Irene Kilubi Copyright: Thomas Dashuber
Irene Kilubi Copyright: Thomas Dashuber

Irène Kilubi: „Schuld ist immer die nächste Generation“

Die promovierte Wirtschaftsingenieurin und Hochschuldozentin Dr. Irène Kilubi spricht im Interview darüber, warum es so viel Streit zwischen den Generationen gibt, wie sie als geflüchtetes Kind aus dem Kongo in Deutschland neu anfing und weshalb Altersdiskriminierung größtenteils akzeptiert wird.

Dr. Irène Kilubi ist promovierte Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin und hat für Unternehmen wie BMW, Deloitte oder Siemens gearbeitet. Heute widmet sie sich den Themen JOINT GENERATIONS, Community Building und Corporate Influencer Marketing. Sie wurde während der Kampagne „Innovationsland Deutschland“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als „Die Frau, die Changemaker zusammenbringt“ betitelt. Ihr Buch „Du bist mehr als eine Zahl“ ist ein Plädoyer für ein generationsübergreifendes Miteinander in Unternehmen und im sozialen Alltag.

Ihr Ziel ist, dass unterschiedliche Generationen in der Arbeitswelt keine Rolle mehr spielen. Auf einer Skala von 1 bis 10, wo stehen wir da aktuell?

„Bei einer 4. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich in den kommenden Jahren etwas ändern wird, weil es alternativlos ist. In spätestens fünf Jahren werden wir sicher bei einer 8 stehen. Die zwei größten Herausforderungen, die Unternehmen derzeit haben, sind der demografische Wandel und der Fachkräftemangel. Unternehmen müssen schauen, wie sie attraktiv werden für die paar jungen Nachwuchskräfte, die es in Zukunft immer weniger geben wird. Gleichzeitig müssen sie schauen, wie sie die älteren Mitarbeitenden motivieren, und wie sie deren Wissen, Kompetenz und Erfahrungsschatz langfristig sichern.“

80 Prozent der deutschen Unternehmen fürchten negative Folgen aufgrund des Arbeitskräftemangels. Wir können es uns eigentlich nicht leisten, Generationen gegeneinander auszuspielen. Warum geschieht das trotzdem?

„Weil wir in Stereotypen und Altersbildern leben. Und wir unterliegen zurzeit einem massiven Werte- und Kulturwandel, sowohl gesellschaftlich als auch im Wirtschaftsleben, und da muss man natürlich Schuldige finden. Schuld ist immer die nächste Generation. Wer in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist, musste loyal gegenüber dem Arbeitgeber sein, wurde streng erzogen, Schulbildung und Technologienutzung waren anders. Auch das soziale, wirtschaftliche und politische Umfeld war mit dem von heute nicht zu vergleichen. Die Arbeit stand an erster Stelle, und genau das sieht die junge Generation heute anders. Ein bisschen spielt auch der Neidfaktor eine Rolle: ,Wir haben den Wohlstand erarbeitet und hatten es nie so flexibel und gut, wieso sollen die das jetzt haben?‘ Ob sie das zu ihren eigenen Kindern und Enkelkindern sagen würden? Nein, bei denen macht man eine Ausnahme, aber alle anderen sind aufmüpfig und faul.“

Was sind blödesten Klischees, die Ihnen über Generationen begegnet sind?

„Babyboomer sind starr, konservativ, unbeweglich, resistent gegen jede Art von Veränderung und haben keine Ahnung von Technologie. Ihre Generation, die Generation X, das sind die Ja-Sager, die machen alles und alles super und sofort. Meine Generation besteht aus Zertifikate-Jägern. Wir haben ganz viele Zertifikate, können eigentlich nichts, aber glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Und die Generation Z ist faul und nur auf Purpose aus – wobei Purpose in dem Fall negativ bewertet wird. Die sind ich-bezogen, auf ihren Vorteil bedacht und keineswegs verantwortungsbewusst. Wahnsinn, wie viele Vorurteils-Schubladen da geöffnet werden.“

Natürlich sollten Menschen zählen und nicht ihr Jahrgang. Aber wir sind doch fixiert auf Jugend; ist es nicht unrealistisch, dass sich das je ändern wird?

„Tja, es wird keiner abstreiten, dass grundsätzlich eine Person, die vital fit ist und eine rosige, strahlende Haut hat, als attraktiver empfunden wird. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber das Schöne ist, dass wir alle dem Alterungsprozess unterlaufen. Das haben wir alle gemeinsam. Und für die Persönlichkeit zählt nicht nur das Aussehen. Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Arbeitsmethoden – die können im Alter immer besser werden.“

Ist Altersdiskriminierung die letzte akzeptierte Form der Diskriminierung?

„Ja, das merkt man auch in den Medien. Was da für Vorurteile verbreitet werden ohne Konsequenzen. Wenn ich beispielsweise schreibe, ein Baby Boomer sei undynamisch, dann ist das Diskriminierung. Genauso, wenn ich sage, eine ganze Generation sei faul. Total vermessen, aber keiner wird deswegen belangt. Aber stellen Sie sich mal vor, jemand würde öffentlich sagen, eine Frau sei zu blöd, um Führungskraft zu sein, da wäre aber die Hölle los. Oder wenn jemand schreibt, Schwarze Menschen seien dumm. Der Protest wäre groß. Aber niemand gibt zu, sich altersdiskriminiert zu fühlen. Vielleicht weil Alter die einzige Diversitätsdimension ist, die wir alle gemeinsam haben. Ich kann mich als gesunder Mensch nicht mit einem Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung vergleichen, ich kann mich als weißer Mensch nicht mit einer Schwarzen Person vergleichen. Ich kann mich als Mann nicht mit einer Frau vergleichen. Doch ich kann sehr wohl sagen, ich war auch schon mal jung, und da gab es andere Rahmenbedingungen und kein Sabbatical.“

Das ist wie Äpfel mit Birnen vergleichen, denn der Kontext ist heute ein anderer.

„Genau. Die junge Generation weiß zum Beispiel nicht, ob sie noch Rente bekommt. Es ist auch die Generation, die so lange im Elternhaus wohnt wie nie zuvor, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten kann. Alles ist viel zu teuer geworden. Keiner kann derzeit abschätzen, welche Ausmaße der Lockdown auf die Teenager ausgeübt hat. In der Pubertät, der Sturm- und Drangzeit, sollte ich eigentlich gegen die Eltern rebellieren, mich austoben, diese Möglichkeit hatte eine ganze Generation nicht. Es ist auch die mit den meisten mentalen Beschwerden. Die multiplen Krisen haben enormen Einfluss. Das schlägt durch in deren Denken, Fühlen, Handeln und Wollen im gesellschaftlichen und auch im beruflichen Leben. Eine Irène, die in Afrika in Armut aufwächst, die jeden Tag um ihr Essen kämpfen muss, hat eine ganz andere Weltanschauung als eine Irène, die hier in sicheren Verhältnissen leben darf.“

Sie haben als Kind Pferdeställe für Reitstunden ausgemistet und Ateliers geputzt für Töpferkurse. Sie haben früh gelernt, sich um Ihre Bedürfnisse selbst zu kümmern.

„Es klingt komisch, aber mein Glück war einfach, dass meine Mutter in einem fremden Land war, sie kannte die Sprache nicht, wurde vom Mann sitzen gelassen und hat sich auf mich verlassen. Es war keiner da, der mir gesagt hat, das macht man so oder so. Ich musste alles selbst herausfinden.

Karneval zum Beispiel. In der Schule hatte ich gehört, dass wir uns da verkleiden sollen. Ich wollte gerne Polizistin sein. Also bin ich in eine Polizeiwache gegangen, weil ich dachte, da bekomme ich die Uniform. Die netten Menschen in der Wache haben mir dann erklärt, was ein Kostümverleih ist.

Oder als ich eingeschult wurde. Da war ich dann schon in Deutschland. Man hatte uns gesagt, wir bräuchten eine Schultüte. Aber bei der Einschulung war meine Schultüte leer, weil wir nicht wussten, dass da Süßigkeiten reinkommen. Du verstehst als Kind nicht: Warum haben die so viele Süßigkeiten und ich nicht?

Wir wussten auch nicht, wo man Schulsachen günstig kauft. Meine Eltern sind mit dem Zettel in ein Schreibwarengeschäft gegangen, und dann hatten wir kein Geld mehr für den Rest des Monats. Woanders hätte es nur ein Drittel gekostet. Es wurde auch nach einer Woche erst festgestellt, dass ich in der falschen Klasse war. Meine Eltern hatten es nicht verstanden, und ich bin einfach den Kindern gefolgt, die ich nett fand.“

Oh nein.

„Doch, und unter den Migrant*innen war auch nicht immer alles verständlich. Für Kinder mit Migrationshintergrund gab es Förderunterricht. Ich habe allerdings so schnell Deutsch gelernt, dass ich nach drei Monaten nicht mehr hingehen musste. Was da los war! Ich wurde richtig schikaniert von den anderen Migrant*innenkindern. Es gab eine unausgesprochene Hierarchie, was den Migrationshintergrund angeht, und Schwarze wie ich waren halt ganz unten. Ganz oben die Personen aus dem Osten, dann kamen die Araber*innen, dann die Asiat*innen und ganz unten die Schwarzen, und da war es egal, ob aus Indien, Afrika, Südafrika oder Zentralafrika.“

Gibt es diese Hierarchie immer noch?

„Ich würde schon sagen. Mich nervt es auch, wenn jemand mir sagt, er habe Migrationshintergrund, man es der Person aber gar nicht ansieht. Das ist ein riesiger Unterschied, die können sich leider nicht mit mir und meinen Erfahrungen gleichstellen. Wir hatten fast null Support, als wir nach Deutschland kamen. Ich habe acht Jahre lang in einer Flüchtlingsunterkunft gewohnt, wo meine Familie nicht mit offenen Armen empfangen wurde, ganz im Gegenteil. Das hat man uns auch spüren lassen durch Blicke und Verhaltensweisen. Unsere Unterkunft wurde zweimal angezündet. Meine Mutter wollte deshalb irgendwann nicht mehr unten wohnen. Aber ich habe ihr gesagt, wenn wir oben wohnen, dann kommen wir bei Feuer auch nicht raus. Es macht keinen Unterschied.“

Du hast 2021 JOINT GENERATIONS gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die die Zusammenarbeit zwischen den Generationen verbessern will. Woran hakt es denn besonders?

„An fehlender Kommunikation. Es ist nicht mehr wie in der Vergangenheit, als wir im Mehr-Generationenhaushalt gelebt haben. Als Oma und Opa um die Ecke gewohnt haben. Den fehlenden Austausch müssen wir jetzt in der Berufszeit austragen. Da arbeiten aktuell vier Generationen zeitgleich. Angst besteht auf allen Seiten. Junge Menschen haben Angst, nicht ernst genommen zu werden und haben Respekt vor Leuten mit mehr Erfahrung. Die Älteren fürchten, abgehängt zu werden und quasi als wertlose Menschen der Gesellschaft angesehen zu werden. Ich glaube, das ist das Problem. Und dann haben wir verlernt, uns gegenseitig Fragen zu stellen. Kaum jemand fragt etwas, aber alle senden, senden, senden. Und wir gehen sehr schnell in die Interpretation und in die Wertung. Ich bin sogar soweit zu sagen, alle Probleme und Herausforderungen, die wir in der Welt haben, sind begründet auf schlechter Kommunikation.“

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