In ihrer Kolumne schreibt Camille Haldner über alles, was ihr auf den Keks geht. Dieses Mal: Die Auffassung, „zu früher“ Sex in der Datingphase wirke sich negativ auf die Verbindung zwischen zwei Menschen aus.
„Es soll natürlich jede*r machen, wie er*sie denkt, aber ich halte es für keine gute Idee, beim ersten Date mit jemanden ins Bett zu hüpfen, wenn ich ernsthaftes Interesse an der Person habe“, erzählte mir kürzlich eine Bekannte. „Weil du eine Person erst näher kennenlernen möchtest, bevor du dich wohl dabei fühlst, mit ihm*r intim zu werden?“, fragte ich zurück. „Nein, weil ich das Gefühl habe, dass die Verbindung, die beim Dating entstehen könnte, durch vorschnellen Sex unterbrochen wird.“
Auf meine Rückfrage, was denn „vorschneller“ Sex sei – folgte eine Antwort, die auch in der „Bravo“ stehen könnte: „Alles vor dem dritten Date.“ Warum sie das so sehe, konnte meine Bekannte dann lediglich mit „ist so ein Gefühl“ erklären. Diese Denkweise begegnet mir regelmäßig – auch bei Menschen, die sich als aufgeschlossen, modern und sex-positive bezeichnen. Die Auffassung, dass ein erstes Date inklusive Sex nicht die gleiche Wertigkeit hat wie eines ohne, scheint weitverbreitet.
Sex beim ersten Date = keine Beziehung?
Wenn ich „Sex beim ersten Date“ bei einer Suchmaschine eingebe, wird mir „keine Beziehung“ als Ergänzung vorgeschlagen. Ich ignoriere den Vorschlag und drücke Enter. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Zahlreiche Magazine wollen mir mittels Pro- und Kontralisten verraten, ob es sinnvoll ist, beim ersten Date Sex zu haben, was zahlreiche Studien dazu ergeben haben – und, na klar, wie Männer darüber denken.
„Ist diese Ablehnung von Sex beim ersten Date nicht einfach das Erbe eines jahrhundertealten ,Jungfräulichkeit‘-Kults, der den Wert einer weiblich gelesenen Person an ihrer sexuellen Unberührtheit festmacht?“
Je mehr ich mich mit diesem Thema auseinandersetze, desto stärker wird meine Vermutung, dass wir dieses diffuse Gefühl – wir sollten das Körperliche für die fortgeschrittene Phase des Kennenlernens aufsparen – patriarchalem Denken verdanken. Ist diese Ablehnung von Sex beim ersten Date nicht einfach das Erbe eines jahrhundertealten „Jungfräulichkeit“-Kults, der den Wert einer weiblich gelesenen Person an ihrer sexuellen Unberührtheit festmacht?
Lust und Lebensgeschichte, gerne parallel
Das Gebot, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten, gilt in großen Teilen der Gesellschaft als veraltet, und auch casual Sex° erfährt Akzeptanz – da sind die Erwartungen Außenstehender offenbar von Anfang an so niedrig, dass mensch sich diesem Thema gar nicht erst mit Wertvorstellungen nähert. Geblieben ist hingegen die Vorstellung, dass eine potenziell ernsthafte Verbindung an Wert verlieren könnte, wenn die körperliche Ebene parallel zum restlichen Kennenlernen verläuft.
Und das finde ich absurd. Denn: Ob ich Lust auf auf eine Person verspüre, merke ich in der Regel ziemlich schnell. Was deutlich mehr Zeit erfordert: Herausfinden, wie das Gegenüber sonst so drauf ist und was sie*er mitbringt. Das Innenleben, die politische Einstellung, das Verhalten gegenüber mir und anderen – all diese Dinge sind für mich ebenfalls ausschlaggebend bei der Frage, ob ich eine Person langfristig in meinem Leben haben will.
Warum sollten wir unsere Lust hinten anstellen und uns erst durch mehrere Dates quatschen müssen, bevor es körperlich werden darf? Es ist 2021 – und das sexuelle Verlangen weiblich sozialisierter Personen wurde lange genug totgeschrieben und -geschwiegen, eingeschränkt, verurteilt und bestraft.
Das Bauchgefühl ans Steuer lassen
Veralteten Wertvorstellungen, die dank unserer Sozialisierung noch immer in gewissen Ecken unseres Gehirns rumhängen, nachzugeben, tut nichts für uns und unser Date. Im schlechtesten Fall schafft es eine künstliche Barriere, die verfälscht, wer wir sind – und wie wir agieren. Das wäre schade, denn: Ob beim Dating eine tiefere Verbindung zu einem anderen Menschen entsteht, entscheiden am Ende nicht vermeintliche gesellschaftliche Normen, sondern einzig die beteiligten Personen.
„Unser Bauchgefühl sagt uns meist sehr deutlich, ob es eine gute Idee sein könnte, jemandem körperlich näher zu kommen – oder eben (noch) nicht. “
Wir sollten uns frei machen von gesellschaftlichen Vorstellungen über Dating und Sex, den Kopf etwas leiser drehen und unser Bauchgefühl ans Steuer lassen. Das sagt uns meist sehr deutlich, ob es eine gute Idee sein könnte, der anderen Person körperlich näher zu kommen – oder eben (noch) nicht.
„Die Dauer zwischen Kennenlernen und Sex – egal wie lang oder kurz – sagt nichts über das Beziehungspotenzial zwischen zwei Menschen aus.“
Die Dauer zwischen Kennenlernen und Sex – egal wie lang oder kurz – sagt nichts über das Beziehungspotenzial zwischen zwei Menschen aus. Das Einzige, was in meinen Augen über die Qualität eines Dates entscheidet, ist die Frage, ob die beteiligten Personen dabei Spaß haben – ganz egal ob bei Drinks am Bartresen oder intimen Berührungen im Bett.
Begriffsdefinition:
°Casual Sex: unverbindlicher Gelegenheitssex