Foto: Pexels

Schluss mit dem Schubladendenken!

Dauernd stecken wir andere in Schubladen, ohne uns wirklich zu fragen, ob sie dort gut aufgehoben sind. Charlotte D’Agostino fragt sich, warum wir anderen nicht mehr Freiheiten lassen – und uns damit auch selbst mehr Freiheiten geben?

Gelangweilter und kritischer Unterton

In regelmäßigen Abständen stellt sich mir folgende Frage: Warum ist es OK, wenn Schauspielerinnen auf dem Cover von Modezeitschriften dargestellt werden und alle bewundernd sagen, wie hübsch sie seien – wohl bemerkt neben der Schauspielerei. Warum aber ist es scheinbar nicht in Ordnung, wenn Models in Filmen mitspielen?

Die wenigsten sprechen dann bewundernd von ihrem Talent oder ihrem Mut, sich mal anders zu präsentieren. Stattdessen wird ihre Ambition erst einmal ganz offen belächelt, thematisiert und vor allem sehr kritisch hinterfragt. Oft hört man den Satz: „Jetzt will sie auch noch schauspielern.“ Den gelangweilten und kritischen Unterton kann sich sicherlich jeder dazu denken.

Schuster, bleib bei deinen Leisten!

Es ist doch so: Wenn eine Schauspielerin einen schlechten Film macht, gehört das einfach mal dazu. Brilliert ein Model in einer Rolle nicht, ist das direkt der Beweis dafür, dass sie dafür eben einfach nicht geeignet ist! Es haben ja alle zuvor ohnehin prophezeit, dass es so kommen würde und fühlen sich dann in dieser Meinung bestätigt. Dabei gibt es unendlich viele Schauspieler, die ebenfalls in ihren ersten Rollen und Gehversuchen in der Branche keine gute Figur gemacht haben. Womöglich waren sie damals nur noch nicht so bekannt und konnten daher diese ersten zaghaften Schritte geschützt vor der großen Öffentlichkeit und den Kritikern machen.

Und auch ich bemerke bei mir selbst, dass ich solche Gedanken habe – man reagiert eben erst einmal skeptisch, wenn jemand etwas Unerwartetes tut. Dabei gibt es so viele tolle Beispiele, wie etwa Mila Jovovich, um nur eine zu nennen, die mir besonders gefällt – und die mir mit ihrer Leistung Respekt abverlangt. Frauen mit der ganz simpel nachvollziehbaren Ambition, auch noch etwas anderes zu machen – seien es nun Filme, ein Studium oder ein Youtube-Kanal.

Wieso ziehen wir für andere Grenzen?

Diese Situation steht letztlich synonym für so viele Momente des Alltags und sie führt mich unweigerlich zu der Frage:  Wieso ist es so schwer, aus einer Schublade rauszukommen? Oder anders herum gefragt: Wieso kommt man überhaupt so schnell dort hinein? Wieso grenzen wir andere ein? Oder nochmal besser und ehrlicher gefragt: Warum grenzen wir uns selber in unserem Denken so sehr ein? Und wem schaden wir mehr damit, uns oder dem anderen?

Wieso fällt es scheinbar leichter, in solchen Fällen kritische Fragen zu stellen, als eine solche Situation positiv und bejahend wahrzunehmen – und dem anderen und sich selber im Denken mehr Freiheit zuzugestehen, anderen auch mal die Freiheit zuzugestehen, mit ihren Ideen zu scheitern, ohne direkt die nächste Schublade, wie jene mit dem Etikett „Model-das mal-versucht-hat-zu schauspielern-aber-gescheitert-ist“ parat zu haben, um die Person dann dort zu platzieren.

Wozu brauchen wir diese Schubladen?

Ist es nicht vielmehr grandios, dass jeder Mensch so viele unterschiedliche Facetten hat, die gezeigt werden können, sollen und dürfen – und zwar genau dann, wenn jeder Einzelne dazu Lust hat? Wieso brauchen wir eine Kiste, in die wir all das stecken wollen? Und wie würde es uns damit selbst gehen?

Wir nehmen uns schließlich auch nicht eindimensional wahr: Mutter, Managerin, Mitarbeiterin, Freundin, Hausfrau – meist sind wir all das und noch viel mehr gleichzeitig. Wenn wir selbst so kleinlich über andere denken, besteht dann nicht auch die Gefahr, dass wir uns selber gleichermaßen einschränken? Erlauben wir uns eigentlich selbst, aus unserer Schublade herauszuhüpfen?

Was ist der Vorteil vom Schubladendenken?

Warum machen wir das? Birgt die Sache irgendeinen Vorteil? Natürlich, zumindest dem Anschein nach – denn sonst würden wir es ja nicht machen, beziehungsweise umdenken. Ist es also vor allem (geistige) Bequemlichkeit? Brauchen wir diese Art der Sicherheit der vermeintlichen und trügerischen Vorhersehbarkeit? Wahrscheinlich, aber die Antworten auf diese Frage sind so zahlreich, wie es Menschen auf der Welt gibt. Fakt ist allerdings, dass wir alle in einer gewissen Weise dazu neigen, Dinge einfach zu halten – manche mehr, andere weniger.

Aber selbst, wenn wir das nicht ganz lassen können, sollte sich jeder erlauben, sich selbst zu fragen: Wie schnell mache ich mir ein Bild von anderen – und wie wahr kann das sein? Lasse ich auf der Leinwand noch Platz für Ergänzungen? Bin ich bereit, das gemachte Bild zu hinterfragen, zu revidieren, zu ergänzen… oder denke ich zu schnell, ich sei fertig mit der „Analyse“? Bin ich überhaupt bereit, Bereiche auch mal wieder auszuradieren oder ist die Farbe schnell getrocknet und das Bild unwiderruflich fertig? Bin ich womöglich auch bereit, den gesamten Entwurf zu zerknüllen und komplett von neuem zu beginnen? Wenn man ehrlich ist, muss man diese Fragen relativ oft mit einem „Nein“ beantworten.

Doch das ist unfassbar schade. Denn sind es nicht gerade die Gegensätze, die sich in einem Menschen vereinen, die Begegnungen mit ihm interessant machen? Und vor allem einzigartig machen? Und gerade diese Gegensätze zeigen sich niemals sofort in ihrer ganzen Fülle. Dafür braucht es Zeit, Geduld und die Möglichkeit – aber auch die Bereitschaft, sie wahrhaftig kennenlernen zu wollen.

Wahrhafte Begegnungen: Können wir das überhaupt noch?

Gerade in der heutigen Zeit, in der man durch Social-Media-Kanäle so viele Möglichkeiten hat, ein Bild von sich selbst zu zeichnen, fällt es umso schwerer, Raum für wahrhafte Begegnungen zu schaffen. Jeder versucht, ein optimales, die Wahrheit im Zweifel leicht verzerrendes Bild von sich zu präsentieren. Womöglich aus der Annahme heraus, dies müsse nun so sein – doch letztendlich bauen wir dadurch nur eine Mauer um uns, um die Person, die wir sind. Doch für wahrhafte Begegnungen braucht es noch mehr als ein ehrliches Bild. Es bedarf eines wirklichen Committents. Denn auch die Investition von Zeit ist in unserer heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich. Man muss es wollen! Einfordern! Dem anderen das Gefühl geben, sich öffnen zu können. Ernsthaftes Interesse an allen Facetten der Persönlichkeit zeigen!

Denn wenn man das macht, dann passiert etwas ganz Wunderbares: Man erschafft sich selber einen Raum, in dem man sich wahrhaft zeigen kann. Man fühlt sich nicht mehr wie in eine Schublade gepresst, sondern frei. Und wenn wir den Bogen zurückschlagen, dann wagen doch genau diese Models, die schauspielern, eben diesen Schritt. Sie zeigen eine andere Facette von sich. Und das verdient Respekt! Auch Respekt vor dem möglichen Misserfolg! Insofern riskieren sie eine Menge. Sie verlassen eine Komfortzone, das „nur schön sein“, und präsentieren mehr von sich.

Schockiert die anderen doch mal!

Wir alle haben so unendlich viele Facetten und sollten jede davon ausleben können. Uns wirklich zeigen und sichtbar werden lassen. Und das, ohne dann mahnend daran erinnert zu werden, dass wir uns aber mal in Richtung einer anderen Schublade orientiert  – oder besser gesagt, die anderen uns dort platziert hatten.

Also, springt aus eurer Schublade und macht etwas Unerwartetes!  Überrascht euch selber und schockiert die anderen! Nehmt wahr, wer sich dann für euch und ein paar mehr Facetten interessiert und Bock hat, diese kennenzulernen. Denn das sind die Menschen, die wir im Leben an unserer Seite haben sollten – und seid ebenso bereit, das auch anderen einzuräumen.

Mehr bei EDITION F

Das Leben soll schöner werden? Dann mach Schluss mit deiner Komfortzone! Weiterlesen

Karriereplanung ist nicht alles – Warum es sich lohnt, abenteuerlustig zu sein. Weiterlesen

Juliane Diesner: „Mein Leben ist nicht so perfekt wie auf meinen Instagram-Bildern“ Weiterlesen

Anzeige