Wir sind doch eigentlich alle erwachsene Leute, oder? Ja. Eigentlich. Wieso verhalten wir uns dann ausgerechnet beim Thema Sex so oft wie Teenager?
Sex verunsichert uns
„Eigentlich verhüten wir sowieso immer voll konsequent mit Kondom, aber neulich fanden wir es dann halt lustig, ihn einfach mal vorher schon so ein bisschen reinzustecken. Jetzt sind meine Tage irgendwie schon seit einer Woche überfällig. Aber von so ein bisschen reinstecken kann man doch eigentlich auch maximal nur ein bisschen schwanger werden, oder?“
„Mein Kumpel behauptet, er könnte echt jede Frau zum Orgasmus bringen. Der lügt doch, oder? Oder sag mal, wie geht das?“
„Hast du vielleicht ein paar gute Blowjob-Tipps für mich? Ich hab echt voll Angst, da was falsch zu machen.“
Dr. Sommer für Erwachsene
Ich schreibe inzwischen seit mehr als sechs Jahren über Sex, aber die Fragen, die mir so auf Partys nach drei Drinks à la „können wir vielleicht mal kurz unter vier Augen quatschen?“ gestellt werden, überraschen mich immer wieder. Der einzige Unterschied zur Bravo von vor 20 Jahren: Solche Dinge fragen mich keine pickeligen Teenager, sondern Menschen, die mitten im Leben stehen und alt genug sind, um ihre Steuererklärung alleine hinzubekommen – aber beispielsweise vom weiblichen Zyklus ungefähr genauso viel verstehen wie von Quantenphysik.
Angeblich ist Sex doch so wahnsinnig omnipräsent – aber stimmt das wirklich? Je länger ich mich als Sexbloggerin beruflich mit dieser Materie befasse, umso tiefer sind die Bildungslücken, auf die ich dabei stoße. Wieso tun wir eigentlich alle so aufgeklärt, obwohl wir es ja ganz offensichtlich eigentlich gar nicht sind? Und woher haben wir überhaupt diese Unsicherheiten im Bett?
Woher kommt unser Wissen über Sex?
Um das zu ergründen, müssen wir tiefer graben: Woher kommt eigentlich unser Wissen über Sex? Klar, sechste Klasse Bio! Ein paar Stunden für Informationen, die wir unser restliches Leben lang brauchen werden – nimm dies, Stochastik! Im Aufklärungsunterricht sehen wir Querschnitte von Unterleibern, erfahren, wo die Spermien rauskommen und wo das Baby wie reinkommt. Maximal noch, wie man dieses Baby verhindern kann. Genitalienkunde.
Das Herz bleibt außen vor. Den ganzen messy-zwischenmenschlichen Shit, der passieren kann, wenn wir unseren Körper einem anderen öffnen, müssen wir selbst herausfinden. Danke für nichts, lieber Aufklärungsunterricht!
Auch die Bravo hatte meist eher Antworten auf bekicherungswürdige Logistikfragen: vom Blasen schwanger werden? Beim ersten Mal Analsex? Ist es normal, dass mein Penis so klein ist?
Früher: Normalität, heute: Porno
Trotzdem bin ich bis heute dankbar für diese nackigen Selbstauslöserbilder vor dem aufblasbaren Plastiksessel. Instagramfilterfreie Zone: krumme Geschlechtsteile, peinliche Storys vom ersten Mal. Normalität, in your face! Gibt´s heute nicht mehr. Sogar das Dr. Sommer-Team wurde inzwischen wegrationalisiert. Stattdessen: Onlineforen. Und natürlich Youporn.
Und da machen auch wir vermeintlich Erwachsenen uns doch mal bitte nichts vor: Porno beeinflusst uns alle, ob wir es wollen oder nicht. Wer noch nie einfach mal theatralischer gestöhnt hat, als es eigentlich gerade in ihm war, werfe den ersten Stein. Dasselbe gilt für die gute alte Frage: „Wohin soll ich denn kommen?“ Mir persönlich fällt darauf ehrlich gesagt eigentlich auch nie eine besonders originelle Antwort ein.
Wieso wissen wir es immer noch nicht besser?
US-Medien sprechen sogar schon von der „Generation Pull-Out“: Koitus Interruptus als Verhütungsmethode? „Und dann sagt der echt zu mir: ,Mach dir keine Sorgen, bei mir kommt da vorher nix raus’. Hallo Freund, lüge nicht, ich schmeck es doch!“ schüttelt eine Freundin den Kopf.
Denn genau beim Thema Verhütung kann unsere Amateurhaftigkeit eben auch schnell zum Problem werden. Klar: Kondome sind nervig und eine fummelige Angelegenheit. Sie können abrutschen, reißen, platzen und Erektionen verjagen. Passiert. Vor allem mit ein paar mehr Umdrehungen im Blut und generell zu wenig Übung.
Bei solchen Szenarien bin ich (zum Glück!) selten live dabei, deswegen hier schon mal mein genereller, prophylaktischer Ratschlag: Ruhe bewahren. Im Zweifelsfall direkt die Pille danach besorgen. Die gibt’s nämlich inzwischen rezeptfrei und rund um die Uhr problemlos in der Apotheke. Eine Tatsache, von der Studien zufolge nur 50 Prozent aller erwachsenen Deutschen wissen.
Was ist bloß mit der anderen Hälfte los? Frauen, hier geht es um eure sexuelle Selbstbestimmung! Sex zu meinen Bedingungen.
Hol eine Flasche Wein, wir müssen über Sex reden!
Bitte bitte, redet darüber! Wer Lust auf ein paar wirklich gute Storys hat, sollte bei der dritten Flasche Wein mal in der Mädelsrunde nachfragen, wer die Pille danach schon mal genommen hat. Denn hey, shit happens! Und zwar fast jeder von uns, irgendwann mal. Das Problem ist nur: Meistens passiert so etwas im Stillen. Oder ich bekomme die Story dann irgendwann mal angetrunken auf einer Party unterbreitet. Und dann kann es im Zweifelsfall eben auch schon längst viel zu spät sein.
Denn auch, wenn ja angeblich insgesamt so wahnsinnig viel über Sex geredet wird: die manchmal eher unangenehmen, aber eben auch wirklich wichtigen Themen lassen wir viel zu oft außen vor dabei. Ist ja auch einfacher, über Promis zu lästern oder darüber, wie doof sich Typ X neulich im Bett angestellt hat. Und genau so entstehen dann eben unsere großen und kleinen Bildungslücken und Unsicherheiten.
Sprechen wir es aus: Sex ist einfach komisch
Ich finde: Wir brauchen eine neue Gesprächskultur! Lasst uns mit dem Sex reden, anstatt immer nur über ihn. Auch bei uns angeblich so wahnsinnig Aufgeklärten gibt es so viele Unsicherheiten auszuräumen. Denn Sex ist und bleibt nun mal Trial and Error.
Ja, auch von ein bisschen reinstecken kann man mehr als nur ein bisschen schwanger werden. Nein, dein Homie, der behauptet, jede Frau zum Kommen bringen zu können, ist eine dumme Laberbacke. Diese krampfhafte Orgasmusjagd ist sowieso das ungeilste von der ganzen Welt und befriedigt eher Egos als Frauen, die ihn dann im Zweifelsfall vortäuschen, um endlich ihre Ruhe zu haben. Red nicht mehr mit dem Typen, geh lieber besser auf deine Sexpartnerinnen ein. Dasselbe gilt für den guten, alten Blowjob: was man gern macht, macht man gut. Empathie gibt’s nicht im App Store, Euphorie auch nicht. Nur wenn ich es will: Es gibt kein richtig oder falsch, nur richtig und falsch für dich und deinen Partner. Also: Macht Liebe nach euren eigenen Regeln!
Ja, ich werde ständig nach irgendwelchen Life Hacks fürs Bett gefragt, aber ganz ehrlich, Menschen kommen nun mal ohne Bedienungsanleitung. Sie krachen beim Knutschen mit den Zähnen zusammen, verheddern sich in BH-Verschlüssen, friemeln so lange am Kondom rum, bis die Stimmung weg ist, und wissen hinterher manchmal eben auch nicht so genau, was sie jetzt eigentlich noch sagen sollen. Und das ist ok. Und mehr noch – genau das ist doch eigentlich auch das Schöne am Thema Sex: egal wie viel Wissen wir uns darüber aneignen, wir bleiben doch unser ganzes Leben lang begeisterte Amateure.
Wer mehr über die Autorin erfahren will, sollte auf www.lvstprinzip.de vorbeischauen.
Mehr bei EDITION F
Let’s talk about Sex! Weiterlesen
„The Diary of a Teenage Girl“ – oder die Frage nach der Macht, die von Sex ausgeht. Weiterlesen
Sexy, explizit und ohne Tabus: „Pussy Diary“ – ein Buch fürs Kopfkino. Weiterlesen