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Wie man als chronisch kranker Mensch in unserer Gesellschaft seinen eigenen Weg finden muss

Larissa ist chronisch krank und ging jahrelang an ihre körperlichen und emotionalen Grenzen, um den Anforderungen der Gesellschaft zu entsprechen. Bis sie merkte, dass sie dabei zugrunde ging – und ausbrach.

 

Die Krankheit sieht man mir nicht an

„Du bist
kerngesund, das sieht man dir an“, sagte er zu mir.  In
Gedanken versunken schaute ich auf die Hügel, Wälder und Wiesen,
die uns umgaben. Das wird nun mein Schicksal sein, dachte ich mir,
dass die Menschen genau das von mir denken. Ich saß vor einem
angehenden Professor der Humanmedizin auf einer Party und hatte ihm
soeben erzählt, dass ich merke, dass ich schwer krank bin, ohne zu wissen, was ich habe.

Wenig später war es
klar – Morbus Crohn, eine chronische und schubweise verlaufende Entzündung des Magen-Darm-Trakts. Bis zum Limit bin ich gegangen – die
Warnungen meines Körpers und hinterher die der Ärzte nach der Diagnose habe ich missachtet.

Die Behandlung im Krankenhaus habe ich erst zugelassen als gar nichts mehr ging. Warum? Wegen meiner Arbeitsstelle. 

Heute sitze
ich hier und frage mich, was ich da gemacht habe mit mir und meinen
Körper.

Als Kind wird man schon darauf getrimmt, Leistung zu
erbringen, Erfolge zu erzielen und vorzuzeigen. Einen anständigen
Beruf zu erlernen und viel Geld für Luxus zu erwirtschaften. 

Beruflicher Erfolg wichtiger als Gesundheit?

Es
war mir wichtiger, meine Abschlussprüfung zu schaffen und täglich zur Arbeit zu gehen, um den Menschen um mich herum zu zeigen,
dass ich das, was sie von mir verlangen, erfüllen kann – zu
funktionieren.

Kurz darauf wurde
ich für berufsunfähig in meinem erlernten Beruf erklärt, aber ich
durfte mir etwas Neues aussuchen, und da war ganz klar – ich setze
noch einen oben drauf.

Klettere weiter hinauf. Irgendwo da oben ist
etwas, was ich erreichen muss. Nun wird alles
anders, dachte ich. Jetzt werde ich erfolgreich und glücklich. Dass
ich mit der noch höheren Belastung meine Krankheit völlig
missachtet habe, ist mir nicht aufgefallen und kurz darauf kam schon
der nächste Schlag – Endometriose.

Es ist so sicher wie Tag
und Nacht: Ich werde jeden Monat für bis zu vier Tage
ausfallen. Waren Schmerzen und Probleme vorher nicht kalkulierbar,
teilweise für einige Zeit gar nicht vorhanden, hatte ich nun die
Garantie, dass ich vor Schmerzen in meinen ganz eigenen Trancezustand
verfalle. Keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Meinen Alltag
nicht mehr meistern werde. Jeden Monat erneut.

Zehren von den letzten Kraft- und Energiereserven

Nachdem ich schon
eine Firma wegen meiner Erkrankung verlassen musste, da ich den
offensichtlichen Abfall meiner Leistungsfähigkeit nicht
verheimlichen konnte, war nun klar – ich werde niemanden mehr von
meinem Zustand erzählen. Zu groß war die Angst. Schließlich sehe
ich für jeden Außenstehenden aus, als sei ich gesund. Was ich oft
genug zu hören bekomme.

Teilweise
wochenlang zerre ich an den letzten Energie- und Kraftreserven meines
Körpers, um mich zu konzentrieren und klare Gedanken fassen zu können.

Dass es Tage gibt, an denen ich schweißgebadet aufwache, bemerkt niemand. Der klägliche Versuch, die Schmerzen auszublenden. Den
Kreislauf am Laufen zu halten. Das Zittern zu verheimlichen und noch
so einiges mehr.

Die Karriereleiter
bin ich aufgestiegen. Als erste Frau der Firma dem
Geschäftsführer eines erfolgreichen Unternehmens unterstellt, mit Firmenwagen, Diensthandy und Laptop. Ich traf andere Führungskräfte und
Geschäftsführer von zum Teil weltbekannten Firmen, um mit ihnen
unsere Projekte durchzusprechen. Ich bekam ein wirklich anständiges
Gehalt.

Ich hatte es geschafft. Endlich. Ich hatte mir Ansehen und Respekt erarbeitet. 

Und gleichzeitig merkte ich,
dass ich sämtliche Warnsignale meines Körpers missachtete.

Alle Warnungen der Ärzte ignoriert

Nach
acht Stunden Feierabend? Das geht nicht. Was denken die anderen von
mir? Ich wusste, dass ich nicht jeden Tag Vollgas geben konnte, aber
ich konnte so tun als ob.

Ich saß an einem
Schreibtisch am anderen Ende von Deutschland und wusste – ich fahre
heute nach Hause. Trotz der Warnungen und Empfehlungen der Ärzte,
sofort ein Krankenhaus aufzusuchen. Ich fuhr, fünf Stunden mit
Anämiesymptomen, getrieben von der Angst, allein sein zu müssen
irgendwo in Deutschland, in einem Krankenhaus. Es war Freitag. Was
alles hätte passieren können, habe ich ausgeblendet. 

Ich kam
ins Krankenhaus. Zuhause angekommen. Für wenige Stunden. Ich musste wieder raus, zur
Arbeit. Montags ging der Trott von vorne los. Was sollen die denken, wenn sie sehen, dass ich im
Krankenhaus bin? Riskiere ich meinen Job? Ganz sicher. Ich habe es
schon mal getan.

Aber ich wusste, so
geht es nicht weiter. Ich musste was ändern. Aber was und wie, wenn
ich meinen Status nicht verlieren will?

In dieser
Gesellschaft hat man als chronisch kranker Mensch, den man seine Krankheit nicht anmerkt, ein großes Problem. Man kann nicht immer die
Leistung erbringen, die möglich wäre. Ziele rücken in weite Ferne.
Es wird gezweifelt, wenn man von seinem aktuellen Zustand erzählt.
Mir fehlt kein Körperteil. Mein Innerstes wächst nicht nach außen, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Ich habe etwas, was die Menschen nicht sehen können; die Menschen müssen mir vertrauen, wenn ich ihnen
sage, dass ich möchte, aber nicht kann. 

Und das fällt ihnen
schwer, in der Fülle der Tiefpunkte.

Es ist nicht möglich, sich auf den Rhythmus anderer Menschen einzustellen, wenn der eigene
Körper den Rhythmus und das Tempo vorgibt.

Heilung? Fehlanzeige

Aber die Karriere,
die einem immer weiter aus den Händen entgleitet, ist nicht das
einzige, was emotional sehr anstrengend ist. Die regelmäßigen
Arztbesuche und Untersuchungen kommen dazu. Gerade bei
solchen Erkrankungen sitzt man auf einem verlorenem Posten. Irgendwann wissen die Ärzte auch nicht weiter. Man korrespondiert erfolglos mit den Krankenkassen. Medikamente? Heilung? Fehlanzeige. 

Die Spirale bergab ist weitgreifend und umfangreich.

Man sieht die
Menschen in seinem Umfeld, die an einem vorbeiziehen. Die ihre
Leistungen bringen. Erfolgreich werden. Sich etablieren
und schöne Häuser bauen, währenddessen man selbst zu Hause auf
seinem Bett liegt und die nächste Schmerztablette einwirft, damit
man wenigstens dazu kommt, wieder einen einzigen klaren Gedanken
fassen zu können.


Man selbst ist dazu
verpflichtet, nach einer schmerzgeplagten Nacht und zwei Stunden
Schlaf morgens wieder im Büro zu sitzen und Geld zu verdienen –
vor allem für die Firma.

Das tägliche
Hamsterrad dreht sich. Man muss nun etwas erbringen, damit man für
die Firma einen gewissen Wert hat. Alles darunter ist wertlos und
kann weg. Dabei zählt nicht der Charakter, der Mensch dahinter, die
individuellen Bedürfnisse, sondern die Zahlen auf einem Stück Papier.

Wie tief ist unsere
Gesellschaft gesunken, dass materielle Dinge wichtiger sind als das
größte Geschenk dieser Welt – einem Leben?

Wann ist das
schwächste Glied zu einem Abfallprodukt geworden? Wann hat es
aufgehört, dass man sich gegenseitig respektiert und akzeptiert?

Es ist schwer,
beruflich erfolgreich zu werden. Es ist schwer, seine Freizeit zu
gestalten. Es ist schwer, eine Partnerschaft zu führen oder Menschen
zu finden, die einen so akzeptieren, wie man ist. Aber am schwersten
ist der Alltag und im letzten Schritt dann auch, sich gar selbst zu lieben. Das größte Hindernis
im eigenen Leben, in seinen Zielen, Wünschen und Träumen. Das größte Problem ist man selber – wenn man das von der Gesellschaft so eingetrichtert bekommt.

Trostlose und vergängliche Glücksgefühle

Ich habe mich
entfesselt. Und mich fesseln lassen von vielen Menschen, die dieser
Gesellschaft den Rücken gekehrt haben. Die alles aufgegeben haben, um
sich selbst zu finden. 

Menschen, die wissen, dass materielle Güter sehr
trostlose und vergängliche Glücksgefühle auslösen. Viel zu viele
Menschen legen sich diese Fesseln selbst an und schwimmen mit dem
Strudel mit. Lassen ihn am Leben zu einer Zeit, wo dieser Strudel
längst überholt sein müsste. Viel zu viele Menschen sind getrieben
von ihrer Angst, die sie selbst erschaffen haben und ordnen sich einem System unter, welches ihnen nicht gut tut und nie gut tun wird.
Genauso wie sie das auf andere Menschen übertragen, die sich nicht
mehr zu retten wissen. Stupide und stumpf dem nachgehen, was von
ihnen verlangt wird. Um jeden Tag etwas zu machen, von dem sie
wissen, dass es sie nicht erfüllt.

Ich habe es
hingeworfen. Karriere, Firmenwagen, eine gute Position und ein sehr
gutes Gehalt, den immer wieder erwähnten „Elite-Status“ meiner
Ausbildung.

Nun mache ich etwas,
was für mich all die Jahre verpönt war – ich besitze eine
unbedeutende Teilzeitstelle in meinem alten Beruf und bin in der
Selbstständigkeit mit Hufpflege und Fotografie.

Ich richte mein
Leben jetzt nach mir und meiner Krankheit und nicht nach den Zahlen
fremder Menschen. Ich akzeptiere für mich, wenn ich einen Tag nicht
so kann, wie ich will und nichts erwirtschafte. Und gebe an anderen
Tagen mehr Vollgas.

Ich lege das Tempo fest. Ich bestimme den Rhythmus, ohne in ein
System zu verfallen, in dem ich gezwungen werde.

Mein Leben richte ich nun nach mir und meinen Regeln. Erfolgreich. Weil ich nun liebe, was ich tue, auch wenn es nicht den gesellschaftlichen Regeln entspricht. Meine Freude ziehe ich nicht mehr aus Geld und Konsum, sondern aus guten Kundenkontakten, denen ich eine Freude machen kann mit meiner Arbeit. Die Bezahlung mit Geld ist nebensächlich, die Freude über das, was ich geschaffen habe für andere Menschen, ist mir viel mehr wert. Gibt mir sehr viel mehr Erfüllung. Lässt mich diese Krankheiten und Nebenerkrankungen akzeptieren, weil ich nun mit ihnen leben kann und nicht gegen sie.

Dafür musste ich nur akzeptieren, dass ich aus dem Hamsterrädchen rausgehen kann und darf. Wann ich will. Dass ich nur mich selber dafür respektieren und akzeptieren muss. Vor allem aber glaube ich daran, was ich tue. Vollkommen selbstbestimmt.

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