Foto: DCM

„Tully“ mit Charlize Theron: „Man wird nicht weniger verwundbar, nur weil man älter wird“

Der Film „Tully“ ist eine Einladung, sehr genau hinzusehen. Denn er erzählt nur vordergründig die Geschichte einer gewöhnlichen Mutter.

„Mütter schaffen das“ – „Nein, tun sie nicht“

„Tully“ ist – anders als angekündigt – keine warmherzige Komödie über Mutterschaft. „Tully“ ist nicht einmal ein Film für Mütter. Denn hat man selbst einmal ein Kind geboren, oder sogar, wie die Protagonistin „Marlo“ ihr drittes, dann sinkt man im Kinosessel mit jeder Minute tiefer und tiefer in die unendlich scheinende Erschöpfung zurück, in das verzweifelte Sich-Wachhalten, in die Wut gegenüber dem schnarchenden Partner, den das Babygebrüll nicht weckt, oder sogar ein Stück weit in die postpartale Depression.

Im Film hat die Drehbuchautorin Diablo Cody eingebracht, wie es ihr nach der Geburt ihres dritten Kindes ging: „Ich dachte, ich würde ertrinken. Wie als würde ich auf den Boden des Ozeans sinken. Und ich dachte: ,Wenn nur jemand zu mir herunterschwimmen und mich nach oben ziehen würde.‘“

„I just felt like I was drowning. Like I was sinking to the floor of the ocean. And I thought to myself, ‘I wish someone would swim down and pull me back up.’“

„Tully“ legt die Wunden des Wochenbetts wieder offen, die wunderbaren Momente hat Diablo Cody ausgespart, ihr Film ist nicht pastellfarben, er hat einen Gelbstich – immer im Dämmerlicht der Nacht. Sollten Mütter im Kino das noch einmal durchleben?

Viele Mütter werden sich von „Tully“ zunächst aufgefangen fühlen, berührt und erstaunt denken: „Standen die neben mir?“ Denn Diablo Cody und Jason Reitman inszenieren in ihrer dritten Zusammenarbeit die ersten Wochen mit einem Baby hyperreal, man spürt den Film im ganzen Körper. Dennoch bricht das Lachen, gemeinsam mit den anderen Besucher*innen – im Pressescreening vor allem jüngere Mütter – eher mechanisch hervor und aus der zeitlichen Distanz über die vermeintlich komischen Situationen, die Charlize Theron als Mutter „Marlo“ im Film erlebt: riesige Milchflecken, die das eigene Shirt durchnässen, die älteren Kinder, die einen Witz über den wabbeligen Bauch machen, das Smartphone, das aus der Hand fällt und das Neugeborene unsanft trifft.

Und ich gebe zu, bei der letzten Szene habe ich erleichtert gelacht, denn die Male, in denen mein Handy mein Baby fast erschlug habe ich im Smalltalk mit befreundeten Eltern nicht geteilt und lediglich gehofft, dass es auch anderen passiert. Dass dieses Erlebnis auf der Kinoleinwand landet ist ein recht gutes Indiz dafür, dass wohl die meisten Neugeborenen diese Art Bodycheck erleben und überleben. (Vor den Mobiltelefonen ist den Babys vermutlich das 800-Seiten-dicke Buch auf das Bäuchlein gefallen oder eine Stricknadel so gerade am Augapfel vorbeigeschrammt, gut, dass es endlich Handys gibt.)

Das Lachen im Kino ist aber mehr als etwas Gemeinschaftstiftendes. Es markiert Momente, die peinlich sind, die man vermeiden wollte, in Zukunft vermeiden will und auch froh ist, dass sie im Verborgenen stattgefunden haben. Auf der Kinoleinwand werden sie fiktiv, Marlo ist es nun, die sie erlebt hat und die Zuschauerin von ihnen befreit – und (Noch-)Nicht-Eltern suggeriert, hier fände eine groteske Überzeichnung statt, um die erste Mutterschaft in Spielfilmlänge zu fassen. Doch es ist so, wie im Film: Eine Frau, die Muttermilch abpumpt, sieht viel unglücklicher und alberner aus als eine Kuh an der Melkmaschine. Während die schlaflosen Monate, in denen man aussah wie ein Zombie, noch etwas Held*innenhaftes haben, sagt wohl kaum eine Mutter, sie erinnere sich gern an die Zeit des Milchabpumpens. Da es mittlerweile wirklich genug Ingenieurinnen und Produktdesignerinnern gibt, aber die grunzenden, hässlichen Muttermelkmaschinen weiterhin den Markt dominieren, kann man nur schlussfolgern, dass einfach alle, die sie genutzt haben, diese Phase möglichst schnell vergessen wollten, so dass nicht einmal der Wunsch übrig bleibt, etwas für andere zu verbessern.

Zauberwaffe Nacht-Nanny

Und das beschreibt in etwa das Eltern-Dilemma: Zu fertig und zu eingespannt, um aus den eigenen Erfahrungen heraus etwas für andere Familien zu verbessern. Zumindest strukturell und über politisches Engagement. Denn während insbesondere die gleichberechtigte Aufteilung von Familienaufgaben kaum vom Fleck kommt und Väter nach wie vor für acht Wochen Elternzeit gefeiert werden wie Fußballweltmeister am Frankfurter Römer, sind die Hilfestellungen, die erschöpfte Mütter zu Seite gestellt bekommen vor allem eines: teuer. Und damit absolut abhängig von der individuellen finanziellen Situation der Familie oder dem Wissen, wo man sich Hilfe holen kann. „Tully“ fängt diese Gesellschaftskritik sehr subtil auf, denn sie kontrastiert die unterschiedlichen Bedingungen für Familien mit Babys auf individueller Ebene und verpackt sie dazu noch als Geschwisterrivalität: Die Familie von Marlo, immerhin Mittelschicht genug, so dass die Mutter nicht direkt nach der Geburt wieder in ihren Job zurückkehren muss, wie so viele andere Eltern in den USA, und die Familie ihres Bruders, der so wohlhabend ist, dass er die „Nacht-Nanny“, die seiner Frau und ihm die nächtliche Sorge ums Baby abgenommen hat, auch seiner Schwester spendieren will.

Marlos Abwehr gegenüber diesem Vorschlag ist in der Übertragung auf die gesellschaftlichen Ebene aber nicht zu verstehen als „Ihr blöden Bonzen“, sondern zum einen als Erwartungsdruck an sich selbst, alles allein zu schaffen, die perfekte Mutter eben, die aufgeht in der Fürsorge um ihre Kinder, was keine Arbeit bedeuten soll, sondern Vergnügen und Glück. Zum anderen steht ihre Abwehr auch dafür, dass Nannys und Haushaltshilfen nicht die abschließende Antwort sein können auf die Belastung, die von Neugeborenen für ihre Eltern ausgehen. Denn weder werden sich die meisten Familien eine Nacht-Nanny leisten können, noch wäre es eine besonders aufgeklärte Vorstellung, sich nach einer Welt zu sehen, in der die unliebsamen und anstrengenden Aufgaben rund um die eigenen Kinder von einer Angestellten übernommen würden, die sich für fremde Familien die Nächte um die Ohren schlägt. Das sind in der Regel Frauen, die aus Ländern und Schichten stammen, die sich bezahlte Hilfe im Haushalt niemals leisten können werden, nach einer Geburt selbst noch einmal weniger Unterstützung bekommen als Mittelschicht-Marlos oder sogar weit weg von ihren eigenen Kindern leben, um ihrer Familie Geld nach Hause zu schicken. Dass Marlos Nacht-Nanny „Tully“ (Mackenzie Davis) also eine weiße, ätherisch-schöne Frau in den Zwanzigern ist, ist schon zu Beginn des Films ein Hinweis darauf, dass in „Tully“ viel über Symbolik erzählt und erste Andeutung auf die Wendung des Plots.

Auch wenn die Nacht-Nanny zunächst ins Marlos Leben tritt wie ein rettender Engel, so ist das Privileg, bei der Familienarbeit bezahlte Hilfe zu haben, für Eltern nicht nur mit angenehmen Erfahrungen verbunden, sondern auch mit Verzicht und mit verpassten Erfahrungen. Mehr Zeit für den Beruf, mehr Zeit für Kinder, Partner oder Sport – die universelle Antwort auf die Frage nach dem glücklichen Leben gibt es nicht. Ganz besonders bei Familien. Die beruhigende Botschaft ist, dass egal wie Eltern sich entscheiden, sie immer viele Fehler machen werden – auch solche, die auf ihre Kinder wirken. Die zwanghafte Vermeidung dieser Fehler ist anstrengender, als damit zu leben, dass jede Entscheidung gute und weniger gute Dinge nach sich ziehen wird. Das auszuhalten im Zeitalter der Selbstoptimierung, ist ein wichtiger Teil der Geburtsvorbereitung.

„Marlo“ hat jedoch das unerreichbare Ideal der perfekten Mutter stark verinnerlicht. Nachdem im Film die Nacht-Nanny in ihr Leben tritt – jung, lebendig, gut gelaunt und empathisch – beginnt ein Austausch zwischen den beiden Frauen über das Leben als Mutter und vor allem darüber, wie die Entscheidung, Kinder zu haben, auch die eigene Identität durcheinanderbringen kann. Die Gespräche zwischen Marlo und Tully, in denen die Nacht-Nanny immer wieder sehr klar sagt, dass Marlo die Unterstützung brauche und annehmen könne, zeigen nicht nur einen Aspekt von Mutterschaft, den man in der medialen Darstellung so intim und ehrlich nur selten sieht. Die sich entwickelnde Freund*innenschaft zwischen den beiden ist auch die Metapher für die persönliche Entwicklung eines Menschen, der Abschied nimmt: von der eigenen Jugend. Von Träumen. Und der das Wunschbild von sich selbst nach und nach mit der Person, die er nun ist, in Einklang bringt. Damit ergänzt die Drehbuchautorin Diablo Cody den Blick auf Elternschaft um den wichtigen Aspekt, dass Erwachsenwerden und das Einfinden in eine stabile Identität ein eigener Prozess sind, der zwar von der Entscheidung für Kinder beeinflusst wird, doch daneben einen eigenen Raum beanspruchen. Auch deswegen werden sich in Marlo Zuschauer*innen wiederfinden, die keine Kinder haben.

Die Schauspielerin Charlize Theron, hier als „Marlo“ in „Tully“, hat selbst zwei Kinder adoptiert. (Bild: DCM)

Und immer wieder Erwachsenwerden

Während auf der ersten Ebene von „Tully“ die bekannten Elternprobleme von Schlafmangel und Erschöpfung, Überforderung und einer Veränderung der Paarbeziehung thematisiert werden, zeigen die hervorragend besetzten Schauspielerinnen Charlize Theron und Mackenzie Davis in ihrer intensiven Interaktion, wie tiefgreifend die Fragen und Prozesse sind, wenn sich das Leben vermeintlich festigt. Haus, ein sicherer Job und Familie gelten als stabile Orte, doch die neue Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit können mehr verunsichern als die Freiheit, die man lose gebunden an Ort, Interessen und Menschen genossen hat. Man wird nicht weniger verwundbar, nur weil man älter wird.

In einer Szene versucht Tully, Marlo dazu zu bringen, sich über ihr jetziges Leben zu freuen: „Du hast bekommen, was du wolltest.“ Doch wie Marlo werden Menschen immer wieder feststellen, dass an dem Punkt, an dem sich die größten Wünsche und Lebensziele erfüllt haben, viele Fragen offenbleiben und sich kein gleichförmiges Gefühl von Zufriedenheit einstellt.

Unaufmerksame Väter?

Neben Menschen, die sich gerade von einer Lebensphase verabschieden, ist „Tully“ zudem ein Film für alle, die neuen Eltern sehr nahestehen, und glauben, dass sie ahnen können, wie es sich anfühlt, rund um die Uhr für ein Baby zu sorgen. Man ahnt es nicht. Und es kommt hinzu, dass die Ausnahmesituation der ersten Wochen es auch für Mütter vielleicht kaum möglich macht, ihr Erleben so zu schildern, dass es für andere begreifbar wird. So erkennen auch Hebammen, Gynäkolog*innen und Partner*innen häufig nicht oder erst sehr spät, wenn eine Mutter eine postpartale Depression entwickelt. Nicht einmal sie selbst. Und so geschieht es Marlo und ihrem Mann im Film.

Marlos Ehemann, Drew (Ron Livingston), ist eine komplexe Figur, über die es leicht wäre, die Augen zu rollen, weil er vordergründig viele Klischees des abwesenden Vaters in einem traditionellen Familienmodell erfüllt. Oliver Kaever schreibt dazu bei Zeit Online: „Das wirkt geradezu reaktionär, und der Film hinkt mit dieser Haltung hinter dem zurück, was sich in modernen Familien in den vergangenen Jahren verändert hat. Dass Ehepartner sich in der Erziehungsarbeit so gut wie möglich unterstützen und Aufgaben bewusst verteilen, hat sich in Teilen der Gesellschaft längst durchgesetzt.“ Für Deutschland ist dieser Teil der Gesellschaft jedoch belegbar klein und ganz besonders zu Beginn der Elternschaft wenig ausgeglichen – kaum ein Partner bleibt das komplette Wochenbett von acht Wochen oder länger zuhause, Elternzeit für Väter bedeutet mehrheitlich „Sommerurlaub“ oder Kita-Eingewöhnung. Das Setting von „Tully“ ist demnach viel näher an der Realität, als die Familien-Labore der urbanen Elite.

Doch Drews Rolle ist keinesfalls eindimensional. Die Darstellung von ihm und Marlo ist besonders gelungen, weil sie die Dynamik und Kommunikation eines Paares mit Kindern so behutsam erzählt. Ihre Familiensituation lässt sich nicht darauf herunterbrechen, dass Marlo in die Rolle von Hausfrau und Mutter gedrängt wurde und Drew sich unreflektiert in seinen Job und lange Dienstreisen gestürzt hätte. Sie ist komplex, und dabei schimmern durch das Chaos immer wieder eine Liebe, Freude und Verbundenheit, die derart tragfähig und authentisch erscheinen, als dass nichts in der Welt diese Familie auseinanderreißen könnte. Damit gibt es auch auf die Frage keine eindeutige Antwort, wie die dramatische Krise, in der Marlo ihr Leben gefährdet, hätte vermieden werden können. Denn die Anhaltspunkte, die man besonders in der Rückschau entdeckt, lassen viele Interpretationen zu, wie oder ob Marlos Geschichte anders hätte verlaufen können – und wer sehen konnte, was geschah.

Tully läuft seit dem 31. Mai 2018 in deutschen Kinos.

Mehr bei EDITION F

Nora Imlau: „Die Grundidee von Attachment Parenting stürzt Mütter nicht ins Unglück“. Weiterlesen

Das Baby kommt und die Welt bricht zusammen – drei Frauen über postpartale Depressionen. Weiterlesen

Anke Stelling: „Ich mag keine Menschen, die ihr Leben im Griff haben“. Weiterlesen

Anzeige