Wenn man von Narzisst*innen spricht, weiß fast jede*r, was gemeint ist. Echoist*innen, das Gegenteil davon, kennt dagegen kaum jemand. Eine Begriffserklärung.
„Echoist*innen – was bedeutet das?
Narzisst*innen. Denken wir an sie, haben wir ein klares Bild vor Augen: überhebliche und empathielose Manipulator*innen, die von der Bewunderung anderer leben. Dieses Bild ist jedoch nur ein Ende eines viel größeren Spektrums, sagt der Autor und Psychologe Craig Malkin. Sich selbst so zu lieben, wie man ist, sei wichtig für das Wohlbefinden — es gebe also auch durchaus gesunde Formen von Narzissmus, schreibt der Psychologe in seinem Buch „Der Narzissten-Test“.
Am entgegengesetzten Ende des Spektrums gibt es jedoch noch ein Extrem. Ein Extrem, das mit dem uns bekannten Bild des toxischen, selbstverliebten Narzissten überhaupt nicht übereinstimmt. Malkin nennt diese Menschen Echoisten. Das Gegenteil eines Narzissten zu sein, kann ja nur etwas Gutes sein, denkt ihr jetzt vielleicht. Das ist aber nicht der Fall. Nathalie Gaulhiac von Business Insider erklärt das Phänomen.
Menschen, die unter Narzissmus-Mangel leiden
Selbstlosigkeit und Bescheidenheit betrachten die meisten Menschen im Gegensatz zu Narzissmus grundsätzlich als Tugenden. Echoist*innen leben diese Werte auch, allerdings in einem ungesunden Maße: Sie halten es für verwerflich, sich für etwas Besonderes zu halten – und sie leiden darunter.
Der Begriff „Echoist*innen“ ist auf die Geschichte der Bergnymphe Echo aus der griechischen Mythologie zurückzuführen. Die Nymphe verliebte sich in den Hirten Narziss, der sie zurückwies. Echo zog sich daraufhin verletzt in die Berge zurück, wo ihr Körper nach und nach verschwand, bis schließlich nur noch ihre Stimme übrig blieb. Narziss hingegen wurde von der Göttin Nemesis für seine Überheblichkeit verflucht: In einer Quelle erblickte er sein Spiegelbild und verliebte sich in es. Er blieb so lange am Ufer, bis er starb und sich in eine schöne Blume verwandelte.
Leiden Echoist*innen also an einem Mangel an Narzissmus? Statt eines Narzissmus-Defizits spricht der klinische Psychologe und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch lieber von einem Selbstwertdefizit. „Der Begriff Narzissmus ist eigentlich ein unglücklicher Begriff, weil er im allgemeinen Sprachgebrauch sehr negativ konnotiert ist“, sagt er. „Ich rede lieber von dem, um das es eigentlich geht, nämlich um Selbstwertgefühl, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Und dann wird einem natürlich klar, dass zu wenig davon fatale Folgen haben kann.“
Wann wird Bescheidenheit zum Problem?
Dem Psychologen zufolge ist der Punkt, ab dem dieses Defizit ungesund ist, dann erreicht, wenn es nicht mehr um eine genuine Bescheidenheit, sondern um ein extremes Zurückstellen der eigenen Interessen geht. „Wenn die Person leidet und sich Chancen und Möglichkeiten nimmt, die sie eigentlich hätte, ist es keine gute Bescheidenheit mehr, sondern selbstdestruktiv.“
Schließlich sei es nicht so, dass Betroffene keine Träume haben und sich keine Erfolge wünschen — sie trauen sich nur nicht, diese anzugehen.
„Zum Narzissten und Echoisten wird man nicht geboren, sondern erzogen“
Welche Form von Narzissmus ein Mensch entwickelt, hängt unter anderem davon ab, ob er*sie extrovertiert oder introvertiert ist. Der Ursprung des Echoismus liegt Malkin zufolge jedoch in der Kindheit und der Erziehung. Es gibt viele verschiedene Wege, auf denen Eltern ihre Kinder an eines der extremen Enden des Narzissmus-Spektrums drängen können. Ein Beispiel sind, laut Malkin, emotional instabile Elternteile, die nur dann glücklich zu sein scheinen, wenn sie vom Kind gelobt, getröstet und umschmeichelt werden. So lernt das Kind, dass es nur dann die Zuneigung und Liebe der Eltern bekommt, wenn es seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt.
Ein weiteres Beispiel: Kinder, die ständig mit Sätzen wie „Lass dir den Erfolg bloß nicht zu Kopf steigen“ oder „Sprich nicht über dich selbst, das ist arrogant“ getadelt werden. Diese Kinder fangen Malkin zufolge irgendwann an, sich dafür zu schämen, über ihre Erfolge und Träume zu sprechen. „Immer wenn das Umfeld ein Kind für das Streben nach Höherem bestraft oder bedroht, landet dieses Kind als Erwachsener wahrscheinlich auf der ungesunden linken Seite des Spektrums“, schreibt der Psychologe.
Egal, welches Beispiel wir nehmen – letzten Endes ist es der fehlende Halt durch Mangel an Liebe, der ein Kind an das eine oder das andere Ende des Spektrums drängt, sagt Malkin. „Wenn Kinder diese nicht erfahren, bilden sie entsprechende Verhaltensweisen heraus, um Liebe auf ungesunde Weise zu erlangen, etwa indem sie Aufmerksamkeit heischen (Narzisst*innen) oder aber im Schatten bleiben (Echoist*innen).“
Vielleicht habt ihr jemanden in eurem Freund*innenkreis, der*die ein hervorragende*r Zuhörer*in und immer an Ort und Stelle ist, wenn ihr Hilfe benötigt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es kann sein, dass diese Person einfach nur ein aufmerksamer Mensch ist. Vielleicht ist sie aber auch ein*e subtile*r Echoist*in.
Subtile Echoist*innen konzentrieren sich, Malkin zufolge, reflexartig auf die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen – eine unbewusste Strategie, die verhindern soll, dass andere sie ablehnen. „Ihrer Meinung nach sind sie selbst umso sympathischer und liebenswerter, je weniger ‚Raum‘ sie mit ihren eigenen Ansprüchen und Kümmernissen einnehmen“, schreibt Malkin. Eigene Wünsche äußern sie zwar manchmal, achten aber darauf, nicht zu viel zu verlangen.
Beängstigend wird es für subtile Echoist*innen jedoch, wenn die eigenen Bedürfnisse so groß werden, dass es nicht mehr genügt, für andere da zu sein. Haben sie plötzlich ein starkes Bedürfnis nach Rückhalt und Trost, kommt es, laut Malkin, zu einer Kurzschlussreaktion: Sie tauchen unter. Werden still. Beantworten plötzlich keine Anrufe mehr. Ihre Versuche, sich besser zu fühlen, beschreibt der Psychologe als chaotisch und unbeholfen, zum Beispiel in Form von Anrufen mitten in der Nacht. Malkin nennt dieses Verhalten „Bedürfnispanik“. „Ist die Krise überstanden, rutschen die Betroffenen sehr häufig wieder an ihre ursprüngliche Position auf dem Spektrum zurück.“
Die Gesellschaft spielt bei der Entwicklung dieser Persönlichkeit eine nicht ganz unwesentliche Rolle, so Rauchfleisch. Der Begriff „Echoist*in“ sei zwar relativ neu — Beschreibungen von Personen dieser Art gebe es jedoch schon lange. „Es greift Gesellschaftliches und Individuelles ineinander. Gesellschaftlich werden Menschen, die besonders höflich und nett sind, als sehr positiv empfunden – wenn sie es damit nicht übertreiben – und werden dafür auch belohnt.“ Wenn jemand also erlebt, dass er*sie die Zuwendung und Bestätigung bekommt, die er braucht, wenn er*sie ganz lieb und rücksichtsvoll ist, wird diese Unsicherheit verstärkt.
Echoist*innen helfen, Selbstachtung zurückzugewinnen
Der naheliegende Gedanke, wenn man einem*einer Echoist*in helfen möchte, ist, ihm*ihr zu raten, sich an eine*n Psycholog*in oder Therapeut*in zu wenden. „Das kommt aber oft gar nicht gut an“, sagt Rauchfleisch. „Gerade die Unsicheren fühlen sich dadurch verletzt.“ Besser sei, der Person klarzumachen: Du leidest und verlierst viele Möglichkeiten, die du eigentlich hast; du könntest dich wohler fühlen und mehr erreichen, wenn du von deiner Haltung ein bisschen Abschied nimmst. So kommt er*sie vielleicht selbst auf die Idee, einen Spezialisten aufzusuchen, wenn er*sie es nicht von alleine aus dieser Haltung schafft.
Betroffenen und Nichtbetroffenen rät Rauchfleisch generell von Selbstdiagnosen über unseriöse Online-Tests und Fragebögen in Büchern ab. Zum einen ist es eine Selbstbeurteilung, es herrscht also ein Bias. Außerdem könnt ihr meistens bereits anhand der Fragen durchschauen, welche Folgen eure Antworten haben – diese Tests sind also sehr leicht manipulierbar.
Besonders kritisch wird es, wenn ein*e Echoist*in auf eine*n Narzisst*in trifft – oder noch schlimmer, der*die Narzisst*in der*die Chef*in oder der*die Partner*in ist. „Das ist eine unheilvolle Mischung. Narzisst*innen geht es vor allem um Macht und um das Erleben der eigenen Größe, weil sie tief im Inneren an dem zweifeln und selbst unsicher sind. Darunter leiden Echoist*innen extrem – sie werden im extremen Maße ausgenutzt.“ Genau das, was Echoist*innen brauchen – die Anerkennung und Liebe anderer – können Narzisst*innen nicht bieten. „Für die sind Echoist*innen nur Mittel zum Zweck.“
In solch einer Situation sei es wichtig, dem Echoist*innen, der*die euch nahesteht, zu sagen: Schütz dich, zieh dich aus solchen Situationen raus, in denen du nur der*die Leidtragende bist und wo auch noch das letzte Selbstwertgefühl kaputtgemacht wird.
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