Politik als Party Pooper? Unsere Autorin erlebt, wie an einem Geburtstag politische Themen tabu sind – und fragt sich: Wer hat eigentlich das Privileg, sich aus wichtigen Debatten herauszuhalten? Ein Text über Schweigen, Verantwortung und die Notwendigkeit, miteinander zu sprechen.
Ich würde von mir selbst behaupten, dass ich mich in den meisten Gruppen von Menschen zurechtfinde. Selbst dann, wenn ich anfangs niemanden kenne. Wie an einem Nachmittag vor einigen Wochen, den ich mit meinem Mann und meiner kleinen Tochter auf einem Geburtstag verbrachte. Ich kannte das Geburtstagskind, das an diesem Tag 48 wurde, nicht. Ich war, was in unserer Paardynamik eher selten vorkommt, ausnahmsweise „der Anhang“. Als wir eintrafen, saßen bereits alle um den Esstisch. Sechs Paare, zwölf Blondschattierungen.
Da ich seit vielen Jahren Alltagsbeobachtungen schreibe und publiziere, kann ich einen Raum in kurzer Zeit erfassen. Ich könnte es auch „Vibe Check“ nennen. Der Vibe an jenem Nachmittag war wie das Mittelmeer im Juni – flach und lauwarm. Wir setzten uns, meine Tochter aß drei bis acht Stücke Apfeltarte, mein Mann unterhielt sich mit dem zuvorkommenden Gastgeber und ich grinste in die Runde, versuchte, mich in bestehende Gespräche über den WhatsApp-Chat der Grundschulklasse zu integrieren, in die alle Kinder aller anwesenden Gäste zu gehen schienen. Alle, außer meins.
Die Welt ist zu groß für Smalltalk
Als Kind einer kulturell, religiös und ethnisch sehr durchmischten Familie, mit einem ebenso heterogenen Freundeskreis, war ich immer von lauten Gesprächsrunden umgeben. Jede*r hat ihre oder seine Herzensangelegenheiten nach so kurzer Zeit auf den sinnbildlichen Tisch gelegt, wie andere ihren Schlüsselbund nach einem langen Arbeitstag. Es gab bei uns zu Hause und auch in meiner heutigen Kleinfamilie keinen Smalltalk – dementsprechend schwer tue ich mich, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sobald ich umgeben von sitzenden Menschen und Kaffee bin.
Da ich nicht unhöflich sein wollte, ließ ich mein Handy natürlich in der Tasche. Beziehungsweise auf meinen Knien – es war der Tag der Freilassung einiger israelischer Geiseln. Als Tochter einer Israelin juckte es mich natürlich in den Fingern, gerne hätte ich die Live-Übertragung dieses unsäglichen Spektakels im Sekundentakt neu geladen. Stattdessen schielte ich immer wieder auf meine Oberschenkel und spürte mein Herz bis in die Schläfen pochen. Diverse Anekdoten aus dem WhatsApp-Chat später traf ein weiterer Gast ein: Baseballkappe, Schnauzer, Karohemd. Okay, dachte ich mir, damit kann ich arbeiten. Und rügte mich innerlich für meine Oberflächlichkeit, aufgrund seines Äußeren davon auszugehen, dass gerade er zu meinem Gesprächspartner avancieren würde.
Der Maulkorb und ich
Er stellte sich als Mitarbeiter im Innenministerium heraus. „Jackpot“, dachte ich mir, und breitete vor meinem inneren Auge meinen Themenfächer aus: Radikalismus, Feminismus, Bundestagswahl, gestaffelter Mutterschutz, Gewaltschutzgesetz. „Such dir was aus, Fremder!“.
Doch der Fremde schaffte es gerade so, mir zu verraten, dass er Akten über Mafiaverbrechen bearbeite. Denn als die Ehefrau des Geburtstagsmannes frischen Kaffee verteilte, blickte sie mich ernst, aber wohlwollend an: „Du, ich würde hier gerne Politik vermeiden. Okay?“
Alle schienen mich anzuschauen, peinlich berührt in ihrem Kaffee zu rühren und sich plötzlich über Rennräder zu unterhalten. Meine Hände fingen an zu schwitzen, es fühlte sich an, als hätte sie mir wie einem vorlauten Schnauzer in der U-Bahn einen Maulkorb übergestülpt. Ich schaute aus dem Fenster. An einer Laterne hingen Wahlplakate der bevorstehenden Wahl. „Whore“, hatte jemand über das Porträt einer SPD-Politikerin gekritzelt. Christian Lindner hing über ihr und schien, ziemlich Lindner-like, auf sie herabzuschauen. „Recht und Ordnung wieder durchsetzen“, stand auf einem CDU-Plakat. An jenem Nachmittag, an jenem Tisch, hatte das auf jeden Fall jemand geschafft. Ihr Haus, ihr Recht, ihre Ordnung. Mein Pech.
Klar, Politik kann ein absoluter Party Pooper sein. Habe ich auch schon erlebt. Und dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass das bewusste Umgehen von politischen Gesprächen ein Luxus ist, den sich – auch in diesem Zusammenhang – nur eine verschwindend geringe Menge von Menschen erlauben kann. Das betrifft, im Zweifel, weiße cis Männer mit überdurchschnittlichem Einkommen und stabiler Gesundheit. Sobald man auch nur einen Mü von diesem schmalen Grat abweicht, müsste der Redebedarf darüber, was wir momentan als Gesellschaft „aushalten“, zu groß sein, um ihn zu unterbinden.
Du musst nicht jüdisch, behindert und geflüchtet sein, damit es dich interessiert!
Glücklicherweise gehen in diesen Tagen Hunderttausende auf die Straße, um unsere Brandmauer zu stützen. Und doch kenne ich Deutschland auch als Land, das die großen Themen gerne ausblendet und als Problem „der anderen“ betrachtet. Als Frau, Mutter, Jüdin und Demokratin erlebe ich einen intersektionalen Alltag – ein Leben wie ein Autobahnkreuz, auf dessen Spuren sich Antisemitismus, die Ungleichheit von Mental Load und der Verteilung von Care-Arbeit und Frauenhass Tag für Tag gefährlich nahekommen.
Während sich manche hinter der Brandmauer verstecken, die von einer aktiven Menge getragen wird, empfinden andere die aktuelle Situation als Flächenbrand. Ich gehöre wahrscheinlich zu Letzteren und habe daher wenig Verständnis dafür, wenn man zwölf wahlberechtigte Erwachsene so kurz vor einer wichtigen Bundestagswahl behandelt wie Kleinkinder. Noch schlimmer aber ist es, wenn ich mich als einzige davon wirklich betroffen fühle. „Noch jemand Rhabarberkuchen?“ – „Nein, danke“.
Schweigen stärkt Ungerechtigkeit
Vielen ist nicht bewusst, wie sehr ihre Mitmenschen von politischen Entscheidungen betroffen sind. Dabei betreuen und unterrichten diese Mitmenschen vielleicht sogar ihre Kinder, kümmern sich um ihre Gesundheit, wohnen nebenan oder servieren ihnen den allmorgendlichen Kaffee. Vielleicht ist es aber auch die Freundin, die darüber schweigt, dass für sie der gefährlichste Ort ihr Zuhause ist. Mir persönlich, und damit auch einem Großteil meines Freundeskreises, ist ein unpolitisches Leben nicht vergönnt.
Das kann man jetzt bedauern, muss man aber nicht. Ich empfinde Unwissenheit nicht als Segen, auch wenn ich während einer Massage gerne abschalten würde, anstatt darüber nachzudenken, ob ich aufgrund der potenziellen Gefahr mit meiner Tochter zu einem Kinder-Schabbat in unserer Lieblingssynagoge gehe. Wo sollen wir denn über all das reden, wenn nicht an einem Nachmittag in kleiner oder großer Runde? Wir müssen doch wissen, was uns bewegt. Was uns Angst macht. Was uns antreibt. Wenn wir nicht früh genug lernen, politische Gespräche zivilisiert und empathisch zu führen, bleiben sie am Ende dort, wo wir sie in all ihrer Hässlichkeit vermuten: am Stammtisch.
Daher ärgert es mich, wenn ich in meinem natürlichen Verlangen, über Politik zu sprechen, eingeengt werde. Man darf es mir auch gerne vorwerfen. Denn schließlich verdienen wir alle eine Auszeit von Debatten über Femizide, Kinderarmut, Migration und Rechtsextremismus. Aber: wir haben auch eine Verantwortung, der wir nur gerecht werden können, wenn wir informiert sind. Und das nicht (nur) über Nachrichtenkanäle. Lernen können wir am besten immer noch voneinander.
Intersektionalität zeigt, dass Diskriminierung nicht eindimensional ist. In Deutschland sind die meisten Menschen auf irgendeine Art und Weise auf mehreren Ebenen von Ausgrenzung und Benachteiligung betroffen. Es reicht dabei heute, Mutter zu sein. Wir können und müssen Leerstellen im wahrsten Sinne des Wortes entdecken, indem wir sie ansprechen. Auch, wenn es dabei Kuchen gibt.
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