Lanna Idriss, Vorständin von SOS-Kinderdörfer weltweit, mag es nicht so gern, wenn man sie „rastlos“ nennt. Auch wenn das schon irgendwie stimmt, denn Stillstand ist für Lanna keine Option. Sie lebte mit ihren Eltern, die ursprünglich aus Syrien und Dänemark kommen, in Großbritannien, im Sudan – und in Deutschland, genauer gesagt in Bremerhaven. Mit 19 wollte sie die erste weibliche UNO Generalsekretärin werden.
Im Interview erzählt uns Lanna, warum es anders kam, warum sie ihre Karriere als Bankerin in Frankfurt am Main in eine vollkommen andere Richtung lenkte, wie ihr Umfeld darauf reagierte und was sie an der GEN Z so fasziniert.
Außerdem lest ihr, mit welchen Erwartungen Lanna zum FEMALE FUTURE FORCE DAY 2023 geht, wo sie sich auf dem Panel „GEN Z – We are the Future“ mit Tessniem Kadiri, Kira Marie Cremer und Amelie Marie Weber austauschen wird.
Liebe Lanna, du wirst Teil des GEN-Z-Panels auf dem FEMALE FUTURE FORCE DAY 2023 sein. Du hast selber Kinder, die der GEN Z angehören. Was waren deine Ziele, Wünsche und Träume, als du so alt warst wie sie?
„Erst mal muss man sagen, dass ich – vielleicht eher entsprechend meiner Persönlichkeit und weniger entsprechend meiner Generation – die erste weibliche UNO Generalsekretärin werden wollte, mit 19! Die Antwort von einem meiner besten Freunde war: ,Sag mal, Lanna, kannst du eigentlich auch mal klein denken?’
Dass das mit der UNO nicht geklappt hat, lag auch daran, dass ich ein Praktikum bei den Vereinten Nationen gemacht habe und am Ende recht desillusioniert war. Ich bin Star Trek Fan und hatte gedacht, das ist so etwas wie die Föderation der Planeten… Aber ich musste feststellen, dass es das ganz und gar nicht ist. Also habe ich davon Abstand genommen. Außer diesem sehr konkreten Wunsch hatte ich im Grunde dieselben Wünsche wie die Generation Z heute: beruflichen Erfolg, Freunde und Liebe. Und: die Welt zu einem besseren Ort machen. Das deckt sich alles mit den aktuellen Umfrageergebnissen.“
Dein bisheriger Weg ist sehr bewegt und besonders. Erzähle uns bitte von den Anfängen deiner Karriere – und wie wurdest du Vorständin von SOS-Kinderdörfer weltweit?
„Ich denke, es gab diese zwei Zeitpunkte in meinem Leben, erst die Bankerkarriere und dann den Wechsel in die NGO-Branche.
Das eine ist: Ich bin mit einem gesunden Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit groß geworden. Das heißt, während ich durchaus zunächst den Weg einer klassischen Karriere, nämlich die einer Bankerin, gewählt habe, habe ich mich nebenbei stark sozial engagiert und mich für alles freiwillig gemeldet, was irgendwie da war. Ob Nachmittagsunterricht in der Arche oder die Gründung eines Vereins. Auch in der Bewährungshilfe habe ich gearbeitet. Weil ich fest davon überzeugt bin, dass das die Grundlage von all unserem Zusammenleben ist, einander zu helfen, einander beizustehen und kollaborativ zu agieren.
Ich bin recht jung, mit Mitte 30, Direktorin einer Bank geworden. Irgendwann habe ich festgestellt, dass dieser Spagat – auf der einen Seite sozusagen die Reichen reicher zu machen und auf der anderen Seite jede freie Minute daran zu arbeiten, die Welt gerechter zu machen – für mich nicht mehr aufging. Die Sprünge waren zu hart, also vom Flüchtlingslager im Libanon direkt in den 21. Stock eines Wolkenkratzers in Frankfurt.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Grundlage von all unserem Zusammenleben ist, einander zu helfen, einander beizustehen und kollaborativ zu agieren.“
Lanna Idriss
Ich habe mir das genau überlegt und etwa fünf Jahre für den Wechsel gebraucht, denn ich hatte damals ja ein vollkommen anderes Umfeld. Ich bin aus der Generation X und daher mit Amnesty International und SOS-Kinderdörfer praktisch aufgewachsen, von daher war es gar nicht so ungewöhnlich, dass ich zu diesen Organisationen gegangen bin.
Ungewöhnlich ist aber, dass man auch wirklich springt. Dass man die eine Karriere mehr oder weniger aufgibt und das vermeintliche Risiko eingeht, die andere Karriere zu machen. Und das, habe ich inzwischen festgestellt, ist sehr sehr ungewöhnlich, vor allem in Deutschland.“
Dabei war es keine spontane Entscheidung, sondern du hast diesen Schritt genau geplant und lange vorbereitet.
„Richtig, denn es ist so, dass vieles in der Karriere – und das rate ich auch jungen Frauen immer wieder – nicht nur mit Netzwerken, sondern auch mit Seilschaften zu tun hat. Der Begriff ,Seilschaften’ ist hier in einem positiven Sinn gemeint. Das heißt, man braucht immer Menschen, die man sichert und die einen sichern, während man Risiken eingeht, wie beim Klettern. Diese Art von Seilschaften musste ich im Vorfeld erst mal aufbauen, das war mir klar. Und ich spreche nicht von Networking, denn das ist unverbindlich.“
Ist es das, was du auch denen, die jetzt der GEN Z angehören, raten würdest: Habt keine Angst – und springt?
„Ja, auf jeden Fall. Aber das einfach nur zu raten, wäre unfair. Weil die GEN Z in einer völlig anderen Zeit der Verunsicherung – Klimawandel, Covid 19 und der sich daran anschließende Ukraine-Krieg – erwachsen geworden ist. Außerdem ist sie sorgsamer in Bezug auf die psychische Gesundheit, das heißt, Angehörige der GEN Z können viel tiefer in sich hineinhören. Das ist eine Fähigkeit, die ich gar nicht so besaß oder besitze, wobei es langsam besser wird, ich lerne ja auch von der Generation Z. Ich würde also sagen: Mutig sein, ja. Aber suche dir eine Seilschaft und suche dir Menschen, auf die du dich verlassen kannst und die dich dabei unterstützen.“
Du sagtest gerade, dass das in Deutschland nicht wirklich üblich ist oder nicht verstanden wird, wenn man etwas ganz Neues wagt. Als du bekannt gegeben hast, dass du den Sprung von der Bankerin zu Amnesty machst, wie waren da die Reaktionen in deinem Umfeld?
„Ein Teil war ein bisschen traurig, hat aber auch wunderschön reagiert. Es gab aber auch Menschen, die mit Unverständnis reagiert haben, manchmal gepaart mit einer gewissen Bewunderung, manchmal mit Verunsicherung: Was machst du da, bist du dir sicher, dass du weißt, was du tust? Später stellte sich heraus, dass das auch mit Sehnsucht zu tun hatte im Sinne von: ,Ja, das würde ich mir eigentlich auch wünschen’. Und seitdem haben mich auch völlig fremde Menschen darauf angesprochen und gefragt: Wie kann man das machen?
Schwierig war es, dass auch an meine Rolle als Mutter appelliert worden ist. Dass ich es als schützende Mutter meinen Kindern nicht antun könne, so ein Risiko einzugehen.“
Haben dich derartige Kommentare tangiert beziehungsweise haben sie dich zweifeln lassen?
„Zweifeln: Keinen Millimeter. Aber tangieren tut mich so etwas schon, denn natürlich frage ich mich: Woher kommt das? Warum wird so reagiert? Was stimmt vielleicht auch gesellschaftlich nicht, wenn so reagiert wird?“
Du hast mal gesagt, dass du Stagnation nicht aushältst, dass du süchtig bist nach Veränderung, vielleicht auch etwas rastlos. Wie äußert sich das in deinem Leben?
„Ich habe das mal in einem Interview gesagt und werde auch häufiger darauf angesprochen. Erst mal: Der Mensch ist prinzipiell risikoavers, das ist seine Grundeinstellung. Das heißt, er geht Veränderungen aus dem Weg und bleibt – wie wir alle wissen – in seinem Wohlfühlraum. Blickt man auf die Klimasituation, die wirtschaftliche Situation, die Kriege, ist genau das die Ursache für ganz ganz viele Probleme. Das ist die Macht der Gewohnheit, das Verharren in der Komfortzone. Diese Schwierigkeit habe ich persönlich nicht so.
,Süchtig nach Veränderung’ ist allerdings etwas übertrieben ausgedrückt, aber ich denke, wenn man sich nicht infrage stellt und wenn man sich nicht herausfordert, dann entwickelt man sich auch nicht weiter. Und das ist etwas, was ich als Grundvoraussetzung dafür sehe, wenn man das Leben auf dieser Erde besser für alle machen will, und ich betone: für alle.
„Der Mensch ist prinzipiell risikoavers, das ist seine Grundeinstellung. Er geht Veränderungen aus dem Weg und bleibt in seinem Wohlfühlraum. Blickt man auf die Klimasituation, die wirtschaftliche Situation, die Kriege, ist genau das die Ursache für viele Probleme.“
Lanna Idriss
Du hast vorhin das Wort ,rastlos’ erwähnt. Das habe ich nicht so gern (lacht), aber es ist wahrscheinlich so. Und ja, ich sehe das auch als Geschenk, ich würde sagen: ich habe eine maßlose Neugierde auf das Leben. Und das macht einen besser, man reflektiert immer wieder, entwickelt sich und lernt.“
Ein Vorwurf, der der GEN Z oft gemacht wird ist, dass sie stark trennt zwischen Job und Privatleben, in gewissen Talkshows heißt es gar, die GEN Z sei faul und nur an Freizeit interessiert. Wie bewertest du das und welches Verhältnis hast du zur GEN Z?
„Ich habe in meinem Freundeskreis alle Altersklassen. Meine engsten Freundinnen sind über 70 und die andere ist Ende 20. Fangen wir damit erstmal an: Altersausgrenzungen in alle Richtungen bringen uns nicht weiter. Ich weiß, wir sind so erzogen, aber da gehe ich gerne raus, und das hat meinem Leben echt was gebracht. Die zweite Sache: Wie gesagt, die GEN Z hat im Moment ihres Erwachsenwerdens extreme Verunsicherung erlebt. Das ist schwer für uns nachzuvollziehen.
Und welche Generation hat nicht der vorherigen vorgeworfen, faul und ein Problem für die Zukunft zu sein? Denken wir an die 68er oder die 80er oder die Spaßgesellschaft der 90er… Ignorieren! Es lohnt sich nicht, sich damit aufzuhalten.
Ich glaube eher, dass ganz viel mit dem Informations- und Internetzeitalter zu tun hat und nicht so sehr eine Generationen- und Sozialisierungsgeschichte ist. Die Kurzzeitigkeit des Internets bringt für die Aufnahme von Beziehungen im digitalen Umfeld tatsächlich eine Änderung für unsere Gesellschaft mit sich. Und wie in jeder Generation lauern da auch Gefahren, die durch die Vereinzelung, die Covid 19 ausgelöst hat, extrem verstärkt wurden. Ich hoffe, wir können ihnen helfen, reale Beziehungen zu erleben, und damit meine ich alle Arten von Beziehungen, nicht nur romantische.“
Nun kommt eine Vertreterin der GEN Z, lässt um 18 Uhr den Stift fallen und sagt, sie müsse sich jetzt um ihre mentale Gesundheit kümmern. Davon könnten sich ältere Generationen ja auch eine Scheibe abschneiden, statt sich zu ärgern.
„Wichtig hierbei ist, dass beide Seiten aufeinander zugehen und voneinander lernen. Ich arbeite gerade zum Klima-Thema mit einer jungen Frau, Mitte 20, zusammen. Erstmal ist sie erstklassig, in Bezug auf die Inhalte, die Verantwortung. Aber sie sagt eben auch ganz klar: Ich will genügend Zeit für Sport haben. Und der ist nicht nur zwei Stunden, zweimal die Woche.
„Wichtig ist, dass beide Seiten aufeinander zugehen und voneinander lernen.“
Lanna Idriss
Erst mal gefällt mir, dass das von ihr klar artikuliert wird. Denn da sehe ich Führungsqualitäten, wenn Grenzen so klar benannt werden. Und es hat nichts damit zu tun, dass – wenn viel Zeit verfügbar ist – auch zwingend Qualität dabei herauskommt.
Führung bedeutet auch immer, dass man empathisch auf die einzelne Person eingehen kann, egal zu welcher Generation sie gehört. Mich stört das überhaupt nicht, wenn Bedürfnisse klar ausgesprochen werden. Und ehrlich gesagt: Ich hatte so eine Situation kürzlich, letzte Woche erst. Und dann antwortete ich: Weißt du was, ich gehe jetzt auch. Gute Idee.“
„GEN Z – We are the Future: Wie können wir voneinander lernen und miteinander verändern?“ Das ist die titelgebende Frage für dein Panel am 21. Oktober beim FFF DAY – und ich gebe sie direkt an dich weiter.
„Ich umgebe mich viel mit jungen Menschen, schon seit sehr langer Zeit – ganz unabhängig von der GEN Z-Diskussion. Und das ist auch das Wichtige: Dass man wirklich Zeit miteinander verbringt. Das berühmte Zuhören entsteht automatisch durch die Zeit, die man teilt. Das heißt aber auch, dass ich ganz konsequent jungen Menschen meine Welt zugänglich mache; sie beteilige an Projekten, sie direkt coache und coachen lasse. Und dazu gehört, dass man selber mit den Füßen auf dem Boden bleibt. Das Statusdenken ist nicht hilfreich beim Zuhören und im Miteinander.
Der nächste Punkt, der mir wichtig ist: Ich erlebe eine Generation, die ein erhebliches Empfinden für soziale Gerechtigkeit hat! Das ist ganz ganz wichtig und aus meiner Sicht der Schlüssel, wie wir die katastrophale Situation beim Klimawandel vielleicht noch in den Griff bekommen können – und auch das Verursacherprinzip Kapitalismus. Das ist eine ungeheure Hoffnung, die ich habe.“
Du bist in deiner Arbeit ständig mit schweren Themen direkt konfrontiert. Ich erlebe dich in der Interviewvorbereitung als eine sehr straighte Person, die genau weiß, warum sie tut, was sie tut. Aber stößt auch du manchmal an deine Grenzen und wenn ja: wie gehst du damit um?
„Ja, ich stoße an Grenzen, ununterbrochen. Auch das ist vielleicht nicht eine Generations-, sondern eine Entwicklungsfrage. Im Alter bis Mitte 30 hatte ich richtige psychische Probleme, das verstehe ich aber heute erst, weil mir anerzogen wurde, nicht darauf zu achten. Ich hatte immer Angst vor dem, was andere über mich denken. Ich musste mich zusammenreißen und habe die Starke gemimt und hatte gleichzeitig wirklich schlaflose Nächte.
Mit dem Job bei SOS-Kinderdörfer bin ich erstmals konfrontiert mit lebensbedrohlichen Situationen, und zwar nonstop. Das ist für mich eine neue Situation, und hier wünsche ich mir tatsächlich eine Person der GEN Z, die mir einen Rat gibt, weil ich merke, ich muss etwas tun. Ich darf sagen: Das kann ich nicht gut verkraften, bei aller Straightness, bei allem Selbstbewusstsein. Der Druck ist deutlich höher als wenn man sich um das Anlagedepot eines sehr reichen Menschen kümmert. Und die Verantwortung ist viel weitreichender.“
„Mit dem Job bei SOS-Kinderdörfer bin ich erstmals konfrontiert mit lebensbedrohlichen Situationen, und zwar nonstop. Hier wünsche ich mir tatsächlich eine Person der GEN Z, die mir einen Rat gibt, weil ich merke, ich muss etwas tun.“
Lanna Idriss
Wir kämpfen gemeinsam auf dem FFF DAY für eine gleichberechtigte Welt für alle. Was meinst du: Gehen Feminismus und Kapitalismus überhaupt zusammen?
„Das ist eine gute Frage. Ich könnte jetzt in die Richtung einer feministischen Kapitalismuskritik gehen. Aber du hast gefragt, ob die beiden zusammengehen, und die Antwort muss sein: Ein patriarchaler Kapitalismus geht nicht in Verbindung mit Feminismus. Der aktuelle Kapitalismus ist patriarchal.
Aber wenn wir in die Zukunft schauen und Kapitalismus erstmal nicht nur als eine aggressive Wirtschaftsform begreifen, sondern als eine Gesellschaftsform, der das simple Prinzip von Angebot und Nachfrage zugrunde liegt, das im Menschen verankert ist und nicht in Mann oder Frau, dann könnte ich mir durchaus vorstellen, dass Kapitalismus und Feminismus sich sogar ergänzen könnten an einem gewissen Punkt. Aber im Moment, in der Form, gehen sie nicht zusammen.“
Welche Erwartungen hast du an den FEMALE FUTURE FORCE DAY 2023? Mit welchem Gefühl möchtest du das Event am 21. Oktober verlassen?
„Verlassen möchte ich den FFF DAY vor allem mit Hoffnung. Denn Hoffnung brauchen wir ganz ganz dringend. Deswegen machen wir so etwas. Deswegen will ich auch insbesondere mit der jungen Generation gemeinsam kämpfen. Ich glaube, dass sie uns den Weg weisen wird. Und es ist besser, ihr zu folgen als sie zu dominieren.
„Hoffnung brauchen wir ganz ganz dringend!“
Lanna Idriss
Ich möchte mit ganz viel interessantem Input nach Hause gehen. Ich freue mich sehr darauf, mir bewusst die Zeit dafür zu nehmen.“
Lanna Idriss auf dem FEMALE FUTURE FORCE DAY
GEN Z – WE ARE THE FUTURE. Wie wir voneinander lernen und miteinander verändern können. Das ist der Titel des Panels, auf dem Lanna Idriss als Speakerin zu Gast sein wird. Du willst sie auch hautnah erleben und diesen Tag für deine berufliche und persönliche Weiterentwicklung nutzen? Dann sichere dir ein Ticket für den FFF Day am 21. Oktober 2023.