Foto: Markus Spiske I Unsplash

Würdet ihr eure Kinder in diesen (genderneutralen) Kindergarten schicken?

Genderneutrale Erziehung ist für manche Menschen ein Reizthema. Ein Blick in einen schwedischen Kindergarten lohnt, um zu verstehen, um was es dabei wirklich geht – Kritiker beruhigt das natürlich nicht.

In Schweden läuft immer alles besser

Kritiker, die gern das Wort „Genderwahn“ benutzen, kriegen wahrscheinlich schon automatisch Augenrollen, sobald „Schweden“ in Verbindung mit Geschlechtergerechtigkeit genannt wird. Denn dass in Schweden alles besser läuft in Sachen Vereinbarkeit und Gender-Equality, das muss einem hier ja nun wirklich nicht ständig unter die Nase gerieben werden.

Die harten Fakten: Beim „Global Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums, der das Niveau der Gleichstellung von Frauen und Männern und Frauen weltweit analysiert, rangiert Schweden derzeit auf Platz vier, davor stehen nur Island, Norwegen und Finnland. Deutschland folgt auf Platz 13, hinter beispielsweise Ruanda, den Philippinen und Burundi.

Jedenfalls: Schon 1998 hatte die schwedische Regierung Beschlüsse gefasst, die in Schulen und Kindergärten für eine geschlechtsneutralere Erziehung sorgen sollten, der traditionellen Stereotyposierung von Jungen und Mädchen im Bildungssystem etwas entgegensetzen sollten.

Wer bestimmt den Weg: Natur oder Gesellschaft?

Im Jahr 2011 dann eröffnete die Vorschullehrerin Lotta Rajalin mit einigen Kollegen ihren Kindergarten „Egalia“, es sollte ein Ort der Gleichheit sein, ein Ort, um eine Antwort zu geben auf eine uralte Frage, nämlich, ob die Natur oder die Gesellschaft (oder beide?) bestimmt, welchen Weg Mädchen und Jungen im Leben einschlagen, welche Rollen sie annehmen. Der Eröffnung von „Egalia“ folgte eine Welle des Hasses und der Empörung, das Auto von Lotta Rajalin brannte, sie erhielt Drohbriefe, internationale Medien berichteten.

Es sind auf den ersten Blick eher Kleinigkeiten, die einen Hinweis darauf geben, dass dieser Kindergarten anders ist: Spielzeug wird nicht getrennt voneinander aufgehoben, Puppen, Lastwägen, Dinosaurier, Schmuckbänder teilen sich die Aufbewahrungskörbe. In den Bücherregalen stehen eher keine Klassiker (keine  Märchen, in denen etwa Dornröschen oder Rapunzel von einem Prinz gerettet werden), sondern Neuerscheinungen, die sich mit Themen auseinandersetzen, die zu einer „normalen“ Kindheit heute dazugehören: Adoption und gleichgeschlechtliche Elternschaft zum Beispiel.

Er? Sie? Es!

Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit etwa des deutschen Kita-Personals sind die Mitarbeiter bei Egalia nicht nur weiblich, es wurden gezielt männliche Mitarbeitern eingestellt; es wird gezielt darauf geachtet, dass keiner der Erzieher und Erzieherinnen etwa den Jungs sagt, sie sollen sich nicht so anstellen, wenn sie sich wehgetan haben, oder den Mädchen verbietet, besonders wild und ungestüm zu sein. Genau das hatte nämlich Lotta Rajalin in früheren Studien, in den von ihr betreuten Einrichtungen beobachtet: Dass Erzieher und Erzieherinnen unterschiedliche Maßstäbe bei der Beurteilung des Verhaltens von Mädchen oder Jungen anwendeten.

Auch die Sprache wurde angepasst: Im Schwedischen gibt es neben den Personalpronomen „er“ (hon) und „sie“ (han) auch das neutrale „hen“, am ehesten mit dem deutschen „es“ zu übersetzen, mit dem Frauen und Männer, Jungen und Mädchen konsequent angesprochen werden.  Es ist nie von Jungen und Mädchen die Rede, sondern von „Freunden“.

Wenn zum Beispiel die Kinder beim klassischen Evergreen Mutter-Vater-Kind-Rollenspiel dazu ermuntert werden, auch mal andere Konstellationen auszuprobieren, dann soll das den Kindern ganz einfach aufzeigen, dass es in unserer Gesellschaft mittlerweile auch ein Zusammenleben jenseits der traditionellen Familienmodelle gibt, mit denen die Eltern in der Regel noch aufgewachsen sind.

Lotta Rajalin sagt, man wolle sich in ihrer Einrichtung in der Erziehung und im täglichen Umgang miteinander gegen das sozial konstruierte Geschlecht stemmen, aber nicht gegen das biologische. Die Kinder sollten ganz einfach mit dem Wissen aufwachsen, dass sie machen können, was sie wollen, und das nichts mit ihrem Geschlecht zu tun hat.

Werden Geschlechterunterschiede einfach verdrängt?

Allerdings kommen etwas in diesem Text in der „Zeit“ kritische Stimmen zu Wort: Erziehungsforscher, die das Konzept ablehnen, weil einfach auf Verdrängung gesetzt werde: Nur weil man nicht über das soziale oder biologische Geschlecht rede, würden Probleme und Ungleichheiten nicht verschwinden. Um Kinder auf die Herausforderungen des Lebens vorzubereiten, müsse man ihnen auch beibringen, mit Geschlechterunterschieden umzugehen – und nicht so tun, als gäbe es keine.

Die Verantwortlichen selbst sagen, sie seien gender-neutral und nicht gender-blind. Worauf sich alle einigen können werden: Wie Lehrerinnen und Erzieher mit Kindern sprechen und umgehen, prägt diese und ihre Einstellungen zu Gender-Fragen. Eine kleine Studie der Universität im schwedischen Uppsala kam zu dem Ergebnis, dass die Kinder aus der Egalia-Kita sehr wohl in der Lage waren, Geschlechtsunterschiede zu benennen, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit auch mit Kindern des anderen Geschlechts spielten und weniger geschlechterstereotypes Verhalten zeigten.

Wahrscheinlich wir jeder oder jede, die selbst Kinder im Kita-Alter haben, beobachten, wie schon Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren vor allem mit Spielpartnern des gleichen Geschlechts zu tun haben und Playdates ausmachen wollen. Spätestens in der Schule geht in vielen Klassen eine unsichtbare Linie durch das Klassenzimmer, Mädchen spielen mit Mädchen, Jungen mit Jungen, und erst einige Jahre später wird diese  Geschlechtertrennung dann so langsam wieder aufgeweicht. Das ist für Eltern frustrierend zu sehen – insofern müsste eigentlich jeder, der sein Kind zu einem offenen, nicht stereotypen Wesen heranziehen will, zumindest einige positive Aspekte in einer Einrichtung wie „Egalia“ sehen. Oder? Würdet ihr es begrüßen, wenn die Kita oder die Schule eurer Kinder mit einem derartigen Konzept daherkäme?

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