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„Mach dich klein, sei still, verschwinde“: Wer Frauen pathologisiert, muss sich nicht mit ihren Forderungen beschäftigen

Wer bestimmt, wer mitreden darf – und in welcher Form? In dieser Woche geht es in der Thirtysomething-Kolumne unserer Autorin Silvia Follmann um die Frage, warum es für Frauen immer noch nicht selbstverständlich ist, gesellschaftliche Räume einzunehmen.

Die alte Leier von der hysterischen Frau klingt nicht mehr

Ich sitze mal wieder mit einigen Frauen im Restaurant, es wird leidenschaftlich diskutiert. Auf einmal schaltet sich ein Mann vom Nebentisch ein: „Wenn ihr so hysterisch seid, hört euch sowieso niemand zu.“ Ich muss lachen. Die volle Klischeekiste fährt ein und Flashbacks zu diversen Meetings rauschen hinterher – oder war es nur wieder die üblichen Diskussionen auf Twitter? Hach, wer weiß das schon, der ungefragte Dude als Grundrauschen im eigenen Leben. Hey Mann, klar, nimm dir den Raum, um dich einzuschalten, du hast schließlich gelernt, deine Meinung zählt. Immer.

Aber zusätzlich zum Mansplaining waren wir, langweiligerweise, auch wieder bei der alten Leier: Leidenschaftlich zu diskutieren oder sich für eine Sache einzubringen wird bei Frauen schnell als Hysterie ausgelegt, als unkontrollierte Wut, die sich unsachlich den Weg bahnt, während bei Männern höchstwahrscheinlich ihr leidenschaftlicher Einsatz für ein Thema nicht gleich pathologisiert worden wäre. Nein, Wut steigert sogar die Macht von Männern, wie eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, während sie Frauen schadet. Auch so sieht eben einer der vielen Versuche aus, Frauen stumm zu machen und sie kleinzuhalten. Wütende, sichtbare, wortstarke Frauen machen Angst vor Machtverlust. Und das macht es umso wichtiger, sich von den Hysterie-Rufer*innen nicht den Raum nehmen zu lassen, sondern ihn zu beanspruchen und auszuweiten – bis sich etwas ändert. Bis es für Frauen wirklich selbstverständlich wird, sich einzuschalten – und das nicht nur mit einem stillen Nicken.

Kümmer-Gen? Netter Versuch!

Und das muss in den Köpfen aller Seiten ankommen. Denn viele Frauen lernen noch immer nicht von klein auf, das zu tun („Sei lieb und nett, komm, die Klügere gibt nach“): Der Raum, sich konstruktiv, kritisch und ja, auch lautstark einzubringen, muss für alle da sein, diesen Raum muss man sich nehmen dürfen. Auch wenn es sich vielleicht zunächst unangenehm anfühlen mag, denn man könnte ja jemandem auf den Schlips treten. Frauen haben schließlich das Kümmer-Gen in sich, sagt man. Sie sollten sich sorgen, behüten, Raum schaffen statt ihn zu nehmen. Eine Aufgabenaufteilung, die sich für andere auszahlt. Aber nein, Frauen sind nicht für das Wohlgefühl anderer zuständig. Nicht dafür da, ständig den Schritt zurück zu machen, um die Harmonie im Zimmer nicht ins Wanken zu bringen. Unbequemlichkeit ist nicht so übel, wie es ihr gerne zugesprochen wird. Zumindest fernab vom Leistungsgedanken, da sollen wir natürlich alle aus der Komfortzone raus, die Ärmel hochkrempeln, nach vorne gehen und uns selbst überwinden, immer weiter. Aber gesellschaftlich? Puh, da bleib bei deinen Leisten, Schuster*in!

Wie wenig selbstverständlich Raum einzunehmen für Frauen ist, zeigt sich täglich im öffentlichen und digitalen Raum. An Politiker*innen, an Klima-Aktivist*innen, an Feminist*innen und auch besonders an Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören und denen erschütterte Menschen gegenüberstehen, erschrocken über die „plötzliche“ Teilnahme jener an (politischen) Debatten. Der Reflex ist meist der gleiche: schnell wieder versuchen, sie niederzureißen, zu diskreditieren. Sie stumm zu machen. Ihnen den Raum zu nehmen. Die Teilhabe am „Raum“ hat ihre Gatekeeper, die bei allen Menschen zusammenzucken, deren Meinung, Haltung, Sein und Leben das ins Wanken bringt, an was die alten Geister sich so verzweifelt festhalten wollen. Die unbequem in das reinwirken, in dem man es sich so gemütlich gemacht hat. Die aus dem Ist-Zustand von einer Handvoll Wortführer*innen auf einmal eine Gemengelage machen, die manche zu fürchten scheinen. Was am Ende aber nichts anderes ist als die Abbildung unsere Gesellschaft, und die ist eben vielfältig. Get over it. Ach ja, geht ja nicht. Denn das würde ja Machtverlust bedeuten.

Frauen mit sich selbst beschäftigt halten als System

Die fehlende Selbstverständlichkeit für eine Frau, Raum einzunehmen, zeigt sich ja selbst an der Wertung der Statur von Frauen oder jenen, die als solche gelesen werden. Etwa an großen Frauen, die manch kleinen Mann immer noch unbehaglich fühlen lassen. Warum eigentlich, weil sie einen größeren Schatten werfen könnten? Oder dicken Frauen, deren körperliche Präsenz einige Menschen offensichtlich genauso kirre macht. Weil von einem anderen Menschen mehr da ist als von dir? Weil sie körperlich nicht unterlegen scheinen? Was ist da los, Angst, Sorge, Unwohlsein? Nein, der simple Versuch, Frauen weiter in den engen Daseins- und Teilhabe-Korridoren zu halten, deren Grenzen vom Patriarchat bestimmt wurden. Also beschimpft man sie oder schneidert ihnen einfach zu kurze oder zu enge Kleidung und gibt ihnen damit die Botschaft mit: Pass dich an, mach dich klein. Fühl dich unwohl, beschäftige dich mit dir und deinen „Unzulänglichkeiten“, statt mit dem Großen und Ganzen. Bleib am besten einfach unbemerkt zuhause. Genau das ist doch die Erfahrung, die Frauen über einer bestimmten Körper- oder Konfektionsgröße in Kleidergeschäften machen, wenn sie selbst so banale Dinge erledigen möchten wie sich Kleidung zu kaufen, die sitzt.

Die Idee von: Pass dich ein, setz dich wieder hin, sprich nicht, wenn keine*r fragt, verschwinde, kümmere dich zusammen, bis wir dich bestenfalls nicht bemerken, die schlägt immer wieder durch. Mal mehr, mal weniger offensichtlich. Und das all der gut gemeinten, bunt dekorierten Empowerment-Botschaften und feministischen Shirt-Drucke zum Trotz. Denn die bürsten zwar vermeintlich schön gegen den Strich, aber die werden eben auch nur an normschönen Körpern getragen nett abgenickt, oder von Frauen akzeptiert, die nicht zu sehr aufbegehren, nicht zu sehr am System kratzen wollen. Alle anderen bekommen dafür ihre Abreibung. Denn erst dann, wenn der Mensch, der sie (vor-)trägt, nicht ins das System passt, bekommen die Worte eine Wucht, die dann gerne mal ins Unbehagen anderer umschlägt.

Wer bestimmt, wer Raum einnehmen darf?

Wenn man sich fragt, was kann ich tun? Für mich, für andere, für eine Sache? Dann beginnt es eigentlich immer damit, bewusst Raum einzufordern und unbequem zu sein als gute Sache zuzulassen. Den Versuch, den gesellschaftlichen Raum weiter zu besetzen, sei es mit unausgeglichenen Geschlechterverhältnissen, mit Meinungen, mit den Interessen weniger, werden jene, die seit jeher daran gewöhnt waren, dass nur sie entscheiden, wer durch die Tür kommt, weiter begehen. Aber der Raum hat genug Platz für alle, die zum Diskurs beitragen können. Gesellschaftliche Räume weiten sich, wenn die Tür für alle aufgemacht wird. Sie wachsen einfach mit. Viel zu oft leider für Destruktives. Viel zu oft leider ohne jene, die Gehör brauchen, wenn wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln wollen. Stattdessen wird immer wieder jenen die Tür aufgemacht, die einem bekannt vorkommen, denen manches Mal sogar eine Rückentwicklung sehr viel lieber wäre als der Schritt nach vorne und die allzu bereitwillig nach dem Eintritt die Tür von innen wieder für andere zudrücken.

Lasst die rein, die wirklich eine gute Zukunft für alle mitgestalten wollen, deren Perspektive es überhaupt erst zusätzlich braucht, um das erreichen zu können. Ihnen gegenüber muss niemand sein Stück vom Kuchen verteidigen, man kann sogar, ganz verrückte Idee, einfach sein Stück mal jenen anbieten, die ihres vorher nur an jene Menschen verteilt haben, die den Bauch sowieso schon voll hatten. Die dafür gesorgt haben, dass die Party reibungslos läuft, während andere das als ihre Erfolge gefeiert haben. Und wenn nichts mehr hilft, muss man eben die Tür eintreten und sich ein Stück nehmen. Disruption, wie es schön in Startup-Kreisen heißt, ist immer dann gefragt, wenn andere in ihrem „Das haben wir immer so gemacht“ verharren wollen.

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