Ungefragt das Aussehen von Menschen zu kommentieren, ist daneben.
„Wie kann man im Sommer so herumlaufen?“
Im Sommer füllen sich die Straßen und Cafés mit Menschen. In Parks und am See scheint die Zeit still zu stehen. Schweißperlen kitzeln auf der Haut, die salzig schmecken. Die Tage werden länger, die warme Luft macht träge, aber zufrieden. Es ist der Beginn einer der unbeschwertesten Zeiten des Jahres. Aber ist das für alle so?
Vor einigen Tagen, das Thermometer zeigte um die 30 Grad Celsius an, saß ich in der Straßenbahn. Da stieg eine blauäugige und blonde Person ein, Typ Geschäftsmann mit Hemd und Anzughose. Er setzte sich. Nennen wir ihn mal Jochen. Die dunkelhaarige Sitznachbarin von Jochen schüttelte den Kopf und sagte: „Wie kann man im Sommer eigentlich so herumlaufen? Ist Ihnen nicht zu heiß in der langen Hose? Das ist menschenfeindlich. Zwingt Sie jemand, sich so anzuziehen? Aus welchem Stoff ist eigentlich Ihr Hemd? Haben Sie Gel in den Haaren oder glänzen die vor Schweiß? Man, sind Sie schon rot!“ Die anderen Bahngäste nickten bestätigend. Jochen versteckte das Gesicht hinter seiner Aktentasche. Ihm war es sichtlich unangenehm, von allen angestarrt zu werden.
Die selbsternannten Verteidiger*innen des normierten deutschen Sommerkörpers
Ja okay, ich gebe es zu, diese Episode ist frei erfunden. Denn der Sommer ist zwar die Jahreszeit, in der grenzüberschreitende Blicke und Sprüche Menschen gleichsam wie Mücken von allen Seiten herbeischwirren. Doch kommentiert werden meist Körper, die als nicht männlich gelesen werden oder von der mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellung von Normkörpern abweichen. Diese sind weiß, dünn und leicht gekleidet – und natürlich mit der Sonne um die Wette strahlend.
Jegliche Kommentare, außer Komplimente, in Bezug auf meine Kleidung sind anmaßend, bemutternd und paternalistisch. Als wäre ich ein Kind und wüsste nicht, wie man sich anzieht.
Die Krux dabei: Frauen zum Beispiel können es diesen selbsternannten Verteidiger*innen des normierten deutschen Sommerkörpers einfach nicht recht machen. Zu dünn sollten sie nämlich auch nicht sein, da sieht man ja schon die Rippen unter dem Bikini! Zu blass ist auch nicht gut. Und Achtung, wenn der Minirock zu kurz ist, könnten es Umherstehende als eine falsche Einladung zu was auch immer verstehen.
„Jegliche Kommentare, außer Komplimente, in Bezug auf meine Kleidung sind anmaßend, bemutternd und paternalistisch. Als wäre ich ein Kind und wüsste nicht, wie man sich anzieht“, schrieb mir eine Leserin, nachdem ich in den sozialen Medien nach Erfahrungen gefragt hatte, die Hijab tragende Frauen mit nervigen Sprüchen im Sommer machen. Für manche Menschen ist die heiße Jahreszeit, in der Körper so fixiert werden, wie zu keiner anderen der Höhepunkt des immer währenden Rechtfertigungsmarathons, warum sie so aussehen, wie sie aussehen.
Der ungeschlagene Klassiker der nervigsten Sprüche: „Ist dir nicht zu heiß unter dem Tuch?“
Warum diese Art von Kommentaren ausgrenzend ist, versteht man vielleicht, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, wen es in der Regel erwischt und wen nicht. Ich habe noch nie mitbekommen, dass ein Jochen im Anzug in der Öffentlichkeit negativ auf sein Äußeres angesprochen wurde. Ganz im Gegenteil etwa zu Frauen mit Hijab. An sie wird zwar nicht nur im Sommer die Erwartung formuliert, sich für ihre vermeintliche Andersartigkeit erklären zu müssen. Doch gerade in diesen Monaten würden sich angeblich nett gemeinte Ratschläge häufen, berichteten mir manche. Alle scheinen eine Meinung zu ihrer Kleidung zu haben. Der Haken: Niemand hat um diese gebeten.
Die Frage, ob mir zu heiß ist, stellen also meiner Erfahrung nach Menschen, die sowieso kaum eine Temperatur über 20 Grad stillschweigend aushalten würden, ohne zu fächern oder zu jaulen.
Die Frauen, die auf meine Frage nach den nervigen Sprüchen antworteten, sind sich einig: Der Satz „Ist dir nicht zu heiß unter dem Tuch?“ ist der ungeschlagene Klassiker. Meistens würde diese vermeintliche Interessensbekundung nicht einmal als Frage formuliert werden. Wenn überhaupt, dann als rhetorische: „Wie hältst du das bloß aus?“
Eine junge Frau namens Evin schrieb mir, dass es in Deutschland eine Art Volkssport sei, sich über das Wetter zu beklagen. „Die Frage, ob mir zu heiß ist, stellen also meiner Erfahrung nach Menschen, die sowieso kaum eine Temperatur über 20 Grad stillschweigend aushalten würden, ohne zu fächern oder zu jaulen. Der Hijab ist der absolute Endgegner dieser ohnehin dauerüberhitzten Personen.“
Dann kamen auch Sprüche wie ‚Wer sagt überhaupt, dass Frauen Kopftuch tragen müssen‘.
Und oftmals bleibe es auch nicht bei dieser vermeintlich nett gemeinten Frage, sondern das Gegenüber taste sich langsam an die üblichen Ressentiments heran. Dazu erzählte mir ebenfalls Evin: „Ich arbeite als Verkäuferin und musste mir von Kund*innen vor allem letzten Sommer vieles anhören. Natürlich kam am häufigsten die Frage, ob es nicht zu warm sei. Das empfand ich nicht immer als diskriminierend, da ich davon ausging, dass sie das einfach nicht kennen und bei der Hitze erstaunt sind, wie ich das aushalte. Leider kam es einige Male dazu, dass man mir gesagt hat, dass ich mir sowas nicht antun müsse. Dann kamen auch Sprüche wie ‚Wer sagt überhaupt, dass Frauen Kopftuch tragen müssen‘. Somit wurde ich als naives, zurückgebliebenes Mädchen dargestellt. Gleichzeitig waren sie dann aber schockiert, wenn ich deutlich und ohne Akzent Deutsch gesprochen habe.“
Eine Frau, die anonym bleiben möchte, schrieb mir in einer Nachricht: „Meine Sommererkenntnis 2019: Je heller die Stoffe meiner Kleidung sind, desto weniger muss ich den wandelnden Thermometer spielen und Fragen nach dem guten Wetter und der Temperatur beantworten.“
Sommermode gibt es auch für Menschen, die sich konservativer kleiden
Eigentlich sollte es niemanden überraschen, dass Frauen, die Hijab tragen oder sich konservativer kleiden, auch ihre vielfältigen Methoden haben – ebenso vielfältig wie ihr Kleidungsstil –, mit den warmen Temperaturen umzugehen. Immerhin ist das ihre Lebensrealität. Und in dieser sind sie die Expert*innen. Eine davon ist die Modedesignerin Naomi Afia. In der Nähe von Köln aufgewachsen, zog sie vor sechs Jahren nach Wien. Neben einem Publizistikstudium schloss sie im Sommer 2018 auch eine Ausbildung in Mode und Design ab.
„Auch wenn mich die Frage, ob mir nicht zu heiß sei, heute selber nervt, muss ich zugeben, dass ich vor ein paar Jahren selber jemand war, die Hijabis im Sommer mitleidig gemustert hat“, erzählt sie. Heute frage sie sich hingegen, wie sie es damals in Leggings oder engen Tops ausgehalten habe. „Ich kann nicht anders, als in weiter, lockerer und dünner Kleidung den Sommer zu genießen.“ In Hamburg, wo sie zuletzt lebte, habe sie am liebsten Abaya getragen, ein bodenlanges, langärmliges Kleid, das locker fällt. In Wien sei es schwieriger, solche Modelle zu finden. „Hier greife ich gerne auf lockere Hosen mit breitem Gummizug und Tuniken zurück. Lagenlook ist weniger zu empfehlen, je mehr Schichten desto beengender.“
Geeignete Stoffe und Schnitte für sie zu finden, sei gar nicht so schwer, Modest Fashion liege im Moment sehr im Trend. Ihren Kund*innen, mit oder ohne Hijab, konservativ gekleidet oder nicht, empfehle Naomi Afia grundsätzlich, aber vor allem für heiße Tage, Naturfasern wie Leinen, Baumwolle oder Viskose. „Letzteres ist zwar regenerierte Cellulose, also keine Naturfaser, aber super angenehm zu tragen. Was nicht für jede Person was ist, aber auch gut: Seide. Dieser Stoff ist natürlich kostspieliger und nicht vegan, also ethisch vielleicht nicht für jede Person tragbar.“
Diese Ratschläge wären vielleicht auch was für den fiktiven Jochen.
Der Originaltext von Seyda Kurt ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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