Nach 13 Monaten ist die erste weibliche Vorsitzende der SPD schon wieder Geschichte. Was sagt das über den Stand der Gleichberechtigung in der Partei aus? Das fragt sich Helen Hahne heute in ihrer Politik-Kolumne „Ist das euer Ernst?”.
Andrea Nahles macht Schluss
Seit Sonntag ist es klar: Andrea Nahles tritt sowohl als Partei- als auch als Fraktionsvorsitzende der SPD zurück. Sie gibt darüber hinaus ihr Bundestagsmandat ab. Damit verlässt sie mit 48 Jahren, zumindest vorerst, die bundespolitische Bühne. 13 Monate – so lange hielt es die erste Frau an der Spitze der SPD aus.
Man muss tatsächlich von aushalten sprechen, denn wie mit ihr innerhalb der Partei vor allem in den letzten Wochen und Monaten, aber auch in ihrer Amtszeit davor und bei ihrer Kandidatur umgegangen wurde, gleicht immer wieder einem frauenfeindlichen Armutszeugnis. Wurden ihre männlichen Vorgänger für ihr lautstarkes Verhalten („Basta”, Stinkefinger, you name it), noch als besonders edgy gefeiert, oder dieses zumindest einfach hingenommen, war Nahles von Anfang an zu laut, zu breitbeinig, zu wütend. Einige Parteimitglieder finden, Nahles allein solle den Kopf für das desaströse Ergebnis der SPD bei der Europawahl hinhalten müssen. Immer wieder wurde sie intern und nach außen hin aus der Partei heraus scharf kritisiert. Und immer wieder stellt sich dabei die Frage: Wäre so auch mit einem männlichen Parteivorsitzenden umgegangen?
Misogyne Strukturen in der Partei
Die bittere Antwort: Nein. In der Politik, und in der SPD selbst wird immer noch mit zweierlei Maß gemessen: Männer dürfen poltern, Frauen müssen ruhig und sachlich bleiben, vermitteln, Kompromisse finden, am besten noch dabei lächeln. Andrea Nahles hat die SPD zu einer Zeit übernommen, in der sie schon tief im Umfragetief steckte. „Glass Cliff” nennt sich dieses Phänomen: Frauen kommen vor allem dann in Führungspositionen (in der Wirtschaft oder in der Politik), wenn das Unternehmen oder die Partei sich sowieso schon in einer Krise befindet und die Chancen auf Erfolg sehr gering ist. Da hat dann nämlich plötzlich kein Mann mehr Bock auf die Verantwortung.
Was hatten die Genoss*innen auch erwartet? 13 Monate sind eben nicht besonders viel Zeit, um eine Partei, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie ein Inhaltsproblem hat, zu reformieren und wieder zukunftsfähig zu machen. Vor allem dann, wenn die Parteispitze doch im Großen und Ganzen die alte bleibt. Eine Frage, die sich deshalb auch stellt: Konnte Nahles überhaupt erfolgreich sein oder war sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt? War die erste Vorsitzende der SPD nach 155 Jahren vielleicht gar kein längst überfälliger Schritt in Richtung Gleichberechtigung, sondern die Verheizung einer Frau für eine unliebsame, weil aussichtslose Aufgabe? Und was würde das über den Stand der SPD aussagen?
Wer ist hier peinlich?
Andrea Nahles hat die Verantwortung übernommen, die kein Mann übernehmen wollte. Und viele Entscheidungen getragen, für die man sie unbedingt inhaltlich kritisieren muss. Der sogenannte Kompromiss zu 219a ist, aus feministischer Perspektive, nur der traurige Höhepunkt gewesen. Das alles rechtfertigt aber nicht, wie unmenschlich mit ihr umgegangen wurde. Das Ausmaß zeigt sich vielleicht am besten darin, dass selbst der technokratische Eisbrocken Olaf Scholz am Sonntag bei Anne Will zum Feministen mutierte und in Frage stellte, ob so wie mit Nahles (und mit Annegret Kramp-Karrenbauer) auch mit Männern umgegangen worden wäre.
Und auch von anderen Seiten kam Unterstützung. Kevin Kühnert zum Beispiel räumte offen ein, dass er sich für die Art wie die Partei mit Nahles umgegangen sei, schäme. Vielleicht ein wenig spät? Denn dem zuvor ging peinliches Verhalten, wie zum Beispiel das Interview des SPD-Abgeordneten Florian Post in der FAZ, in dem er sich nicht zu schade war, Dinge zu sagen wie: „Für Sigmar Gabriel haben wir uns nie geschämt“ und Nahles vorwarf, die SPD für ihre Ambitionen „in Geiselhaft“ zu nehmen. Ob es Florian Post und anderen Kritiker*innen wiederum wirklich um die Partei ging und nicht doch um Nahles persönlich, bleibt bei solchen Interviews fragwürdig. Denn würde es wirklich um die Zukunft der Partei gehen, wäre vielleicht eine hinterhältige Personaldebatte nicht das Erste, was SPD-Politiker*innen in den Sinn kommen sollte.
Die SPD braucht ihre Frauen
Der Stand einer Partei zeigt sich immer auch in ihrem Umgang mit ihrem Personal. Und in diesem Fall speziell mit ihrem Weiblichen. Wäre Andrea Nahles eine gute Freundin und die SPD ihr Partner, hätte man sie wahrscheinlich schon vor Monaten vor dieser toxischen Beziehung gewarnt und sie versucht dort herauszuholen. Umso bewundernswerter ist es, wie souverän sie sich am Sonntag bei den Mitgliedern der SPD verabschiedet hat: „Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist.” Und weiter: „Ich hoffe sehr, dass es Euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt.”
155 Jahre hat es gedauert, bis die SPD ihre erste weibliche Vorsitzende hatte. Der Umgang mit ihr in ihrer Amtszeit und vor allem zu deren Ende drängt die Frage auf: Will man sich als Frau in so einer Partei überhaupt engagieren? Es wäre mehr als verständlich, wenn die Antwort nein lauten würde. Und neben der Kultur ist die SPD auch inhaltlich wenig attraktiv für junge Frauen. Dafür bräuchte sie mehr klare Haltung: zu reproduktiven Rechten, zu Gleichstellungsfragen und zu sozialer Gerechtigkeit.
Aber um diese Themen glaubhaft und stark für sich zu beanspruchen, braucht die SPD eben junge, progressive und diverse Frauen. Die gibt es in der Partei tatsächlich – bei den Jusos und in den Ortsverbänden. Höchste Zeit, sie in die erste Reihe zu holen. Das wäre auch gut für die gesamte Gesellschaft. Denn neben den Grünen, die vor allem wichtige Antworten auf die Klimakrise liefern, ist es noch viel Platz für eine dezidiert links ausgerichtete Sozialdemokratie, die die soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt rückt.
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