Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Josephine Apraku, die ihren letzten Text im Jahr 2019 zusammen mit ihrer Kollegin Jule Bönkost geschrieben hat.
Die Sprachpolizei treibt ihr Unwesen
Seit vor einigen Monaten die Sprachpolizei als offizielles Organ des Staates institutionalisiert wurde, ist eine düstere Zeit angebrochen. Die Straßen innerhalb der bundesdeutschen Grenzen versinken in bleierner Einsamkeit – die wenigen Menschen, die sich in diesen Tagen vor die Tür wagen, schweigen, den Blick starr gen Boden gerichtet. Schnellen Schrittes versuchen sie ihr Ziel zu erreichen – weg von den Straßen, bloß weg von den Straßen. Sie haben Angst davor, etwas Verfängliches von sich zu geben, etwas, das neuerdings gesetzeswidrig ist. Denn auf der Straße lauert Gefahr: Die Sprachpolizei holt täglich viele Menschen ab, so viele, dass die Mietshäuser hohläugige Ruinen sind, in denen abends kaum ein Licht mehr brennt. Es werden so viele Menschen inhaftiert, dass das zentrale Amtsgericht für kriminelle Sprachhandlungen im Eilverfahren Verurteilungen für die Abertausenden in Untersuchungshaft abarbeitet. Überall im Land sind Plakate angeschlagen, die die Bevölkerung über die rechtlichen Neuerungen und die Konsequenzen der Nicht-Einhaltung informiert. Sachdienliche Hinweise, die die Strafverfolgung krimineller Sprachhandlung erleichtern.
Als Referent*innen der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit haben wir oft den Auftrag, ein Lernangebot zum diskriminierungskritischen Umgang mit Sprache zu schaffen. Immer wieder wird uns dann unterstellt, als Sprachpolizei zu fungieren, die bestimmte Begriffe und Sprechweisen verbietet. Als wollten wir den Sprachgebrauch der Teilnehmenden kontrollieren. Ein typisches Beispiel dieser Art der Abwehr war im Oktober im Spiegel zu lesen, der Autor hatte einen unserer Workshops besucht. Um die Gemüter zu erhitzen, genügt oft schon ein Hinweis auf Selbstbezeichnungen als Alternative zu den noch immer gängigen diskriminierenden Fremdbezeichnungen. „Man darf ja gar nichts mehr sagen“, hören wir öfters – und das ist noch eine vergleichsweise harmlose Reaktion. Vergleichbar groß ist die Abwehr, wenn wir den Begriff „weiß“ vorstellen.
Es gibt doch keine „Rassen“!
Insgesamt geht die Beschäftigung mit rassismuskritischer Sprache mit viel Abwehr einher: Häufig erklären uns Teilnehmer*innen unserer Workshops, dass sie anderer Meinung seien und der Begriff „weiß“, genauso wie die Selbstbezeichnungen „Schwarz“ und „People of Color“, selbst rassistisch seien. Schließlich gebe es keine „Rassen“. Und sowieso, behaupten einige der Teilnehmenden von sich, würden sie alle Menschen gleich behandeln. Folglich seien wir, die Referentinnen, mit diesem Ansatz das Problem. Diese meist emotionale und vehemente Abwehr, gepaart mit dem Vorwurf der Sprachpolizei und der Verharmlosung sprachlicher Gewalt, gilt dabei nicht einzelnen Wörtern, wie „weiß“ oder Selbstbezeichnungen. Sie bezieht sich auf die Rassismuskritik, die den Begriffen innewohnt und immer auch eine unbequeme kritische Reflexion der eigenen Verstrickung herausfordert.
Um den diskriminierenden Status Quo herauszufordern, müssen wir ihn thematisieren. Hierfür benötigen wir eine Sprache, mit der wir benennen können, wer ausgeschlossen und benachteiligt wird und wer nicht. Dazu gehört der Begriff „weiß“.
- „Weiß“ ist keine Selbstbezeichnung, sondern eine kritische Analysekategorie. Das soll seine Kursivsetzung anzeigen. Der Begriff beschreibt eine von Rassismus geschaffene soziale Position, die sich durch Vorteile gegenüber Schwarzen Menschen und People of Color auszeichnet. Er meint also keine biologische ,Rasse’ oder ,Hautfarbe’. Weiß zu sein heißt, mehr Macht zu besitzen als Schwarze Menschen und People of Color, die im Hinblick auf Rassismus Benachteiligung und Ausgrenzung erfahren. Es wird in diesem Zusammenhang auch von weißen Privilegien gesprochen.
Eine „farbenblinde“ Haltung bringt uns nicht weiter
Wer für sich beansprucht, „keine Unterschiede zwischen den Menschen zu sehen“, verleugnet dieses ungleiche Machtverhältnis und verschleiert damit Rassismus. Mit einer solchen „farbenblinden“ Haltung ist der rassistische Status Quo nicht veränderbar – vielmehr wird er bestätigt. Hingegen hilft der Begriff „weiß“, Rassismus aufzudecken. Das gleiche gilt für Selbstbenennungen.
Auch die Selbstbezeichnungen „Schwarz“ und „People of Color“ sind als Reaktionen auf Rassismus entstanden. Es handelt sich um politische Begriffe, mit denen sich Menschen gegen rassistische Diskriminierung positionieren. Auch sie meinen also keine biologischen Kategorien, sondern beschreiben ebenfalls Positionen, die dem Rassismus entspringen. Mit ihnen ist außerdem nicht der Anspruch verbunden, dass alle Personen, die mit den Begriffen mitgedacht werden, diese Selbstbezeichnungen für sich selbst verwenden. Die Ausdrücke sind zwei bekannte Beispiele für eine eine Reihe von rassismuskritischen Selbstbezeichnungen von Menschen mit Rassismuserfahrung.
- Der Begriff „Schwarz“ meint keine „Hautfarbe“. Er verweist auf eine bestimmte geteilte Rassismuserfahrung, die ein Widerstandspotential in sich birgt. Das Adjektiv wird groß geschrieben, um dies auszudrücken. In Deutschland hat die Pädagogin und Aktivistin May Ayim den Begriff in den 1980er-Jahren eingeführt. Sie prägte ihn in dem von ihr zusammen mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegebenen Buch „Farbe bekennen – Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (1986).
- Der Begriff „People of Color“ ist ein solidarischer Begriff, der alle Menschen mitdenkt, die Rassismuserfahrungen machen – unabhängig davon, wie unterschiedlich diese ausfallen mögen. Weil Rassismus ein System ist, das teilt, um zu herrschen, soll der Begriff dieser Spaltung von Menschen etwas entgegensetzen. Oft wird „People of Color“ kursiv geschrieben, um diese Bedeutung zu markieren. Obwohl die Selbstbezeichnung während der Bürger*innenrechtsbewegung der 1960er-Jahre in den USA geprägt wurde, wird sie auch in Deutschland benutzt. Da es sich um eine Selbstbezeichnung handelt, wird der Begriff nicht ins Deutsche übersetzt. Die Selbstbezeichnung „People of Color“ ist nicht zu verwechseln mit der Fremdbezeichnung „Farbige“ beziehungsweise „colored people“. Diese Fremdbezeichnungen sind zwei Beispiele für rassistische Begriffe, mit denen die rassistische Ordnung fortbesteht.
Sprache als Machtinstrument
Sprache schafft Realitäten. Deshalb ist es wichtig, aufzuzeigen, wie rassistische Diskriminierung Sprache als Werkzeug benutzt, um rassistische Weltbilder zu transportieren und rassistische Wirklichkeit zu schaffen. Ein verkürztes ,richtig/falsch’-Denken ist hierfür nicht hilfreich. Vielmehr geht es darum, wahrzunehmen, dass Sprache als Machtinstrument gewalttätig sein kann. Welche Sprache wir letztendlich benutzen, müssen wir für uns selbst entscheiden. Wir haben tagtäglich die Wahl, ob wir mit unserer Sprache Rassismus kritisieren oder festigen wollen. Manche Menschen müssen dann unter Umständen mit dem Hinweis leben, dass sie rassistische Sprache verwenden und damit Rassismus verfestigen. Denn eine Sprachpolizei gibt es nicht.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).