Der junge Arzt Paul Kalanithi hat kurz vor seinem Krebstod ein Buch geschrieben, das seine Leser zu Tränen rührte und an die Spitze der Bestsellerliste der New York Times schoss. Wir veröffentlichen einen Auszug.
Was am Ende wirklich zählt
Paul Kalanithi war Neurochirurg und Autor. Auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens studierte er Biologie, Englische Literatur, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie, anschließend Medizin in Yale und Stanford. Mit nur 37 Jahren starb er 2015 während der Arbeit an seinem Buch an Lungenkrebs, nur wenige Monate zuvor war seine Tochter Cady zur Welt gekommen. In den USA brach „Bevor ich jetzt gehe“ alle Rekorde und wurde ein Nummer 1-Bestseller. Wir veröffentlichen einen Auszug aus
„Teil II – der Patient“
(…) Zeit ist für mich etwas Zweischneidiges geworden. Jeder Tag entfernt mich weiter von meinem letzten Rückfall, bringt mich dem nächsten – und schließlich dem Tod – aber näher. Vielleicht werde ich später sterben, als ich heute annehme, aber ganz bestimmt früher,als ich mir wünsche. Auf diese Erkenntnis gibt es wohl zwei Reaktionen. Am naheliegendsten wäre der Impuls, sich in hektische Aktivität zu stürzen, das Leben voll auszukosten, zu reisen, essen zu gehen, alles zu erledigen, was man schon immer tun wollte.
Doch eine der grausamen Begleiterscheinungen von Krebs ist nicht nur, dass er die Zeit begrenzt, sondern auch die Energie, und damit reduziert er das Pensum, das man in einen Tag pressen kann, beträchtlich. Der Hase, der nun rennt, ist müde. Selbst wenn ich die Kraft dazu hatte, ziehe ich die Gangart der Schildkröte vor. Ich gehe langsam, ich grüble. An manchen Tagen lebe ich lediglich weiter. Wenn sich die Zeit bei hoher Geschwindigkeit ausdehnt, zieht sie sich dann zusammen, wenn man sich kaum bewegt? Es muss so sein, denn meine Tage sind merklich kürzer geworden.
Zeit als Seinszustand, nicht als tickende Uhr
Da sich ein Tag kaum vom anderen unterscheidet, empfinde ich die Zeit als statisch. „Zeit“ hat zwei verschiedene Bedeutungen: die der Uhrzeit – es ist zwei Uhr fünfundvierzig – und die eines Zeitabschnitts – ich mache gerade eine schwierige Zeit durch. Nun empfinde ichZeit weniger als eine tickende Uhr, vielmehr als einen Seinszustand. Trägheit setzt ein, ein Gefühl der Offenheit. Wenn ich mich als Chirurg im OP auf den Patienten konzentrierte, mochte die Position der Uhrzeiger willkürlich erscheinen, sie war aber nie bedeutungslos. Nun sagt mir die Tageszeit nichts mehr, und die Wochentage verlieren auch an Bedeutung. Die medizinische Ausbildung ist rücksichtslos zukunftsorientiert, alles dreht sich einzig um Belohnungsaufschub, immer denkt man daran, was man in fünf Jahren tun wird.
Jetzt aber weiß ich nicht, was ich in fünf Jahren tun werde. Ich könnte tot sein. Ich könnte gesund sein. Ich könnte schreiben. Ich weiß es nicht. Und deshalb hat es auch wenig Sinn, über die Zukunft nachzudenken, das heißt über das Mittagessen hinaus. Auch die Verbkonjugation verschwimmt. Was ist richtig: Ich bin Neurochirurg, ich war Neurochirurg, ich war früher Neurochirurg und werde wieder Neurochirurg sein? Graham Greene hat geschrieben, dass man seine Lebenserfahrungen innerhalb der ersten zwanzig Jahre macht, der Rest ist Beobachtung. In welcher grammatischen Zeit lebe ich also jetzt? Bin ich von der Gegenwart in die Vergangenheit vorangegangen?
Die Zukunft scheint eine Leerstelle zu sein und klingt, aus dem Munde anderer, verzerrt. Erst vor wenigen Monaten feierten wir unser fünfzehntes College-Treffen in Stanford. Ich stand mit einem Glas Whiskey im Hof, während die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Es wäre unhöflich gewesen, auf die Abschiedswünsche der alten Freunde, „Wir sehen uns dann beim Fünfundzwanzigsten wieder!“, zu erwidern: „Wohl kaum.“ Alle Menschen unterliegen der Endlichkeit. Die meisten Pläne werden entweder verwirklicht oder aufgegeben, so oder so, sie gehören der Vergangenheit an. Die Zukunft, anstatt eine Leiter zu den Lebenszielen zu sein, verflacht zu immerwährender Gegenwart.
Geld, Status – so wenig Sinn
Geld, gesellschaftlicher Status, all die menschlichen Eitelkeiten, haben so wenig Sinn – das alles ist bedeutungslos. In der Tat. Doch wer noch eine Zukunft vor sich hat, ist unsere Tochter Cady. Ich hoffe, ich lebe noch lange genug, damit sie sich an mich erinnert. Da Worte im Gegensatz zu mir von Dauer sind, wollte ich ihr eine Reihe von Briefen hinterlassen, aber was würden diese aussagen? Ich weiß nicht, was für ein Mädchen Cady mit fünfzehn sein wird – wird sie noch auf den Kosenamen hören, den wir ihr gegeben haben? Ich kann diesem Kind, das ganz Zukunft ist und dessen Leben sich kurz mit meinem Leben, das zu Vergangenheit geronnen ist, überschnitten hat, vielleicht nur eines sagen. DieBotschaft ist einfach: Wenn du in einem dieser vielen Momente im Leben einen Bericht deiner Selbst geben musst, sag, wer du warst,was du getan und der Welt bedeutet hast. Und ich bitte dich, schätze es nicht gering, dass du die Tage eines sterbenden Mannes mit größter Freude erfüllt hast. Mit Freude, die ich nie zuvor gekannt habe, einer Freude, die nicht nachmehr verlangt, sondern sich selbst genug ist. Für mich bedeutet dies, heute, gerade jetzt, in diesem Moment, unwahrscheinlich viel. (…)
aus: Paul Kalanithi: Bevor ich jetzt gehe. Was am Ende wirklich zählt – das Vermächtnis eines jungen Arztes. Albrecht Naus Verlag, April 2016, 192 Seiten, 19,99 Euro.
Mehr bei EDITION F
Madita: „Wir setzen uns nicht mehr mit dem Tod auseinander. Und dann fällt uns die Trauer an, wie ein wildes Tier“. Weiterlesen
Sibylle Berg: „Das Gefühl von Endlichkeit ist deprimierend“. Weiterlesen
Wir können alles, nur nicht trauern. Weiterlesen