Michael Nast fühlt in seinen Kolumnen seiner Generation auf den Zahn. Warum, fragt er sich zum Beispiel, verdrängen selbst Leute Mitte dreißig beim Thema Verhütung immer noch die Konsequenzen?
Willkommen zurück im Single-Leben
Michael Nast, geboren 1975, gründete nach einer abgebrochenen Buchhandelslehre zwei Plattenlabels und arbeitete bei verschiedenen Werbeagenturen. Heute lebt und arbeitet er als freier Kolumnist, Buch- und Drehbuchautor in Berlin. In seinem gerade erschienenen Buch, heißt es, „hält er der Generation Beziehungsunfähig den Spiegel vor. Ohne zu urteilen, ermutigt er chronische Selbstoptimierer und Perfektionisten dazu, den eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen“, ist auf der Rückseite zu lesen. Da sind wir aber gespannt. Wir veröffentlichen einen Auszug:
Verhütungstendenzen
Anfang des Jahres traf ich mich mit Arthur und Max. Beide sind schon ziemlich lange Single und verbringen viel Zeit im Berliner Nachtleben. Als ich in der Goldfischbar eintraf, rief Arthur herzlich: „Willkommen zurück!“
Ich war seit Kurzem auch wieder Single, und offenbar nahm er an, dass ich nahtlos an das Leben anknüpfen würde, das ich zwei Jahre zuvor verlassen hatte. An ihr Leben gewissermaßen. Und vielleicht habe ich das auch gedacht. Ich ging mit einem nostalgischen Gefühl in diesen Abend. Wir würden über Dinge sprechen, die mich an meine Singlezeit erinnerten, es würde wie früher sein. Was soll ich sagen, die Geschichten hatten sich nicht verändert, aber es war nicht wie früher. Irgendetwas war anders. Meine Perspektive vielleicht. Der Blickwinkel, aus dem ich ihre Geschichten betrachtete, hatte sich offensichtlich verschoben.
Als wir die erste Runde bestellt hatten, erzählte Max von Lena, die er am Wochenende gegen zwei Uhr früh in einem Club kennengelernt hatte. Sie versuchte ihn andauernd zu überreden, jetzt gemeinsam den Club zu verlassen. Sie wohnte in einer WG, er hatte eine eigene Wohnung, für einen One-Night-Stand wussten sie damit alles, was sie voneinander wissen mussten – und zwar, dass sie zu ihm fahren würden. Allerdings erfuhr er von Lena dann noch weitere Details, die er eigentlich gar nicht wissen wollte, weil diese Details ein viel zu aufschlussreiches Gesamtbild ergaben.
„Weißt du, was?“, sagte sie mit verklärtem Blick. „Ich hatte gerade ein total schönes Erlebnis.“
„Ach ja?“, fragte Philipp. „Was denn?“
„Ich hatte vorhin total schönen Sex auf der Toilette.“
„Total schön?“, fragte er irritiert. Er war schließlich vorhin auf der Toilette gewesen. Ihm fiel die Toilettenfrau ein, die sich lautstark darüber beschwert hatte, wie unangenehm es war, die Pissoirs von dem Erbrochenen betrunkener Gäste zu reinigen, was in dieser Nacht bereits zwei Mal passiert war.
„Wir waren aber auf der Damentoilette“, sagte Lena, als sie seinen Blick bemerkte. „Die ist sauberer.“ Lena schien Erfahrungswerte zu haben, was es jetzt auch nicht unbedingt besser machte. Sie schien auch nicht zu begreifen, dass es hinderlich sein könnte, jemandem diese Information zu geben, den man gerade zu überreden versucht, mit einem zu schlafen.
„Aber ihr habt ein Kondom benutzt“, sagte er, nur um überhaupt irgendetwas zu sagen. Lena sah ihn verständnislos an, irgendwie ratlos.
„Du hast sie nicht angefasst“, sagte Arthur in der Goldfischbar. „Versprichst du mir das?“
„Na ja“, wand sich Max. „Wir sind dann noch zu mir gefahren. Aber ich hab nicht mit ihr geschlafen. Also nicht so richtig. Also nur kurz. Ich hatte ja keine Kondome da.“
„Alter!“, sagte ich.
„Die meisten Frauen haben doch auch keinen Bock auf Kondome“, sagte Max.
„Stimmt“, sagte Arthur. „Man sagt ja, dass es meistens die Männer sind, die nicht verhüten wollen. Dass sie schuld sind. Aber ich kenn so einige Frauen, die mich irritiert angesehen haben, wenn ich aufgestanden bin, um aus dem Nebenzimmer Kondome zu holen. Eine hat auch ständig versucht, es wieder abzustreifen, als wir miteinander geschlafen haben. Bringt doch nichts, hat sie gesagt. Da kann ich mir auch gleich ‘ne Mohrrübe reinschieben.“
„Oh“, dachte ich. Danke für dieses Bild.
„Natürlich ist es Scheiße, nicht zu verhüten“, sagte Max. „Aber, jetzt mal ehrlich, das ist ja schon irgendwie so, als würde man sich Socken anziehen, bevor man duschen geht.“
„Stimmt“, lachte Arthur. „Außerdem ist es in dem Moment auch egal, irgendwie denkt man gar nicht dran. Man schiebt’s ein fach weg.“
Tja, dachte ich, denn ich kenne das. Jeder kennt das. Diese Momente kurz vor dem Sex, in denen plötzlich alles egal ist. Man kann das Trieb nennen oder Geilheit, wenn man der Schriftsteller Milan Kundera wäre, würde man sich eleganter ausdrücken und es „den Moment der Ekstase“ nennen. Einen Moment, den Kundera in seinem Roman „Die Langsamkeit“ wunderbar als „ein von Vergangenheit und Zukunft abgeschnittenes Fragment der Zeit“ beschrieben hat. Wenn man kurz davor ist, mit jemandem zu schlafen, „steht man praktisch außerhalb der Zeit. Man hat keine Angst vor eventuellen Konsequenzen, denn die Quelle der Angst liegt in der Zukunft, und wer von der Zukunft befreit ist, hat nichts zu befürchten.“ Besser kann man es wohl nicht ausdrücken.
Ausblenden, bis das schale Gefühl verblasst
Aber irgendwann ist dieser Rausch dann verflogen, und dann kommen die anderen Momente. Momente, in denen man sich beispielsweise fragt, mit wem die Frau, die nach einer langen Partynacht ganz selbstverständlich mit einem geschlafen hat, ohne zu verhüten, sonst noch so ungeschützt Sex hatte. Eigentlich will man es gar nicht wissen. Man ignoriert es, man blendet es aus, bis das schale Gefühl langsam verblasst.
Die Frage ist nur, was man als eventuelle Konsequenzen sieht.
Mein Bekannter Andreas hat mir mal von einem Date erzählt, das in seiner Wohnung endete. „Sie hieß Susanne“, sagte er. „Die war schon was Besonderes.“ Als sie sich im Schlafzimmer küssten, spürte er einen Moment lang, wie er fiel, erzählte er. Sie begannen, sich gegenseitig auszuziehen, und küssten sich wie Teenager, als würden sie das hier alles gerade zum ersten Mal entdecken. Es war die richtige Stimmung. Irgendwann fragte sie sanft: „Hast du Kondome da?“
„Wir können auch ohne miteinander schlafen“, flüsterte er. „Ich pass auch auf.“
„Worauf ?“, sagte sie deutlich. „Dass ich kein Aids bekomme?“ Ein Satz wie ein Vorschlaghammer. Die Stimmung war weg. Sie schwiegen ein kurzes unangenehmes Schweigen, in dem er überlegte, mit welcher Bemerkung sie wieder in diese Stimmung gleiten konnten, aber ihm fiel nur ein, dass er Kondome eigentlich nur mit ungewollten Schwangerschaften verband, nicht weil er sich vor Krankheiten fürchtete.
„Ich glaub, Krankheiten sind gar nicht so im Bewusstsein”, sagte Max. „Also ich denk da auch vor allem an Schwangerschaften.“
„Stimmt“, sagte ich. „Sonst würden sich ja nicht so viele auf die Pille berufen.“
„Im Suff gezeugt“, sagte Arthur. „Klingt jetzt auch nicht so schön.“
Um mich auf diesen Text vorzubereiten, habe ich einige Studien gelesen, die sich mit Verhütung in der heutigen Zeit befassen. Und wenn es nach ihnen geht, muss man sich gar keine Sorgen machen. Wenn man den Umfragen glaubt, verhütet offensichtlich jeder. Nun ja. Wenn man ehrlich ist, sind Studien ja die offizielle Variante. Man neigt schließlich eher dazu, dem Interviewer das zu sagen, was von einem erwartet wird. Man entspricht dem vorgegebenen, dem sozial erwünschten Verhalten. Das verzerrt die Wirklichkeit. Die Realität sieht da schon ein wenig anders aus. Ungeschützter Geschlechtsverkehr ist eine Selbstverständlichkeit. Auch wenn es keiner so richtig zugeben möchte, er ist vollkommen normal.
Dann ist mir eingefallen, dass es vielleicht realistischere Ergebnisse ergeben könnte, wenn man einfach mal die Konsequenzen recherchiert, die man beim Sex so gern ausblendet. Zum Beispiel die Entwicklung von Geschlechtskrankheiten in Berlin. Und da kommt man der Realität schon wesentlich näher. Das Robert-Koch-Institut hat schon vor einigen Jahren auf einen besorgniserregenden Anstieg der Syphilis-Erkrankungen in Berlin hingewiesen. Und bei einer Reihenuntersuchung von Berliner Singlefrauen wurden 20 Prozent positiv auf Chlamydien getestet, eine Geschlechtserkrankung, die zu Unfruchtbarkeit führen kann. Allerdings werden Chlamydien nur selten erkannt, weil man speziell auf sie getestet werden muss, sonst erkennt man sie nicht. Mit anderen Worten, die meisten wissen gar nicht, dass sie sie haben. Und dass sie sie verbreiten.
So wie es aussieht, sollten wir unser Bewusstsein für ansteckende Krankheiten wieder schärfen. Und auch das Bewusstsein für unseren Leichtsinn. Ich kenne einen Mann, der noch nie einen Test gemacht hat, und es klingt auch nicht so, als würde er einen machen wollen. Er ist immer froh, wenn sich eine seiner Liebschaften testen lässt. „Dann weiß ich, dass ich auch nichts habe“, sagt er. Das ist dann wohl die unbarmherzige Variante.
Plötzlich hatte sie eine Spritze in der Hand
Als ich meinem guten Freund Patrick erzählt habe, dass ich gerade an diesem Text arbeite, erzählte er mir von einer Frau, mit der er vor einigen Jahren ein Verhältnis hatte. Sie war Ärztin. Sie hatten noch nicht miteinander geschlafen, dann kam endlich dieser romantische Abend. Sie hatte Kerzen angezündet und Wasser in die Badewanne eingelassen. Patrick legte sich ins dampfende Wasser und sah sie erwartungsvoll an. Gleich würde sie sich ausziehen und zu ihm in die Wanne steigen, dachte er. Aber dann passierte etwas Unerwartetes.
„Plötzlich hatte sie diese Spritze in der Hand“, sagte Patrick.
„Wie bitte?“, sagte ich.
„Ja, sie hat mir ’ne Spritze gesetzt, und mir Blut abgenommen.“
„Ohne Test schlafe ich nicht mit dir“, erklärte sie mit einem Lächeln. „Und im heißen Badewasser kommen die Venen so gut raus.“
„Eine Woche darauf waren dann die Ergebnisse da“, sagte Patrick. „War alles in Ordnung. Die Liaison ging nur zwei Monate. Inzwischen ist sie meine Hausärztin.“
„Na, da fügt sich doch alles zusammen“, sagte ich, und dann, nach einer kurzen Pause: „Und wie war die Woche?“
„Nicht so schön“, erwiderte er.
Dieses „Nicht so schön“ ist ja auch ein Grund, aus dem viele lieber keinen Test machen. Weil sie sich in den sieben Tagen, bis die Ergebnisse da sind, erst wirklich mit den eventuellen Konsequenzen auseinandersetzen. Wenn das Kopfkino beginnt. Wenn man sich fragt: „Was wäre, wenn?“
Bevor ich mit meiner letzten Freundin zusammenkam, habe ich mich umfangreich testen lassen. Nun ja, das ist nicht ganz richtig. Wir hatten schon miteinander geschlafen, ohne zu verhüten. Ich musste eine Woche warten, es war eine der längsten Wochen meines Lebens. Aber das hatte ich wohl verdient. Ich setzte mich ernsthaft damit auseinander, wie sich mein Leben ändern würde, wenn ich beispielsweise Aids hätte. Und dabei ging es mir gar nicht um mich. Ich hätte meine damalige Freundin mit reingezogen. Ich hätte mich wie ein Schatten auf ihr Leben gelegt und alles geändert. Das ist das schlimmste Gefühl.
Als ich dann eine Woche darauf nervös bei meiner Ärztin saß, während sie ruhig in den Laborergebnissen blätterte, brüllte es in mir: „Los, sagen Sie’s endlich! Was ist mit Aids?“ Es war das letzte Blatt der Untersuchung, sie tat es mit einem Halbsatz ab. Einem Halbsatz, in dem die Worte „natürlich nicht“ vorkamen und mit dem sie eine der schlimmsten Wochen meines Lebens beendete. Die Laboruntersuchungen haben mich 300 Euro gekostet, was ich dann mal als gerechtfertigte Strafe für meinen Leichtsinn empfunden habe. Rückblickend war es dieser Moment, der meine Perspektive geändert hat. Der mich gewisse Aspekte meiner Singlezeit anders sehen lässt. Er hat mich geheilt. Von Wahllosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn. Ein guter Ausgangspunkt für einen frischgebackenen Single in Berlin.
Arthur und Max sind dann noch weitergezogen, zuerst ins Grand, dann ins Trust und dann ins King Size. Ich wollte nach Hause. Wenn ich jetzt noch mitkam, würde der folgende Tag ein verlorener Tag werden, und irgendwie fehlte mir die Lust, ihn verkatert auf dem Sofa zu verbringen.
„Mach jetzt mal nicht den Spalter“, rief Max auf der Grünberger Straße, während er ein Taxi heranwinkte. Als sie mich vor meinem Haus absetzten, stand ich noch einen Moment lang an der Straße und sah dem Wagen nach, bis er sich an der nächsten Kreuzung in den Rücklichtern der anderen Autos verlor.
Willkommen zurück, dachte ich.
Im Berliner Singleleben.
aus: Michael Nast, „Generation Beziehungsunfähig“, Edel Books, Februar 2016, 240 Seiten, 14,95 Euro.
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