Als Sonja* 12 Jahre alt war, passte manchmal ein Nachbar auf sie auf. Er nutzte die Situation aus und missbrauchte sie. Erst Jahre später gelingt es ihr mithilfe einer Therapie, das Trauma zu verarbeiten.
*Trigger-Warnung: Die folgende Reportage enthält die Schilderung einer Vergewaltigung und der dadurch erlittenen Traumatisierung des Opfers.
Sexueller Missbrauch in den eigenen Reihen
Der Mann, der Sonja missbrauchte, wohnte vier Häuser weiter. Er war ein Bekannter, Anfang 60, hatte graue Haare, war groß und kräftig. Er lud zu Grillfesten in seinem Garten ein, war selbst verheiratet und hatte Enkelkinder. Etwa einmal im Monat, wenn Sonjas Eltern länger weg waren und ihre älteren Geschwister nicht zu Hause waren, passte er auf sie auf. „Ich hab immer an Käpt’n Blaubär gedacht, wenn ich ihn gesehen hab“, erzählt die heute 30-Jährige. „Er hat mir nie Angst gemacht.“
Genau das sei typisch, sagt Katharina Vorwald-Karle vom Verein Wildwasser Stuttgart. Die Sozialpädagogin leitet die Beratungsstelle für Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden. „Die Täter*innen haben meist den Ruf, gut mit Kindern zu können und sozial zu sein“, sagt sie. Zudem: „Sie gehen meist erstaunlich ähnlich vor.“ Es beginnt mit der sogenannten Grooming-Phase, in der die Täter*innen den Missbrauch planen. Sie prüfen, wie weit sie gehen können. Dieser Zeitraum kann sich über Jahre ziehen.
Erotikfilme und Pornoheftchen
Bei Sonja beginnt ihr Nachbar damit, als sie etwa 12 Jahre alt ist. Meist klingelt der Mann abends an ihrer Haustür und sie verbringen die Zeit anschließend gemeinsam in ihrem oder in seinem Haus. „Er hat über meine Hausaufgaben geschaut, wir haben was gelesen oder zusammen ferngesehen“, sagt Sonja. Eines abends liegen sie auf der Couch, plötzlich schaltet er einen Erotikfilm an, der im Fernsehen lief. Sonja erinnert sich, dass sie ihn damals fragte, ob er umschalten könnte. Er habe geantwortet: „Nee, es läuft nichts anderes.“ An einem anderen Abend beginnt er, ihr Pornohefte zu zeigen. Sie sagt: „Ich will das nicht sehen.“ Er sagt: „Jetzt schau da hin, das ist doch schön.“
„Die Täter*innen schauen, ob sich die Kinder wehren und gehen dann Schritt für Schritt weiter.“ –Sozialpädagogin Katharina Vorwald-Karle
Ihren Eltern erzählt sie nichts von diesen Erlebnissen. „Es war mir peinlich“, erklärt sie. Auch das ist typisch für Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, sagt Vorwald-Karle. Weil die Täter*innen häufig aus dem nahen sozialen Umfeld kommen, trauen sich die Betroffenen nicht oder sie können nicht richtig einordnen, was überhaupt mit ihnen passiert. „Die Täter*innen schauen, ob sich die Kinder wehren und gehen dann Schritt für Schritt weiter“, sagt Vorwald-Karle.
Für den Nachbarn war der nächste Schritt, Sonja zu berühren. Zunächst so, als ob es rein zufällig passiert wäre. Wenn sie etwas aus dem Schrank holt, steht er hinter ihr und streift ihren Po oder ihre Brüste. Ein anderes Mal soll sie mitkommen, als er mit seinen Enkelkindern zum Reiten will. Sie will sich umziehen und bittet ihn, den Raum zu verlassen. Er antwortet: „Nee, ich hab doch auch Töchter, ich kenne das doch“, und sieht ihr zu.
„Das ist doch schön“
Etwa drei Jahre nach seinen ersten Annäherungsversuchen verbringt Sonja wieder einen Abend in seinem Haus. Sie ist mittlerweile 15 Jahre alt. Als sie aufsteht und etwas aus dem Schrank holen möchte, steht er plötzlich hinter ihr. Mit dem linken Arm umfasst er ihren Hals und hält sie wie im Schwitzkisten. Mit der rechten Hand begrapscht er zunächst ihre Brüste, dann gleitet seine Hand in ihren Slip. Immer wieder sagt sie: „Hör auf, ich will das nicht!“ Doch er antwortet: „Das ist doch schön!“ und zieht sich seine Hose runter, beginnt abwechselnd an ihr herumzufummeln und sich einen runterzuholen.
„Ich war komplett verstört.“ – Sonja
Nach einer Zeit, die Sonja wie eine Ewigkeit vorkommt, klingelt es an der Tür. Ihre Eltern. Rasch zieht er sich die Hose hoch und zischt ihr zu: „Wenn du jetzt was sagst, bekommen wir beide ein dickes Problem.“ Und tatsächlich schweigt Sonja zunächst. „Ich war komplett verstört“, sagt sie. Ihre Eltern erkennen ihre Tochter kaum wieder, sie spricht fast gar nicht mehr, wirkt apathisch und steht neben sich. Auf Nachfragen sagt sie nur, dass alles okay sei. Auch dieses Verhalten ist Vorwald-Karle bekannt. Die Täter*innen setzen die Kinder unter Druck, nehmen sie in Komplizenschaft. Die Betroffenen fürchten, dass ihnen niemand glauben könnte oder, dass der*die Täter*in, der ja ein*e Bekannte*r ist, Probleme bekommen könnte. „Dazu kommt, dass die Betroffenen sich oft schuldig fühlen, weil sie nicht ‚Nein‘ gesagt haben oder die Täter*innen reden ihnen ein, dass sie es ja auch gewollt hätten“, sagt Vorwald-Karle.
Sie versucht, das Erlebte zu verdrängen
Nach zwei Wochen hält sie es nicht mehr aus und erzählt ihrer Schwester alles. Die Familie kommt zusammen und bespricht, wie sie damit umgehen soll. „Meine Eltern waren total wütend. Sie wollten sofort zur Polizei“, erzählt Sonja. Doch sie lehnt ab. Sie möchte dem Mann nicht mehr begegnen und fürchtet, dass die Nachbarschaft über sie sprechen und sie als Opfer dastehen würde. Nach Diskussionen einigt sich die Familie, es so zu handhaben, wie Sonja es sich wünscht. „Meine Eltern waren sehr verständnisvoll“, sagt Sonja.
Zwei Wochen nach der Tat steht ein schon geplanter Umzug ans andere Ende der Stadt an. Und so bricht der Kontakt der Familie zu dem Mann ab. Einmal begegnet die Mutter dem Mann zufällig in der Stadt, sagt zu ihm „Du Schwein“, doch viel mehr passiert nicht. So vergehen Tage, Monate, Jahre. Zu Hause geht die Familie offen mit dem Thema um. Ihre Eltern sagen zu Sonja: „Du kannst immer zu uns kommen, wenn du möchtest, aber du musst über nichts sprechen, wenn du nicht willst.“ Sie spürt, dass sie sich Vorwürfe machen. Sie fragen sich, ob sie hätten ahnen können, was der Nachbar im Schilde führt. Es belastet Sonja, dass ihre Eltern sich Vorwürfe machen.
Gleichzeitig kommt sie selbst nicht zur Ruhe. Sie fühlt sich ohnmächtig und hilflos, versucht das Thema zu verdrängen. Beim Einschlafen fürchtet sie sich vor Albträumen, in denen er auftaucht. Wenn der Vater einer Freundin sie alleine nach Hause fahren möchte, bekommt sie Herzrasen und sucht nach Ausreden, um nicht alleine mit ihm im Auto sitzen zu müssen. Um zu vergessen, betrinkt sie sich fast jedes Wochenende. „Ich habe richtig viel gesoffen“, sagt sie. Sonja spürt auch, dass sie nicht damit abschließen kann. Wieso muss sie leiden und er geht unbescholten durch sein Leben?
Sie malt sich aus, zu seinen Töchtern und Enkelkindern zu gehen und ihnen zu erzählen, was ihr Vater und Opa getan hat. „Doch ich hatte nicht den Mumm. Was, wenn sie mir nicht geglaubt hätten?“ In ihr wächst das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Irgendwann wird es so groß, dass sie beschließt, etwas zu unternehmen.
Er schweigt
Sie geht zur Polizei. Alleine, ohne ihren Eltern etwas davon zu sagen. Seit der Tat sind fast zwei Jahre vergangen. „Das war sehr schwer für mich, weil ich Angst hatte, dass man mir nicht glaubt“, sagt Sonja. Doch auf der Wache sind alle Polizist*innen verständnisvoll. Eine Polizistin nimmt sich viel Zeit für sie, hört sich alles an. Direkt, nachdem Sonja bei der Polizei war, erzählt sie ihren Eltern davon. Sie unterstützen und ermutigen sie. Einige Wochen später kommt Post von der Staatsanwaltschaft. Auch hier nimmt man sie ernst, fragt aber auch, ob sie beweisen könne, was damals vorgefallen sei. Sonja hat Tagebücher aus dieser Zeit, aber das ist auch schon alles. Die Staatsanwalt bittet auch den damaligen Nachbarn auszusagen. Er weigert sich.
„Ich hatte Angst, dass mir die Polizei nicht glaubt.“ – Sonja
Knapp ein Jahr nachdem sie bei der Polizei ausgesagt hat, erhält Sonja erneut Post von der Staatsanwaltschaft. Die stellt das Verfahren ein – aus Mangel an Beweisen.
„Das war für mich ein ganz schlimmer Moment“, sagt sie. Tagelang weint sie fast ununterbrochen, dann legt sich plötzlich ein Schalter in ihr um. „Irgendwann hab ich mir gesagt: ‚Ich gehe jetzt meinen eigenen Weg‘.“ Doch sie merkt, dass sie es alleine nicht schafft und beschließt darum, nach einer Therapeutin zu suchen.
Wo sind meine Grenzen?
Zwei Jahre lang lässt sie sich therapeutisch helfen. Zunächst lernt sie, sensibel zu werden für Situationen, in denen sie sich unwohl fühlt, auf sich zu hören und ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Noch immer fürchtet sie sich vor Situationen, in denen sie alleine mit alten, grauhaarigen Männern ist. Wenn sie zum Beispiel weiß, dass sie an der Uni ein Gespräch mit einem Professor hat, der alt ist und graue Haare hat, bekommt sie schon Tage davor Bauchkrämpfe und Herzrasen. Mit der Therapeutin sucht sie nach Wegen, solche Situationen anders zu lösen. Reicht nicht ein Telefonat, könnte die Sekretärin das Problem vielleicht lösen und das Treffen ist gar nicht nötig?
Sie lernt auch, ihre Grenzen zu verteidigen, die ihr damaliger Nachbar ständig missachtete und überschritt. Schritt für Schritt gewinnt sie Selbstvertrauen. Wenn ihr etwas zu viel wird oder sie sich unwohlfühlt, sagt sie es sofort. „Ich gehe soweit, wie ich mich wohlfühle und dann sage ich ‚Nein’“, sagt sie. Und dieses Nein akzeptieren die anderen.
„Ich bin ein besserer Mensch als du“
Als sie im Studium ihren jetzigen Mann kennenlernt, muss sie sich erneut mit dem Missbrauch auseinandersetzen. Schon bald erzählt sie ihm, was in ihrer Jugend vorgefallen ist. Er versteht, warum sie sich unwohl fühlt, wenn er und seine Freunde auf eine Berghütte wollen und sie nicht mitkommen möchte. „Ich fühle mich da beengt“, sagt sie. Er sagt ihr, dass sie beim Sex sagen soll, wenn sie etwas nicht möchte. „Bis jetzt kam es noch nicht vor, aber wenn ich die Kontrolle abgegeben müsste, könnte ich es nicht“, sagt sie. Sie erzählt, dass er sehr verständnisvoll mit dem Thema umgeht. „Da wusste ich, dass er der Richtige ist“, sagt Sonja.
Heute sagt Sonja, dass sie ein gutes Leben führt. Verheiratet, ein fester Job, vielleicht bald Kinder. Der Weg dorthin war nicht einfach für sie. Dank der Therapie ist es ihr gelungen, ihre Angst und ihre Wut in etwas Positives zu wandeln. „Es hat mich zu einem stärkeren Menschen gemacht“, sagt sie. 15 Jahre nach dem Missbrauch kann sie mit den Vorfällen aus ihrer Kindheit abschließen. Der Missbrauch werde immer Teil ihres Lebens bleiben, sagt sie, „aber ich gönne diesem Mann nicht, dass ich nicht selbstbestimmt lebe.“
„In diesem Fall heilt die Zeit keine Wunden.“ – Sozialpädagogin Katharina Vorwald-Karle
Frauen, die Ähnliches erlebt haben, rät Sonja, sich unbedingt Hilfe zu holen. „Man kann so einen Vorfall nicht alleine stemmen“, sagt sie. Und auch Vorwald-Karle erklärt: „In diesem Fall heilt die Zeit keine Wunden.“ Es handele sich um Traumata, die man alleine nicht in den Griff bekommen könne.
Bis heute wissen nur ihr Mann, eine Freundin, ihre Familie und ihre damalige Therapeutin vom Missbrauch. „Ich will keinen Makel haben und will normal wahrgenommen werden“, sagt Sonja. Über ihren damaligen Nachbarn sagt sie: „Ich habe gelernt, damit zu leben und das Beste aus mir zu machen. Ich bin ein besserer Mensch als er.“
*Name von der Redaktion geändert
Anlaufstellen
Der Verein Wildwasser bietet Erwachsenen Hilfe an, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erfahren haben. Auf dieser Webseite kann man die zuständige Landesstelle finden.
Die Bundesregierung hat ein Amt für die Anliegen von Betroffenen und deren Angehörigen eingerichtet. Auf der Webseite des Unabhängigen Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs finden sich Zahlen, rechtliche Hintergründe und die Nummer des kostenlosen bundesweiten Hilfetelefons: 0800 / 22 55 530.
Anzeige: Ja oder Nein?
Viele Betroffene wünschen sich eine Verurteilung des*r Täter*in. Oftmals sind die Taten jedoch verjährt, wenn Menschen sich in der Lage fühlen anzuzeigen, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. Er ist Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Aber auch, wenn sie nicht verjährt sind, geht eine Anzeige nicht immer zufriedenstellend für Betroffene aus. Vielfach werden Täter*innen, wenn sie Ersttäter*innen sind und ein Geständnis ablegen, auf Bewährung freigelassen. Außerdem ist das Strafverfahren für Betroffene oft sehr belastend. Beispielsweise kann eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung für den*die Betroffene*n retraumatisierend sein, insbesondere, wenn es Gutachter*innen oder Richter*innen an Wissen über Missbrauch, seine Folgen für Betroffene und Täter*innenstrategien fehlt.
„Wir empfehlen, vor einer Anzeige mit einer spezialisierten Fachberatungsstelle Kontakt aufzunehmen und sich dort beraten zu lassen“, sagt Rörig. Seit dem 1. Januar 2017 haben besonders schutzbedürftige Opfer – insbesondere Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten geworden sind – zudem einen Anspruch auf professionelle Begleitung und Betreuung während des gesamten Strafverfahrens, die sogenannte psychosoziale Prozessbegleitung.
Der Originaltext von Manuel Bogner ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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