weiß sind, weckt bei vielen Unbehagen. Sind wir nicht Individuen, jede*r einzig und einzigartig? Weniges ist so tief in uns Weißen verankert wie die Vorstellung unserer eigenen Voraussetzungslosigkeit. Wir sind neutral, unbeschriebene weiße Blätter, die Grundform vom Menschsein. Personen of Color sind die Abweichung. Ich spreche in meinem Buch von einer ‚historischen Trägheit‘: Bewusstwerdungsprozesse dauern unendlich langsam. So wie mancher Mann nach zweitausend Jahren Patriarchat reklamiert, als Individuum damit nichts zu tun zu haben, so glauben viele Weiße immer noch, Jahrhunderte von Rassismus seien ohne Folge für ihr eigenes Leben. In jüngster Zeit ist einiges in Bewegung geraten – durch Donald Trump und durch den Aufstieg einer gewalttätigen White-Supremacy-Ideologie. Ich selbst argumentiere manchmal so: Wir dürfen das Weißsein nicht den Supremacist*innen überlassen. Das ist vielleicht ein bisschen populistisch, aber ich will damit sagen: Einen weißen Faschismus zu stoppen, kann nicht allein die Aufgabe von denen sein, die seine ersten Opfer sind, also People of Color, Minderheiten, Andersgläubige.”

An einer Stelle heißt es in Ihrem Buch: „Doch die systematische Abwertung anderer Kulturen, gestützt durch Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen, Militär und über einen unfassbar langen Zeitraum, das ist weißes Erbe.” Eine Frage, die vermehrt diskutiert wird, ist, ob Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe marginalisiert werden, rassistisch gegenüber weißen Menschen sein können. Wie stehen Sie dazu?

„Ich halte diesen Vorwurf für dumm. Denn er verrät, dass etwas Wesentliches nicht verstanden wurde: Rassismus hat mit Macht zu tun. So sind Rassentheorien historisch entstanden: um Privilegien zu verteidigen und die Unterdrückung anderer zu rechtfertigen. Natürlich kann sich im Prinzip jeder Mensch rassistisch verhalten. Auch in nicht-weißen Gesellschaften habe ich viele Spielarten von Abwertung erlebt, die sich oft an Schattierungen von Hautfarbe festmachten. Im Sudan hat mir gerade eine junge Frau erzählt, wie sie als Schulkind in die letzte Reihe gesetzt wurde, weil sie dunkler war als andere, und zwar durch einen Lehrer, der selbst schwarz war. Aber in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die ihre eigene koloniale Vergangenheit nicht einmal aufgearbeitet hat, Personen of Color Rassismus vorzuwerfen, ist ausgesprochen geschmacklos.”

Was würde es für Deutschland bedeuten, wenn wir uns wirklich von dieser weißen Dominanz verabschieden?

„Das lässt sich kaum im Rahmen eines einzigen Landes beschreiben. Das Ende weißer Dominanz würde eine Welt bedeuten, in der Bürgerschaft und Solidarität neu bestimmt würden, unter Zuhilfenahme von allem, was es an Wissen und Werten jenseits der alten Metropolen gibt. Solidarität kann ja nicht mehr allein innerhalb der weißen Welt formuliert werden, innerhalb der Enklaven relativer Privilegien. Und könnte der Rückbau, zu dem unsere Lebensweise gezwungen ist, seitdem andere unseren Müll – im physischen wie im übertragenen Sinne – nicht mehr annehmen wollen, sich vielleicht auf verschlungene Weise mit einer afrikanischen Entwicklung treffen, wo das Industriezeitalter übersprungen wird? Wenn es um Weltverschonung geht, ist weniger entscheidend, woher wir kommen, als wohin wir wollen. Und wenn wir endlich die Mythen beiseiteräumen, die wir uns selbst und anderen immer noch über die koloniale Vergangenheit erzählen, könnte auch der Weg dafür frei werden, dass einander Gleichgestellte miteinander kooperieren können.”

Charlotte Wiedemann: Der lange Abschied von der weißen Dominanz, dtv, September 2019, 18 Euro

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