Wie oft ich das schon in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gehört habe: „Vergiss es, das haben schon ganz andere versucht.“ „Das haben wir nie so gemacht.“ „Das wird bei uns nicht funktionieren.“ „Das ist schon immer so gewesen, also bleibt das auch so.“ Lauter Killerphrasen aus nackter Angst vor Veränderung. Und gleichzeitig soll alles besser werden, diverser werden, gleichberechtigt und gerechter? –
„Wir wissen genau, wie Männer sich verlieben. Wie sie erwachsen werden. Wie sie 600 Seiten lang in Wälder urinieren – Knausgård-mäßig. Wir wachsen so auf und lesen und hören Männer, Männer, Männer. Wir lernen: Männerprobleme sind Menschenprobleme.“ – Diese Worte kommen von Mareike Fallwickl, die das Buch „Die Wut, die bleibt“ geschrieben und damit uns allen die Augen wieder ein bisschen mehr geöffnet hat über Dinge, die schon immer so waren wie sie heute noch sind und die dringend verändert werden müssen – eben nicht nur im theoretischen Diskurs.
Ich durfte Mareike vor einigen Wochen interviewen. Wir sprachen eine Stunde lang mit (die Wut noch intensivierendem) Hintergrundgeklimper im Literaturhaus und danach fuhr ich auf dem Fahrrad zurück ins Office und dabei explodierten meine Gedanken.
Feminist City
Kurz zuvor hatte ich mit dem Buch „Feminist City“ von der feministischen Geografie-Professorin und Autorin Leslie Kern angefangen, das mich die (für Männer gebaute) Stadt, durch die ich mich täglich mit dem Rad, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewege, ganz anders sehen ließ. „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez hatte ich schon durch – und sah plötzlich immer und immer mehr Stellen in meinem persönlichen Alltag, an denen Überbleibsel aus alten Zeiten klebten, die eine Vorwärtsbewegung aufzuhalten schienen.
Wo sollte man überall zur Veränderung ansetzen – und zwar jenseits unserer Bubble? Können wir das überhaupt leisten? Oder brauchen wir nicht eigentlich dieses intelligente Wesen vom berühmten anderen Planeten, das unvermittelt auf die Erde fällt und auf all die winzigen Details hinweist, an die wir uns viel zu lange viel zu sehr gewöhnt haben?
Gerade da, wo Strukturen richtig alt und einzementiert sind, sollten wir hellhörig werden. Es sei denn, wir wollen keine echte Veränderung. Es sei denn, uns reicht ein instabiles Kartenhaus, das jeden Abend zusammenfällt und am nächsten Tag neu aufgebaut wird. Es sei denn, wir können ganz toll mit dem Gefühl leben, unablässig einen Schritt vor und zwei Schritte zurück zu gehen und uns darüber zu wundern, dass der Blick aus dem Fenster immer so boring ist. Also: boring an der Oberfläche. In der Tiefe aber und über den Horizont hinaus … fast schon beschämend.
Kann weg?!
Ich ertappe mich selbst oft dabei, wie ich denke: Lass es so. Das hat Jahrzehnte lang doch ganz gut funktioniert. Sobald man aber anfängt, diese Jahrzehnte lang funktioniert habenden Dinge zu hinterfragen, gerät alles in Schieflage. Ich denke an diskriminierende oder sexistische Gesetze, die nach wie vor gelten, an Erziehungsmethoden und Pflichtlektüre in Schule und Kita (Grimms Märchen als Maßstab, Interpretation sexistischer Lyrik und die Eintaktung des Lebens von Kindern in lauter 45-Minuten-Kästen). An einen von Bürokratie und Papiermüll beherrschten Verwaltungsapparat. Ich denke an eine Sprache, die wir einfach unreflektiert übernommen haben, statt mit Bedacht auf den historischen Kontext zu achten, ebenso wie auf den Zusammenhang, in dem man bestimmte Worte benutzen möchte. Ich denke an eine 0-8-15-Architektur, die Sinnbild ist für die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Ich denke an alte Bewerbungsverfahren, bei denen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund mit ganz anderen Fragen konfrontiert werden. Ich denke aber auch daran, dass bestimmte Personengruppen im öffentlichen Leben einfach nicht mitgedacht werden, weil das nun mal schon immer so war. Ich denke an Ärzt*innen, die bei ihren Patientinnnen aufgrund fehlender Erhebungen oft ratlos sind. Oder an vollkommen aus der Zeit gefallene Abläufe oder Security Checks an Flughäfen oder Bahnhöfen, an denen sich Menschen einem uralten System unterordnen und darin traumatisierende Erfahrungen machen müssen.
Letztlich geht es eben auch hier um die Benachteiligung, Verletzung oder Unsichtbarkeit eines großen Teils der Menschen – in den Medien, in der Wissenschaft, in der Zukunftsforschung oder auf dem Mond.
Für diese Kolumne möchte ich mit Menschen aus unterschiedlichsten Lebensrealitäten darüber sprechen, wo aus ihrer Sicht die Staubschicht besonders dick ist. Ich gehe in die Stadt und befrage Menschen, die in ihr wohnen und denen ich in ihr begegne: Was ist nicht mehr zeitgemäß, aber immer noch Teil der Struktur, die große Teile deines (Arbeits-)Lebens bestimmt?
Kleb ‘nen Hashtag drauf!
Die Digitalisierung gibt uns vor, dass Probleme, die früher mehr Zeit gebraucht haben, heute schneller zu lösen sind. Hashtags benutzen wir manchmal wie Pflaster, wir kleben sie auf die Wunden – und dann desinfiziert sich das von ganz allein. Hier, warte: #metoo #diversity #equalpay #mentalhealth #inklusion! So. Hört gleich auf wehzutun. Is’n Selbstläufer.
Ist es nicht. Und ich möchte in dieser Kolumne über die Details schreiben, die ständig und überall mit dafür sorgen, dass die kritisierten Strukturen noch immer so präsent und stabil sind. Über Dinge, die immer schon so waren und die weg müssen oder zumindest reflektiert gesehen oder vollkommen neu gedacht werden, damit es an anderer Stelle vorangehen kann.
Eure Beispiele
Fallen euch dazu Beispiele ein? Was war in euren individuellen Lebenswirklichkeiten schon immer so und führt aus eurer Sicht dazu, dass heute nichts vorangeht? Wo müssen wir dringend alles neu denken und auch unbedingt neu machen? Schreibt mir: anne-kathrin.heier@editionf.com oder über unsere Social Media Kanäle.