Foto: Annie Spratt

Letztes Wochenende wollte ich sterben – über die emotionale Last einer Chemotherapie

Mit 27 Jahren erkrankt Celsy an Lymphdrüsenkrebs. Doch im vierten Zyklus der Chemotherapie wird sie von der Frau, die für ihre Stärke bewundert wird, zu derjenigen, die ans Aufgeben denkt. Celsy möchte mit ihrem Text schwerkranken Menschen Mut zur Offenheit schenken und bei Umstehenden Verständnis wecken.

Die Chemotherapie ist der Endgegner

Ich sehe in mein krebskrankes Gesicht. Aufgequollen vom Kortison ist es, kalkweiß von der Chemo. Die Augen sind trüb, von Wimpern und Augenbrauen gibt es kaum noch eine Spur. Beim Blick in meine Augen sehe ich rotverweinte Lider. Mir wird klar: Letztes Wochenende wollte ich sterben.

Es klingt so verrückt wie es ist. Erst mitten im vierten Chemozyklus scheine ich so richtig zu realisieren: Scheiße, du hast Krebs. Wochenlang war ich stark und tapfer, zynisch und kampfbereit, entschlossen und vor allem furchtbar beschäftigt. Termine für die Chemotherapie, regelmäßige Blutentnahmen und Arztgespräche sowie Anträge füllten meinen Alltag. Nicht zu vergessen die beiden Kinder, zwei Jahre und 7 Monate, die für jede Menge Leben sorgen.

Dieser vierte Chemozyklus ist der Endgegner, der sich sträubt und windet und sich weigert, mich loszulassen. Mit zwei Wochen Verspätung im Therapieplan gestartet, warte ich zu diesem Zeitpunkt auf die letzte Infusion. Die Blutwerte sind zu schlecht, mein körperlicher Zustand zu bedenklich um einfach fortzufahren. Es scheint, als ob mir kurz vor Schluss auch noch das Letzte abverlangt wird. Als ob die Erkrankung mich wissen lassen will, dass auch ich nicht einfach triumphierend aus diesem Kampf hervorgehen kann. 

Bislang dachte ich immer, unter Druck funktionierte ich am besten. Es stellt sich heraus, dass auch jemand Größenwahnsinniges wie ich unter einem gewissen Maß an Druck zerbricht. So stehe ich jetzt hier und kann nicht mehr. Ich ertrage es nicht mehr.

Ertrage meinen Anblick im Spiegel nicht mehr.

Ertrage keine Minute länger die Schmerzen, die Muskelkrämpfe, das Dröhnen des Kopfes, die dauernde Zahnfleischentzündung.

Ertrage die Schwäche nicht mehr und auch nicht das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn die Muskeln einfach ausfallen und Beine oder Hände den Dienst versagen.

Beim Laternenlaufen zu fehlen, mein Kind nicht aus der Kita zu holen, nicht mit dem Baby allein zu bleiben und an manchen Tagen nicht einmal selbst Essen machen zu können – ich ertrage es nicht mehr.

Zu sehen, wie mein Mann kaum erträgt, wie es mich zersetzt, ertrage ich nicht mehr.

Immer dabei: Die Angst

Ich ertrage die Angst nicht mehr. Was habe ich für eine Angst! Das erlösende CT, das ersehnte Etappenziel – es kann Befreiung, aber auch verdammende Zurückweisung sein. Es gibt keine Garantie, dass der Start ins neue Jahr auch ein Start in Erholung und Rehabilitation wird. Es kann auch bedeuten, dass die Talsohle erst der Auftakt ist und der Abstieg noch so viel tiefer wird.

Die immer bohrende Frage: Was ist in einem, in zwei, in fünf Jahren? Die Gefahr eines Rückfalls ist in den ersten zwei Jahren am höchsten. Bis zu meinem 30. Geburtstag bedeutet das den Spaziergang auf dem Drahtseil. So lange bewege ich mich stets vorsichtig, jeder Schritt wird mit Bedacht gesetzt. Ich bin immer bereit zu fallen. Gleichzeitig werde ich gehetzt von der Drohung auf Besuch: Hasch, hasch, auf dass der Krebs an dir vorüber geht.

Ist das überwunden, tut sich der Fünf-Jahres-Marsch auf. Erst nach fünf krebsfreien Jahren sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall auf ein erträgliches Maß. Vorher kann der ungebetene Gast jederzeit anklopfen und seinen Koffer in die Tür stellen. Der Krebs kann sich wieder einquartieren, die Füße auf den Tisch legen und auf sein Recht zu bleiben pochen. Dass er jemals das Interesse verliert, dafür gibt es keine Garantie.

Wenn die Krankheit kaum noch zu ertragen ist

Letztes Wochenende wollte ich sterben. Mit jeder Wimper, die ich verliere, zerfällt die Illusion von Kontrolle. Mit jedem ausgefallenen Haar verliere ich ein Stück von dem, was ich bin. Ich habe den Krebs gesehen und ich habe mich der Chemo gestellt. Es hat mir erst meinen Job und meine Haare, dann meine Würde, meinen Trotz und meine Stärke genommen. Mich bis ins Mark zersetzt. Ich fühle mich wie ein Faden unter starkem Zug. Es zerreißt mich nicht mit einem Ruck. Viel mehr löst sich Faser um Faser, ich werde von der Mitte her auseinandergerissen.

Dennoch: Aufgeben steht mir nicht. Unwissend, woher ich die Kraft noch nehme, schleppe ich mich weiter. Mit jedem Schritt reißt eine weitere Faser. Ich warte auf das helle Geräusch, wenn die letzte Faser reißt. Das Reißen dieser Faser kann der finale Ton sein. Oder es ist der Auftakt zu einer neuen Harmonie mit mir selbst.

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