Eigentlich würde ich mich mit Damm-Massagen, Heublumenbädern und Atemtechniken beschäftigen. Stattdessen denke ich wenige Wochen vor der Geburt unserer Tochter nur noch darüber nach, ob mein Partner die Geburt miterleben darf und was das für uns bedeutet.
Schlechtester Zeitpunkt für eine Geburt
Noch 24 Tage bis zum errechneten Geburtstermin. Ich bin schwanger in der 37. Woche. Die Kliniktasche steht gepackt vor der Haustür. Ich weiß, dass es ab jetzt jeden Tag so weit sein könnte. Doch jeden Abend kurz vorm Schlafengehen rede ich unserer Tochter gut zu: „Nicht jetzt kleiner Schatz. Wir müssen uns noch gedulden. Bleib noch etwas in Mamas Bauch.“
Corona-Krise. Das Land steht still. Schulen, Kitas, Restaurants, Bars, Sportstätten, Museen und ein Großteil der Geschäfte haben geschlossen – das öffentliche Leben findet nicht mehr statt. Die Straßen sind menschenleer. Wir sind angehalten, zuhause zu bleiben, auf soziale Kontakte jeglicher Art zu verzichten und Haus oder Wohnung – wenn möglich – nur zu verlassen, um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen.
Wer kann und nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen zählt, arbeitet im Home Office. Eine nie dagewesene Situation. Dieses Virus verändert unser Land. SARS-CoV-2 stellt unsere Gesellschaft vor ungeahnte Herausforderungen. Im Gesundheitswesen sind diese am deutlichsten zu spüren. Desinfektionsmittel, Schutzkleidung, Beatmungsgeräte sind Mangelware. Reichen die intensivmedizinischen Kapazitäten der Krankenhäuser?
Gestresste Hebammen
In der aktuellen Lage ein Kind zur Welt zu bringen, erscheint mir undenkbar. Schon bei der Geburtsanmeldung vor wenigen Wochen habe ich gemerkt, dass aktuell alles anders ist. Bereits am Eingang zur Frauenklinik werden mein Mann und ich von einem Hinweisschild empfangen, dass der Spender mit Desinfektionsmittel aufgrund von Diebstahl nicht mehr aufgefüllt wird.
Vor den Aufzügen kleben Aushänge, die darüber informieren, dass die Besuchszeiten eingeschränkt wurden. Im Kreißsaal empfängt uns eine gestresste Hebamme. Eine Geburt anmelden? Sie schaut mich entgeistert, fast schon entsetzt an. Ich bin verwirrt, fühle mich hilflos. Der Krankenstand im Team sei sehr hoch, sie müsse sich alleine um alles kümmern, sagt sie entschuldigend. Ich solle mich auf eine lange Wartezeit einstellen, dann würde sie meine Daten aufnehmen.
Geburtsanmeldung im Schnelldurchlauf
Mit einem unguten Gefühl sitze ich vor dem Kreißsaal. Zweifel an der Wahl der Klinik beschleichen mich. Hatte die leitende Hebamme bei der Kreißsaalführung nicht gesagt, dass immer mindestens zwei Hebammen in einer Schicht arbeiten? Sie hatte aufmunternd gelächelt und darüber gesprochen, wie sie Frauen bei einer selbstbestimmten Geburt begleiten. Ist das jetzt hinfällig?
Als wir schließlich drankommen, dauert das Anmelden der Geburt nur wenige Minuten. Das Gespräch ist mehr oder weniger ein reines Abfragen der Daten. Die Hebamme schaut in meinen Mutterpass, stellt mir noch ein paar kurze Fragen. Das war’s. Wie ich mir die Geburt vorstelle, was ich möchte und was ich nicht möchte, darüber sprechen wir gar nicht.
Tränen der Enttäuschung
Ich habe lauter Fragen, die ich der Hebamme stellen möchte, tue es aber nicht, um nicht mehr Zeit als unbedingt nötig zu beanspruchen. Mir ist bewusst, dass es auch für sie sicherlich keine einfache Situation ist. Enttäuscht bin ich trotzdem. Tränen schießen mir in die Augen auf dem Weg hinaus. „Mach dir keine Sorgen. In wenigen Wochen ist die Situation bestimmt besser“, sagt mein Mann zu mir.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Situation in den Krankenhäusern spitzt sich zu. Zu den Vorsorgeuntersuchungen darf man nur noch alleine kommen. Besuche sind nicht mehr gestattet. Einige Kliniken gehen sogar so weit, dass sie es Vätern und anderen Begleitpersonen nicht mehr ermöglichen, bei der Geburt im Kreißsaal anwesend zu sein.
Zutrittsverbot für Begleitpersonen im Kreißsaal
Eine Freundin leitet mir einen Zeitungsartikel weiter, in dem steht, dass das Uniklinikum Bonn bereits ein Zutrittsverbot für Begleitpersonen im Kreißsaal ausgesprochen hat. Ich bin fassungslos. Schutz von Personal und Patient*innen sei der Grund. Mein Verstand bemüht sich, diese Information zu erfassen und Verständnis für die Entscheidung des Klinikums aufzubringen. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass in der aktuellen Situation das medizinische Personal bestmöglich vor einer Ansteckung mit dem Virus geschützt wird, denn sie sind diejenigen, die Erkrankte versorgen müssen. Ein Schock ist diese Nachricht trotzdem. Wie eine Welle überschwemmt mich die Tragweite dieser Entscheidung.
Sollte auch mein Krankenhaus eine solche Entscheidung treffen, werde ich unsere Tochter alleine zur Welt bringen müssen. Alleine. Ich drohe, in einem Meer aus Panik zu ertrinken. In meiner Not klammere ich mich an Google als Rettungsanker und versuche herauszufinden, wie viele Kliniken und Krankenhäuser bereits ein Zutrittsverbot für den Kreißsaal ausgesprochen haben. Eine allgemeingültige Regelung gibt es nicht. Jedes Krankenhaus kann die Entscheidung individuell treffen. Auf der Website meines Krankenhauses gibt es keine offizielle Information dazu.
Doch eine Hausgeburt?
Ich verbringe endlose Stunden damit, fieberhaft nach einer Lösung zu suchen. Welches Krankenhaus in der Nähe erlaubt Begleitpersonen? Ambulante Geburt? Hausgeburt? Ja, ich weiß, dass eine Hausgeburt Monate im Voraus geplant werden muss. Ich weiß auch, dass es nur sehr wenige Hebammen gibt, die überhaupt Hausgeburten betreuen. Eine zu finden, wäre schon bei rechtzeitiger Planung und Vorbereitung ein Sechser im Lotto.
Doch in meiner Angst habe ich jegliche Rationalität über Bord geworfen. Ich stelle mir bereits vor, unsere Möbel im Wohnzimmer mit Malerfolie abzudecken. Eigentlich völliger Quatsch, aber der Gedanke hat etwas Tröstendes.
Angst davor, alleine im Kreißsaal zu sein
Ich habe einfach Angst und mache mir unglaubliche Sorgen. Die Geburt ist für mich als Erstgebärende sowieso mit Ungewissheit und Unsicherheit verbunden. Werde ich die Schmerzen unter den Wehen aushalten können? Bin ich der körperlichen Belastung über Stunden gewachsen? Wird es zu Komplikationen oder Geburtsverletzungen kommen? Was mir angesichts dieser vielen Unbekannten immer Kraft gegeben hat, war die Gewissheit, dass mein Mann bei mir sein würde. Dass wir, egal was passiert, die Situation gemeinsam meistern würden. Die Aussicht, das könnte nun anders kommen, hinterlässt das Gefühl, der vor mir liegenden Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Ganz und gar nicht.
Was passiert, wenn unter der Geburt eine schwierige Entscheidung getroffen werden muss und ich nicht in der Lage dazu bin? Wer trifft diese Entscheidung dann? Was passiert, wenn ein Notfall-Kaiserschnitt notwendig wird? Wer informiert meinen Mann? Und die beängstigendste Frage von allen: Wie wird damit umgegangen, wenn unserer Tochter während der Geburt etwas zustößt, sie die Geburt nicht überlebt?
Ungerecht für den Vater
Der Gedanke, dass mein Mann die Geburt unter Umständen nicht begleiten darf, macht mich auch unendlich traurig, weil es ihm gegenüber einfach ungerecht ist. Er freut sich so sehr auf unsere Tochter. Bei allen wichtigen Vorsorgeuntersuchungen war er dabei. Den Geburtsvorbereitungskurs hat er gemeinsam mit mir gemacht, mir Damm-Massage-Öl und Stillbücher gekauft. Während der gesamten Schwangerschaft war er involviert und wollte aktiv an der Entwicklung unseres Babys teilhaben. Ihn nun vom Höhepunkt – der Geburt – auszuschließen wäre nicht richtig. Der Moment, der für viele Menschen zu den prägendsten in ihrem Leben gehört, würde ihm einfach genommen werden. Das lässt sich später auch nicht nachholen.
Ich rufe im Kreißsaal unseres Krankenhauses an und erkundige mich nach dem derzeitigen Stand. Noch gibt es kein Zutrittsverbot für Väter. Eine gute Nachricht. Wie sich die Situation in den kommenden Wochen entwickeln werde, könne sie jedoch nicht sagen, sagt die Hebamme am Telefon. Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen.