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Nora Imlau: „Die Grundidee von Attachment Parenting stürzt Mütter nicht ins Unglück“

Attachment Parenting beschreibt ein bindungsorientiertes Erziehen, das auf viel Nähe zum Kind setzt. Diese Philosophie gerät immer wieder in die Kritik, dass sie die traditionelle Mutterrolle stärkt und Mütter in die Überforderung treibt. Darüber haben wir mit Nora Imlau, einer der bekanntesten Vertreterinnen der Bewegung in Deutschland, gesprochen.

 

„Unsere Gesellschaft hat einen echten Fetisch, was die Selbstständigkeit angeht – auch schon bei Babys“

Was ist die richtige Erziehungsmethode für mich und mein Kind? Diese Frage beantworten Anhänger des bindungs- oder auch bedürfnisorientierten Erziehens bzw. Begleitens, dem „Attachment Parenting“ (AP), vor allem mit einem liebevollen und wertschätzenden Umgang. Und mit der Idee, dass eine große Nähe, etwa durch langes Stillen und Tragen sowie das Schlafen im Familienbett wichtige Säulen für die Eltern-Kind-Beziehung sind. Dadurch steht die Bewegung immer wieder in der Kritik, sie würde vor allem dazu führen, dass die Mütter in ihre traditionelle Rolle zurückgedrängt werden und sich bis über die Grenze zur Erschöpfung daran aufreiben, den Bedürfnissen ihrer Kinder nachzukommen.

Wir haben mit Nora Imlau über die Kritik an der Erziehungsphilosophie gesprochen – sie ist Autorin, Journalistin und Bloggerin sowie eine der bekanntesten AP-Vertreterinnen Deutschlands. Sie erzählt über ihre Erfahrungen mit AP, aber auch darüber, warum sich die Idee in Deutschland teilweise in eine problematische Richtung entwickelt hat. Denn in bestimmten Kreisen ist sie von einer grundsätzlichen Haltung Kindern gegenüber zu einem starren Dogma geworden.

Liebe Nora, lass uns erst einmal ganz grundsätzlich über Attachment Parenting (AP) sprechen – eigentlich magst du den Begriff ja schon mal nicht so sehr, weil er zu stark an den Ideengeber William Sears geknüpft ist und du Sorge hast, dass dadurch die Erziehungsmethode falsch verstanden wird, richtig?

„Das stimmt, heute ringe ich etwas mit dem Begriff. Aber als ich das erste Mal darauf gestoßen bin, habe ich ihn als etwas sehr Positives wahrgenommen. Als ich selbst noch keine Mutter war, habe ich oft Eltern im Umgang mit ihren Kindern beobachtet und dabei gesehen, wie unterschiedlich die Haltung, mit denen sie ihren Kindern begegnen, sein kann. Einige waren sehr respektvoll und auf Augenhöhe mit ihren Kindern, was sich für mich intuitiv sehr viel besser anfühlte als anderes. Als ich dann für diese Haltung, sich liebevoll und wertschätzend an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren, einen Namen entdeckte, nämlich dass diese Eltern ‚Attachment Parenting‘ leben, fand ich das wahnsinnig hilfreich. Weil ich dadurch viel einfacher Literatur und Erfahrungsberichte zum Thema suchen, und mich dann auch mit Gleichgesinnten zusammentun und vernetzen konnte. Gerade beim Austausch im Netz ist es ja sehr hilfreich, ein gemeinsames Schlagwort zu haben – in dem Fall, übersetzt, bindungsorientierte Elternschaft. Aber nach und nach fand ich zwei Dinge an dem Begriff immer schwieriger: Zum einen, dass er dezidiert antifeministische Ursprünge hat. Und zum anderen, dass er in den vergangenen Jahren immer wieder einen starken Deutungswandel erfahren hat, sodass heute jeder etwas anderes darunter versteht.“

„Der Attachment Parenting-Begriff ist in Deutschland so verwässert worden – mit dem Ur-Gedanken hat das oft nichts mehr zu tun.“

Wie meinst du das?

„Als ich den Begriff kennengelernt habe, damals war ich wegen meines Studiums in Kanada, da war klar, dass das Buch über AP von Sears die Bibel der AP-Mütter war, und die Grundüberzeugung von AP ist, dass Eltern feinfühlig versuchen auf die Signale der Babys zu reagieren. Das war der absolute Kern. Dazu kamen dann noch die  ‚7 Baby-B‘, wie das Stillen, das Tragen und das gemeinsame Schlafen. Die Frage, wie ich nach der Babyzeit mit meinem Kind umgehe oder in welchen Autositz ich es setze oder ob ich mein Baby irgendwann mal betreuen lasse, spielte überhaupt keine Rolle. Als ich dann selbst Mutter war, ist der Begriff nach und nach nach Deutschland herübergeschwappt und hat einen krassen Deutungswandel erfahren. Es gab Foren und Gruppen auf Facebook, in denen sich ganz viele Menschen zusammengefunden haben, die das Babybuch von Sears gar nicht gelesen haben, sondern eher über: ‚Aha, hier treffen sich die Still-Mamas‘ oder ‚Hier treffen sich die Trage-Mütter‘, darauf gestoßen sind. Also über verschiedene Details, nicht aber die Grundhaltung.

Und dann ist es noch so, dass eine Bewegung, die sehr auf Bedürfnisse achtet, auch ein ganz bestimmtes Klientel anzieht – ganz klischeemäßig sind das die Öko-Mütter. Also ging es dann nicht mehr nur um Bedürfnisorientiertheit in der Baby-Zeit, sondern auch darum, dass Wert auf Bio-Kleidung, Bio-Essen, Stoffwindeln und Ähnliches gelegt wurde. So entstand ein großer Wust um die Grundidee und irgendwann dachten alle: AP-Mütter, das sind doch die, die Windeln ablehnen, Betreuung ablehnen und ihren Kindern nur vegane selbstgekochte Kost vorsetzen. Mittlerweile ist der AP-Begriff in Deutschland so verwässert worden, dass viele unter AP etwas verstehen, das überhaupt nichts mehr mit dem Ur-Gedanken zu tun hat, sodass ich mich frage, wie hilfreich der Begriff noch ist. Weißt du, auf Wikipedia steht über mich, ich sei eine der wichtigsten Vertreterinnen von AP in Deutschland. Aber wenn ich in manche AP-Gruppen schaue, dann frag ich mich manchmal, ob ich da überhaupt hingehöre. Da werden Sachen im Namen von AP verlangt, auf die käme ich im Leben nicht! (lacht). Das ist echt eine Schwierigkeit.“

Die Ausdeutung ist das Eine, aber du hast auch deine Probleme mit der Verknüpfung zu Sears selbst, richtig?

„Ja, das zweite Problem ist Sears selbst. Ich habe über die Jahre einfach viel recherchiert und das AP-Buch ist nach wie vor ein wirklich schönes Buch, um Eltern in einer ganz unideologischen Weise darauf hinzuweisen, welche Bedürfnisse kleine Kinder haben, wenn sie auf die Welt kommen und welche Wege es gibt, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Wie man also die Baby-Zeit genießen kann, ohne die ständige Angst vor dem Verwöhnen. Aber ich habe mit der Zeit gemerkt, dass dieses Buch nicht für sich alleine steht, sondern Teil von einer Dynastie an Büchern sowie Konzepten ist und William Sears diese Idee aus einer bestimmten Haltung heraus entwickelt hat. Er war als ein evangelikaler, sehr konservativer, auch antifeministischer Mann in den 70er und 80er Jahren sehr beseelt davon, die Mütter in ihre ‚natürlich Berufung’ zurückzuführen – da läuft es mir schon kalt den Rücken runter. Wenn man sich die Entstehung von AP anschaut, dann sieht man deutlich, dass sein Ausgangspunkt ganz klar war, zu sagen: ‚Ach, in dieser modernen Zeit, wo Frauen keine richtigen Frauen mehr sind, muss man dem mal was entgegensetzen, muss man den Frauen wieder beibringen, was ihre auch aus biblischer Sicht richtige Rolle ist: die völlige Mutterschaft, das regelrechte Verschmelzen mit dem Kind.’“

„Attachment Parenting kommt nicht ohne Grenzen und eine gewisse Balance der Bedürfnisse von Mutter und Kind aus.“

Ich kann dein Schaudern an der Stelle verstehen …

„Das Problem ist, dass ganz viele Dinge, die Sears sagt, absolut richtig sind, aber wenn man den Kontext dazu nimmt, dass er AP anfangs als ein dezidiertes Programm gegen Emanzipation, gegen ein Freischwimmen davon als Mutter nur noch Mutter zu sein, aufgesetzt hat, dann ist das für mich als junge Feministin natürlich eine ganz problematische Sache. Die Frage ist nun: Wie gehen wir jungen Mütter heute damit um? Immerhin hatte Sears auch eine Lernkurve. Ganz am Anfang hat das AP-Programm nur fünf Bausteine und nicht sieben, und es ging wirklich nur um die Bedürfnisse der Babys. Da hat Sears dann zu den Müttern als Kinderarzt sinngemäß gesagt: ‚Für mich ist eure Rolle als Mutter, euch ganz in den Dienst eurer Kinder zu stellen. Wahre Mutterliebe bedeutet, ihr stillt, wenn immer das Baby will, und ihr tragt euer Baby Tag und Nacht an eurem Körper – und diese völlige Symbiose ist die einzig richtige Art mit Babys umzugehen.’ 

Diese Idee von Mutterschaft hat Frauen dann häufig in die totale Erschöpfung getrieben, weil sie ganz alleine versucht haben, all das umzusetzen, und irgendwann natürlich völlig fertig waren. Daraus hat Sears gelernt, was man ihm positiv anrechnen kann. Also sagte er, jetzt müssen wir die Männer mehr ins Boot holen, und ein neues Element muss zu den bisherigen ‚Baby B’s.‘ dazu kommen: ‚Balance and boundaries‘. Denn AP kommt nicht ohne Grenzen und eine gewisse Balance der Bedürfnisse aus, die einschließt, dass auch die Mütter gut auf sich achten. All diese Überlegungen hatte Sears bereits angestellt, als er das große AP-Buch geschrieben hat, und deshalb steht da auch drin, dass es ganz viele Wege gibt, um gute Eltern zu sein, und dass AP für alle geeignet ist – für die traditionelle Familie, für Alleinerziehende und auch für berufstätige Eltern. Die Haltung, die dieses Buch durchzieht, ist: Es gibt kein Richtig und kein Falsch, es geht nur um Feinfühligkeit. So gab es dann auch Tipps dafür, wie man bindungsorientierte Betreuung findet, wenn man berufstätig sein will, wie man sich als Elternpaar die Verantwortung gleichberechtig teilen kann und vieles mehr. Und damit ist das Buch, wenn man es isoliert betrachtet, auch aus feministischer Sicht total okay.“

Sears hat also eine Lernkurve gemacht und ist von ganz harten Regeln, die vor allem für Mütter gelten, abgewichen – aber dennoch klingt die Idee von jahrelangem Stillen, ständigem Tragen und Familienbett nach einem sehr aufwendigen Konzept. Du sagst aber, es ist sogar leichter, bindungsorientiert zu erziehen, weil man mehrere Kinder besser bzw. leichter zeitgleich versorgen kann.

„Was einem leicht und schwerfällt, ist ja etwas sehr Subjektives. Ich höre das Argument immer wieder, dass AP so aufreibend und anstrengend sei. Ich glaube, das hat ganz viel damit zu tun, dass man sich manche Dinge nur schwer vorstellen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Als Beispiel das lange Stillen: Mütter, die relativ kurz gestillt haben, also weniger als ein halbes Jahr etwa, erinnern sich ans Stillen meist als eine wahnsinnig aufreibende, anstrengende Sache, bei der man stundenlang auf dem Sofa festklebt und das Baby trinkt und trinkt, und das ständig. Klar sagen viele da: Sowas über Jahre, wie soll man das denn schaffen?

Was dabei aber oft aus dem Blick gerät ist, dass sich das ja total verändert. Viele Frauen, die lange stillen, sagen, die richtig coole Stillzeit beginnt eigentlich erst nach einem Jahr, wenn die Kinder schon größer sind, selber essen und sich selbst gut versorgen können, und nur noch ein bis zwei Mal am Tag kuschelig mit einem ins Bett hauen und eine halbe Stunde trinken. Das ist bei so vielen AP-Dingen so. Alle Mütter, die ich kenne, die AP leben, sagen tatsächlich, dass es sich für sie nicht anstrengender anfühlt und dass es für sie nicht attraktiver wäre, es nicht zu tun. Auch weil das Stillen ja auch ganz viel Erleichterung bringen kann, weil man immer was dabei hat – ich habe eine Art Geheimwaffe, mit der ich mein Kind überall beruhigen kann und es einfach ins Bett bekomme. Aber auch das Tragen oder Co-Sleeping fühlt sich für viele Familien vollkommen natürlich an und nicht besonders anstrengend. Natürlich kann man aber niemandem von außen sagen, dass AP nicht anstrengend ist, man muss es eben ausprobieren. Vieles hat auch mit Rahmenbedingungen zu tun. Wenn Mütter schon grundsätzlich sehr belastet sind im Alltag und sich von ihrem Partner viel alleingelassen fühlen, dann empfinden sie das Stillen, das Tragen oder das gemeinsame Schlafen natürlich oft als deutlich anstrengender, als wenn sie ihren Alltag als gutes Team gemeinsam stemmen.“

„Ein radikales Betreuungsgegnertum im Namen der bindungsorientierten Elternschaft ist antifeministisch und hält Frauen am Herd sowie von ihrer beruflichen Entwicklung fern.“

Guter Punkt, kommen wir noch einmal zu den Vätern und ihrer Rolle bei AP zurück. Denn die Realität sieht ja so aus, dass Frauen immer noch den Großteil der Care-Arbeit übernehmen. Zeigt sich das innerhalb der AP-Bewegung anders, kann die Frau hier wirklich besser aus der traditionellen Mutterrolle schlüpfen oder ist es nicht doch umgekehrt?

„Ich glaube, so wie AP heute in Deutschland oft verstanden und in diversen Facebook-Gruppen interpretiert wird, stärkt es tatsächlich oft die traditionelle Mutterrolle. Denn, wenn ich etwa in einer AP-Facebookgruppe lese, wie Mütter sich dort gegenseitig vor den Gefahren der Fremdbetreuung warnen und sagen, das einzig Gute für Kinder sei kita-frei zu sein, möglichst auch noch kindergarten-frei oder gar schul-frei und dazu sollte mindestens ein Elternteil am besten immer zuhause zu sein, dann bedeutet das in der Konkretion natürlich, dass die meisten Mütter, die dies umzusetzen versuchen, lange Zeit nicht wirklich berufstätig sein können. In den Gruppen wird dann zwar gerne mal gesagt, ein bisschen Online-Business von zuhause könne man ja auch dann noch machen, aber das stellt eben nur für sehr wenige Frauen eine ernsthafte berufliche Alternative dar – so mal eben mit zwei, drei Kindern zuhause nebenbei ein bisschen vom Smartphone aus ernsthaft Geld zu verdienen.

Wir können also festhalten: Ein radikales Betreuungsgegnertum im Namen der bindungsorientierten Elternschaft ist antifeministisch und hält Frauen am Herd sowie von ihrer beruflichen Entwicklung fern. Aber die Grundhaltung von AP, dass Eltern feinfühlig auf ihre Kinder reagieren, die hält überhaupt niemanden von irgendeiner Entwicklung fern. Denn auch wenn ich alle sieben Baby-B umsetzen will, inklusive langem Stillen und Tragen und Co-Sleeping, zementiert das im Grunde keine Geschlechterrollen, wenn wir als Paar nicht sowieso schon in eine sehr traditionelle Richtung denken. Das kann ich auch ganz konkret an meinem eigenen Beispiel festmachen.“

Du wolltest also auch immer mehr, als „nur“ Mutter sein?

„Ich habe drei Kinder und bin nie traditionell Hausfrau gewesen. Bei meinem ersten Kind habe ich mein Studium fertiggemacht, mein zweites Kind kam mit sieben Monaten zur Tagesmutter und ich habe wieder Vollzeit gearbeitet, und mein drittes Kind kam etwas später, mit einem Jahr zur Tagesmutter – aber ich habe auch schon, bevor er bei der Tagesmutter war, wieder gearbeitet. Auch mein Mann war immer berufstätig, aber hat auch lange Elternzeiten genommen. Bei meinem Sohn waren das zum Beispiel vier Monate direkt nach seiner Geburt, während der ich schon wieder an meinem nächsten Buch geschrieben habe. Für uns war das immer eine Frage der Haltung, dass wir absolut gleichberechtigte und gleichverantwortliche Eltern für diese Kinder sind. Und, dass wir gemeinsam die AP-Idee leben, weil sie uns als der richtige Umgang mit Menschen erscheint.

In der Praxis bedeutete das zum Beispiel, dass mein Mann unsere Kinder von Geburt an ganz viel getragen hat, deutlich mehr als ich. Und wir hatten unsere Kinder bei uns im Bett, damit wir uns beide um sie nachts kümmern konnten, ohne aufzustehen. Wir haben unsere Kinder nie schreien lassen, weil wir das beide furchtbar gefunden hätten und sich das mit jeder Faser unserer Körper falsch anfühlte, auf so einen offensichtlichen Hilferuf nicht zu reagieren. Wir haben uns da eben abgewechselt. Natürlich war ich fürs Stillen zuständig und habe auch nach Bedarf gestillt. Dieses Stillen bedeutete aber auch in den ersten Lebensmonaten an manchen Tagen, dass ich meine Kinder quasi nur zum Stillen gesehen habe, weil mein Mann sich gerade hauptsächlich um sie gekümmert hat. Es gab viele Tage, an denen er sehr viel mehr Zeit und Energie in unsere Babys investiert hat als ich. Und andere, da war ich dann eben für alle drei Kinder voll verantwortlich, weil er zum Beispiel auf Dienstreise war.“

„Bei Kirsten gibt es ruhige Musik zum Einschlafen, bei Mama die Brust.“

Hat dich das Stillen nie (beruflich) eingeschränkt?

„Nein, wirklich nicht. Je älter Babys werden, desto größer werden ja auch die Abstände zwischen den Stillzeiten. Diese Zwischenräume haben wir bewusst genutzt. Als der Kleine etwa neun Monate alt war, hatte ich erstmals eine ganztätige Dienstreise, und habe eigentlich noch mehrmals am Tag gestillt. Aber wir haben gesagt: Bedürfnisorientiert heißt, dass die Bedürfnisse aller wichtig sind. Und ich habe gerade das Bedürfnis, auf diese Tagung zu gehen und der Kleine isst ja tendenziell schon – das werden die beiden Männer schon hinbekommen (lacht). Das hat alles super geklappt, er hat so gut gegessen wie noch nie und ich kam abends eben mit einem großen Busen zurück, aber das ist ja nicht schlimm.

„Wenn ich sowieso keine gleichberechtigte Partnerschaft habe, dann ist es ja eigentlich vollkommen egal, nach welchem Konzept ich vorgehe – kümmerst du dich als Mutter alleine um die Kinder, bist du gearscht.“

Ich stille meinen Kleinen, der nun eineinhalb ist, immer noch, auch wenn er zur Tagesmutter geht. Auch das ist überhaupt kein Problem. Kinder können da ja unterscheiden: Bei Kirsten gibt es ruhige Musik zum Einschlafen, bei Mama die Brust. Schwierig wäre es allerdings, wenn wir für mehr als 24 Stunden getrennt wären. Da hätte ich dann irgendwann Angst vor einem Milchstau. Aber letztlich gibt es ja für alles Lösungen. Ich habe demnächst zum Beispiel einen Auftritt in Bochum, da kommen meine Eltern und passen auf unsere beiden älteren Kinder bei uns zuhause auf, und mein Mann und der Kleine kommen mit mir mit und beschäftigen sich eben tagsüber alleine vor Ort – und nachts schlafen wir dann alle drei zusammen im Hotel im Familienbett, damit ich da dann stillen kann.“

So wie ihr euch aufteilt, klingt das natürlich prima. Aber ich glaube, da habt ihr viel Glück miteinander. Denn was macht man, wenn man keinen Partner oder keine Partnerin hat, die mitziehen möchten? Dann stecken wir doch wieder im Anfangsproblem fest und AP wird ohne Netzwerk dann doch überfordernd.

„Aber wenn ich sowieso keine gleichberechtigte Partnerschaft habe, dann ist es ja eigentlich vollkommen egal, nach welchem Konzept ich vorgehe. Denn dann bin ich als Mutter so oder so gearscht, weil ich die Einzige bin, die nachts aufsteht, um ein Fläschchen zu machen oder ins Kinderzimmer zu rennen. Das ist dann vielleicht weniger bindungsorientiert, aber doch nicht weniger stressig! Es ist einfach Mist, als Mutter alleine zuständig zu sein – ob ich stille oder nicht. Ich sehe da keine Verknüpfung zum AP. Es ist einfach wichtig, dass Eltern als Paar einen Weg finden, gemeinsam für die Kinder da zu sein. Als Alleinerziehende mit kleinen Kindern ist das natürlich immer eine heftige Situation. Und trotzdem kenne ich auch Alleinerziehende, die von Geburt an AP gelebt haben und sagen: Zum Glück hatte ich das! Denn es heißt zwar oft, AP sei so viel anstrengender, aber eigentlich ist es ja darauf ausgelegt, Eltern und vor allem auch stillende Mütter zu entlasten.

„Diese Idee, dass ein oder zwei Erwachsene sich alleine um alle Kinder in einer Wohnung kümmern, war nie der evolutionäre Plan für Elternschaft,
weil das einfach viel zu anstrengend ist.“

Beim Co-Sleeping geht es ja schließlich nicht nur darum, das Bedürfnis der Kinder nach Nähe zu erfüllen, sondern auch darum, Müttern zu sagen: ‚Es ist okay, du musst nachts nicht aufstehen. Du darfst es dir auch einfach bequem machen, dein Baby direkt neben dir schlafen lassen und ihm im Halbschlaf die Brust geben.’ Und zeitgleich sprichst du natürlich einen wichtigen Punkt in Bezug auf das Netzwerk an. Doch auch hier, denke ich, gilt das für Elternschaft generell: Wir sind ja aus ethnologischer Sicht eine kooperativ aufziehende Art und dazu gemacht, unsere Kinder in einem Gruppenverband großzuziehen. Das war früher der Normalfall. Und deshalb leben wir heutzutage eigentlich wenig artgerecht, was uns Eltern, aber auch die Kinder betrifft.

Diese Idee, dass ein oder zwei Erwachsene sich alleine um alle Kinder in einer Wohnung kümmern, war nie der evolutionäre Plan für Elternschaft, weil das einfach viel zu anstrengend ist. Deshalb ist es auch ein wichtiger Part von AP zu sagen: Vernetzt euch und macht es euch gegenseitig leichter! Aber ich finde es auch wichtig, nicht so hohe Hürden aufzubauen und zu sagen, AP kann man nur machen, wenn man ein riesiges soziales Netzwerk hat. Auch wir sind ein paar Mal umgezogen, seit unsere Kinder auf der Welt sind, und hatten etwa nie Großeltern vor Ort. Natürlich hatten wir Freunde, aber zu denen gehst du ja auch nicht regelmäßig, um zu fragen, ob sie die Kinder mal für ein Wochenende nehmen. Und dass sich AP auch ohne Großfamilie im Rücken gut leben lässt, zeigen unzählige Familien, denen es mit ihrem Weg auch allein sehr gut geht.“

Mich irritiert die ausschließliche Verknüpfung des bindungsorientierten Erziehens mit AP etwas. Denn (fast) alle Eltern wollen doch eine positive, nahe Bindung zu ihren Kindern aufbauen – wieso sollte das die Bewegung für sich pachten?

„Das ist ein wichtiger Punkt. Die Bindungstheorie geht ja auf John Bowlby zurück, und der hat ganz klar gesagt: Jedes Kind kommt mit einem Bindungsdrang auf die Welt, und (fast) alle Eltern haben den Drang, dieses Bindungsbedürfnis auch zu beantworten. Es binden sich also so gut wie alle Kinder an ihre Eltern, was einfach ein Überlebensinstinkt ist. Nun kann die Qualität dieser Bindung eben sehr verschieden sein. Es gibt unsichere und sichere Bindungen, und das Ziel von AP ist, eine möglichst sichere Bindung zu erreichen. Aber natürlich ist AP nicht der einzige Weg zu einer guten und sicheren Bindung, die kann auch auf anderem Wege entstehen. Trotzdem ist es so, dass wir heute auch viele Kinder haben, die nicht sicher an ihre Eltern gebunden sind. Es gibt Eltern, die ihre Kinder durchaus sehr lieben, und dennoch kommt es zu Bindungsproblemen. 

Ein Grund dafür ist, dass wir in unserer westlichen Industrienationen-Gesellschaft eine riesige Angst vor dem Verwöhnen haben, die oft dafür sorgt, dass wir vor zu viel Körperlichkeit mit unseren Kindern zurückschrecken. Dahinter steckt die Angst, sie zu sehr daran zu gewöhnen, viel gekuschelt zu werden, und sie so irgendwie zu verzärteln. Dabei ist Körperkontakt der Bindungsgenerator überhaupt, gerade in der ersten Zeit. Denn da bringt es Kindern einfach nichts, wenn man ihnen sagt, dass man sie liebt. Das spüren sie durch körperliche Nähe. Darüber hinaus haben wir als Gesellschaft einen echten Fetisch, was die Selbstständigkeit angeht. Am besten soll unser Baby von Anfang an Sachen alleine schaffen: Alleine einschlafen und sich alleine beruhigen können, auch mal alleine auf der Krabbeldecke liegen und sich mit sich selbst beschäftigen. Dieser Fokus darauf, dass das Baby ruhig mal allein klarkommen soll, verhindert jedoch oft den feinfühligen Umgang mit Babys, dass Eltern also an den feinen Signalen ihrer Babys ablesen, was ihr Kind gerade braucht. Dabei ist gerade die Feinfühligkeit der Schlüssel für eine sichere Bindung, also dass Eltern prompt und angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren.“

Was bedeutet „prompt und angemessen“ denn konkret? Und ist es nicht auch in gewisser Weise wichtig, dass ein Baby lernt, dass man nicht in jeder Situation sofort auf es reagieren kann? Ich rede hier nicht von durchschreien lassen, sondern von verzögerten Reaktionen.

„Diese Formulierung lässt natürlich einen Deutungsspielraum zu, denn was sehe ich denn als angemessen an? Prinzipiell ist es natürlich so, dass Kinder eine gewisse Frusttoleranz haben und die auch lernen können. Das Leben ist kein Wunschkonzert und Kinder sind ja evolutionär eigentlich darauf geprägt, in einem Clan großzuwerden. In der gesamten Menschheitsgeschichte mussten Kinder auch mal auf ihre Eltern warten, weil die gerade etwas anderes zu tun hatten. Das ist ganz normal. Aber trotzdem macht es einen Unterschied, ob ich mit einem Kind zusammenlebe und die Haltung ausstrahle, dass mir seine Bedürfnisse genauso wichtig wie meine eigenen Bedürfnisse sind und man schaut, wie man beide unter einen Hut bekommt. Das heißt: Manchmal musst du einen Moment warten und manchmal muss ich einen Moment warten – und manchmal bekomme ich es hin, auch scheinbar unterschiedliche Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen. Das ist einfach anders, als wenn ich als Eltern ausstrahle, dass ich der Boss bin und das Kind nichts zu melden hat – und so lange warten muss, bis ich finde, dass es das Recht auf Aufmerksamkeit hat. Oder ich aus der stärkeren Position entscheide, dass das Kind Frustrationstoleranz zu lernen hat, in dem ich es fünf Minuten schreien lasse, bevor ich komme.“

„Der Perfektionierungsdruck unter jungen Müttern ist insgesamt ein großes Thema. Ich glaube nicht, dass man das dem AP zuschustern kann.“

In letzter Zeit kam viel Kritik an der Bewegung auf. Etwa von Caroline Rosales auf Zeit Online oder auf Stadt Land Mama, die das selbst betrieben haben und irgendwann oder auch bei einem Kind mehr gemerkt haben: So geht das nicht, ich verliere mich dabei selbst. Haben die Frauen das einfach nur falsch verstanden/falsch betrieben oder ist es eben doch auch eine Erziehungsmethode, die leicht überfordern kann?

„Der Perfektionsdruck unter jungen Müttern ist insgesamt ein großes Thema. Ich glaube nicht, dass man das dem AP zuschustern kann. Auch Mütter, die ganz andere Ideale haben, kann es so gehen. Immer wenn man ganz hohe und starre Ideale hat, ist die Gefahr groß, daran zu scheitern, sich schlecht und als Versagerin zu fühlen. Wenn ich an meine eigene Kindheit zurückdenke, gab es den großen Trend, dass Eltern immer total konsequent sein mussten. Und da haben sich die Eltern dann auch Vorwürfe gemacht, nicht konsequent genug gewesen zu sein, schon wieder nachgegeben zu haben, so weich zu sein. Heute ist es umgekehrt. Manche Eltern erheben AP zu einer großen Ideologie, indem sie sagen: Ich muss immer und sofort auf jedes Bedürfnis meines Kindes reagieren, sonst sind wir schlechte Eltern. Und an solchen starren Ansprüchen scheitert man dann natürlich leicht.

Es gab doch erst kürzlich noch einen weiteren Artikel zum Thema AP von einer Politikwissenschaftlerin, die darauf hinwies, dass die AP-Vertreter solcher Kritik immer entgegen hielten, bei richtigem AP ginge es doch gar nicht um Selbstaufopferung, das hätten die entsprechenden Mütter halt nur falsch verstanden. Dabei finde ich schon, dass sich eine so große und einflussreiche Bewegung die Frage gefallen lassen muss, wie es sein kann, dass anscheinend so viele Mütter ihre Idee so falsch verstehen, dass sie in der völligen Erschöpfung landen.

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Woher kommt das denn?

„AP scheint viele Mütter anzuziehen, die es besonders gut machen wollen: Viele von ihnen hatten selbst schwierige Bindungserfahrungen in ihrer eigenen Kindheit und fühlen sich von so einem radikalen Gegenentwurf dazu natürlich sehr angesprochen. Doch auf der Suche nach dem richtigen Weg nach so viel eigenem Schmerz geht manchen Menschen der Sinn für die Zwischentöne verloren. Stattdessen erheben sie die neuen Ideale zu einem starren Dogma, an dem sie dann selbst scheitern. Die Frage ist nur: Kann ich dafür diese Philosophie des AP verantwortlich machen, die all das überhaupt nicht verlangt? Wir sind als Gesellschaft einfach so lange daran gewöhnt gewesen, dass Kinderbedürfnisse nicht viel zählen, dass in vielen Familien heute die radikale Gegenreaktion einsetzt: Kinderbedürfnisse über alles, sie sind auch wichtiger als ich selbst es bin. Das ist ähnlich der ersten Welle des Feminismus, in der viele Frauen ja auch ein sehr radikales Feminismus-Verständnis hatten, anders als heute. Vielleicht braucht es aber manchmal diese radikalen Lebensentwürfe, die den Finger mitten in die Wunde legen, um sich als Gesellschaft im Nachgang in der Mitte einpendeln zu können. Trotzdem bleibe ich dabei: Die Grundidee von AP ist keine, die einen ins Unglück stürzen könnte.“

„Es nervt mich, dass selbst zivilisierte Auseinandersetzungen unter Müttern immer gleich als ‚Mommy Wars’ diskreditiert werden.“

Machen wir es uns also vor allem selbst schwer, weil viele dazu neigen, sich auch noch gegenseitig als Eltern erziehen zu wollen? Die Tonlage, insbesondere bei Debatten im Netz, ist nicht selten recht scharf. Liegt das daran, dass Erziehung und Familie sehr persönliche Themen sind, die man dann eben auch persönlich nimmt?

„Das hat mehrere Seiten. Es ist ein persönliches Thema und viele Mütter definieren sich auch darüber, weil sie oft lange damit gerungen haben, welche Mutter sie sein wollen und jede Mutter, die es anders macht, stellt das dann eben gefühlt in Frage. Ich finde es auch besorgniserregend, wie manche Mütter untereinander im Netz umgehen. Andererseits nervt es mich aber auch, dass selbst zivilisierte Auseinandersetzungen unter Müttern, die es genauso gibt, immer gleich als ‚Mommy Wars’ diskreditiert werden. Das ist auch wieder so ein antifeministisches Ding, dass egal, wie sich Mütter austauschen, Leidenschaft immer gleich als Zickenkrieg verhandelt wird. Doch das Argument ,Soll doch jeder machen wie er oder sie will’, oder ‚Es gibt kein Richtig und kein Falsch’, ist halt auch nicht ganz richtig. AP ist in seinem Kern auch eine Kinderrechtsbewegung, die sagt, Kinder sind Menschen und haben dieselben Rechte auf Würde wie Erwachsene. Und wenn ich diesen Maßstab anlege, ist es eben keine persönliche Wahl mehr, wie ich mit meinem Kind umgehe – sondern letztlich eine Menschenrechtsfrage. 

Gerade in den USA ist es etwa so, dass AP-Eltern dort ganz stark für das Recht auf gewaltfreie Erziehung kämpfen. In allen 50 Bundesstaaten ist es Eltern nämlich bislang erlaubt, ihre Kinder zu schlagen. Bei Erwachsenen wäre das strafbar, bei Kindern gilt es als probates Erziehungsmittel. Hier bei uns gibt es andere Themen, die für die AP-Eltern wichtig sind, wie etwa das Schreienlassen, das man aus bestimmten Schlaflerntrainings kennt. Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen: Die einen sagen, das ist legitim, auch wenn es Stress für das Kind bedeutet. Die anderen sagen, das ist auch nicht besser, als Kinder zu schlagen, weil im Gehirn dabei letztlich dieselben Schmerzzentren aktiv werden. Wenn sich nun zwei Mütter darüber austauschen und die eine betreibt das, während die andere sagt, ich mache mich zur Anwältin deines Kindes – ist das dann ein ‚Mommy War‘? Oder ist das nicht viel mehr ein Einstehen für die Rechte kleiner Menschen, die selbst noch nicht für ihre Rechte einstehen können? Auf diese Frage mag es unterschiedliche Antworten geben, aber das Beispiel zeigt ganz gut, warum AP-Mütter gerade im Internet manchmal als etwas missionarisch oder gar aggressiv wahrgenommen werden. Sie identifizieren sich eben ganz oft mit dem Kind, das in ihren Augen leidet, und sie sich dann dazu berufen fühlen, wie Menschenrechtsanwältinnen für seine Bedürfnisse einzustehen.“

Wäre das auch dein Ansatz, um anderen AP näherzubringen?

„Ich selbst sehe das etwas zwiegespalten. Denn ich halte es für sehr wichtig, sich für Kinderrechte stark zu machen. So nehmen wir es heute beispielsweise als selbstverständlich hin, dass Kinder in Deutschland nicht geschlagen werden dürfen. In den 70ern sah das aber noch ganz anders aus. Hätten sich damals nicht ein paar Menschen unbeliebt gemacht, indem sie sagten, dass das so nicht geht, wären wir nie so weit gekommen. Gleichzeitig ist es natürlich schwierig, zu entscheiden, wo genau die Gewalt beginnt, vor der wir Kinder schützen müssen. Sollten Schlaflerntrainings als seelische Gewalt verboten werden? Das fände ich gar nicht schlecht. Aber was ist mit Schimpfen – ist das nicht auch Gewalt? Sollte das dann auch strafbar sein? Menschen für kindliche Bedürfnisse zu sensibilisieren, halte ich also für sehr wichtig, aber wir müssen gleichzeitig auch das Recht der Eltern hochhalten, ihre eigenen Entscheidungen für sich und ihre Kinder treffen zu dürfen, so lange diese sie nicht in ihrer Würde verletzen. Nur: Darüber gibt es eben auch unter AP-Eltern keinen Konsens. Es gibt da auch Eltern, die am liebsten jedes Kind vor jeglicher Betreuung unter drei Jahren beschützen würden, im Namen der Bindung. Da hätte ich mit meinem jüngsten Sohn und unserer tollen Tagesmutter dann zum Beispiel ein echtes Problem.“

„Ich bin eine ‚Attachment Parenting Mum’ und überzeugte Impfbefürworterin – und sehe darin nicht den geringsten Widerspruch.“

Wenn wir schon bei Auseinandersetzungen sind: Du hast dich auch schon kritisch mit AP und dem Impfen beschäftigt. Denn viele, die bindungsortientiert erziehen, haben durchaus Probleme damit, dass ihr Kind geimpft werden soll.

„Ich bin selber klare Impfbefürworterin und meine Kinder sind alle drei geimpft. Für mich ist das auch Bestandteil von meinem bindungsorientierten und verantwortungsvollen Elternsein, denn ich will das Beste für meine Kinder, will dass sie körperlich und seelisch unversehrt aufwachsen, und dazu gehört für mich auch, dass sie geimpft sind. Dabei geht es mir nicht nur um sie selbst, sondern auch um die Kinder, die aufgrund von Immunerkrankungen oder ähnlichem nicht geimpft werden können, und die ich durch die Impfungen meiner Kinder mit schütze. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn ein Kind, dass genauso ein Anrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit hat wie mein eigenes, möglicherweise lebensgefährlich erkranken würde, weil ich meine Kinder nicht habe impfen lassen.“

Was ist denn das Problem vieler AP-Eltern mit dem Thema?

„Nun ja, AP gilt ja oft als ein besonders natürlicher Weg der Elternschaft. Wie du vielleicht auch schon bei mir bemerkt hast: AP-Fans, wie ich auch, haben oft ein bisschen den Hang dazu, vieles mit der Natur, der Evolution und der Ethnologie zu erklären. Viele Grundgedanken des AP basieren darauf, zu sagen: Eigentlich zeigt uns die Natur schon ganz viel, was gut ist für unsere Kinder, wie das Stillen, Tragen und Co-Sleeping. Man kehrt also ein wenig dahin zurück, was die Ahnen und Ur-Ahnen auch schon richtig gemacht haben. Diese grundsätzlich ja richtige Idee, dass die Natur in vieler Hinsicht total genial ist, spricht aber natürlich auch viele Menschen an, die eine sehr unwissenschaftliche, fast schon religiöse Naturverehrung betreiben. Die verlieren dann aus dem Blick, dass die Natur zwar super ist, aber nicht unbedingt am Überleben jedes einzelnen Individuums interessiert ist. Evolution funktioniert nun einmal so, dass der Arterhalt wichtig ist, nicht jeder Einzelne. Das sehen wir heute zum Glück anders, und haben deshalb so unnatürliche Lebensretter erfunden wie Asthmamedikamente, Chemotherapien oder den Kaiserschnitt. 


Als moderne Eltern befinden wir uns eben in dem Spannungsfeld, ganz gleich ob AP-Bewegung oder nicht, dass wir einerseits das Gefühl haben, wir wollen zurück zu einer natürlichen Elternschaft, und andererseits dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und sämtliche Errungenschaften der letzten 2.000 Jahre einfach als unnatürlich verdammen. Und genau das ist das Problem beim Impfen. Impfen wird von vielen Eltern als unnatürlich empfunden, weil es ein Eingriff ins Immunsystem ist und auch viele negative Assoziationen weckt, im Sinne von: Muss man so einem perfekten jungen, unschuldigen Organismus wirklich schon so früh eine Spritze nach der nächsten reinrammen? Das fühlt sich intuitiv einfach nicht gut an, auch für mich nicht. Und dann sagen AP-Vertreter ja immer, Eltern sollten bloß auf ihr Bauchgefühl hören! Und wem sagt schon das eigene Bauchgefühl: Bring dein gesundes Kind zum Arzt, und lass ihm dort eine Spritze geben, um es vor einer Krankheit zu schützen, die es nicht hat? Das ist eine Kopfentscheidung, die man aufgrund von Studien und dem Verständnis von so etwas Komplexem wie der Herdenimmunität treffen muss – das Bauchgefühl bringt einen da nicht weiter.“

Es leuchtet ja ein, bei einigem über die Natur zu argumentieren. Aber Evolution bedeutet eben auch Weiterentwicklung.

„Absolut. Aber jede Bewegung zieht eben auch ein bestimmtes Klientel an. Und beim AP landen eben überdurchschnittlich viele Menschen, die sich im Internet etwas selbstironisch gerne als ‚Öko-Hippie-Rabenmütter‘ bezeichnen – so heißt ein bekannter Blog zum Thema. Diese Mütter haben also gemeinsam, dass ihnen Ökologie und Nachhaltigkeit sehr am Herzen liegen. Sie leben oft vegetarisch oder vegan, kaufen viel im Bio-Laden ein, wählen überdurchschnittlich oft Grün – und viele von ihnen stehen eben auch der Schulmedizin skeptisch gegenüber, weil sie sie ihnen so technisiert vorkommt. Und wenn ich sowieso schon eher alternativmedizinisch unterwegs bin, dann bin ich eben meist auch impfkritisch angehaucht, ganz gleich ob AP oder nicht. Das heißt: Viele Menschen sind schon Impfkritiker und kommen erst dann zum AP.

Es gibt aber natürlich auch Eltern, die interessieren sich anfangs wirklich nur für ein bindungsorientiertes Familienleben, und lassen sich dann von den vielen Impfkritikern in AP-Kreisen verunsichern. Das ist tatsächlich ein großes Problem und ein Grund dafür, dass Impfdiskussionen in vielen bindungsorientierten Facebookgruppen mittlerweile verboten sind. Umso wichtiger ist es mir, ganz klar zu sagen: Ich bin eine ‚Attachment Parenting-Mum‘ und überzeugte Impfbefürworterin – und sehe darin nicht den geringsten Widerspruch.“ 

„Viele Mütter waren total fertig, ganz ohne langes Stillen und Tragen. Und ich war in meiner ‚Ich-verwöhne-mein-Kind-nach-Herzenslust’-Blase total glücklich.“

Wenn wir mal zu deinen Anfängen zurückgehen: Hattest du je das Gefühl, dass dich dieses Erziehungskonzept überfordert – als du vielleicht auch noch dachtest, du müsstest dieses oder jenes tun, um AP „richtig“ zu machen. 

„Nein. Ich habe mich ja durch meine Begegnung mit AP-Müttern in Kanada und meine anschließende Recherche schon in das Thema eingelesen, bevor ich überhaupt Kinder hatte – und das, was ich da zu lesen bekommen habe, hat sich einfach gut angefühlt. Es war sehr bestärkend zu lesen: Hör auf dein Herz, mach das nach deinem Gefühl, du bist die Mutter. Das habe ich mitgenommen, dass ich mir von niemandem sagen lasse, was gut ist, sondern auf mein Herz, mein Kind und mein Gefühl höre – und danach wird entschieden. Mit dieser Haltung bin ich dann in meine erste Schwangerschaft gegangen und war, obwohl ich da erst 23 war, dadurch sehr selbstbewusst. Ich habe also in der achten Woche eine Hebamme angerufen und gesagt: Ich bin schwanger und war bis jetzt noch nicht beim Arzt, aber ich brauche eine Hebamme, weil ich mein Kind zuhause bekommen will. Außerdem möchte ich es ausschließlich stillen, viel im Tragetuch tragen, und nicht schreien lassen. Für mich war das total wertvoll, da schon so ein Bild im Kopf zu haben, was für eine Mutter ich gern sein will. Gleichzeitig haben mein Mann und ich schon damals besprochen, dass es uns im Kern nicht um diese Features geht – wenn sich das mit dem Tragen oder Stillen total doof angefühlt hätte, hätten wir es eben gelassen – sondern dass es diese Haltung ist, die wir auf jeden Fall beibehalten wollen. Dass wir nie auf Distanz, sondern immer auf Nähe zu unserem Kind setzen. 

Und diese Haltung hat uns tatsächlich durch alles getragen, von der Babyzeit bis zur Vorpubertät meiner Kinder. Und ich glaube wirklich, ich hätte heute keine drei Kinder, wenn ich nicht auf diesen Weg gestoßen wäre, weil er für uns so vieles so viel einfacher gemacht hat. Ich habe das ja bei anderen Frauen in der Krabbelgruppe mitbekommen, wie gestresst und übermüdet sie durch das ständige nächtliche Aufstehen waren, und welche Vorwürfe sie sich machten, wenn sie doch wieder eingeknickt und das Baby mit zu sich ins Bett genommen hatten. Oder dass es stressig war, wenn die Kinder keinen Brei essen oder nicht in den Kinderwagen wollten. Viele Mütter waren da total fertig, ganz ohne langes Stillen und Tragen. Und ich war in meiner ‚Ich-verwöhne-mein-Kind-nach-Herzenslust’-Blase total glücklich. Genau dieses tiefe Glücksgefühl gab mir damals auch den Impuls, erstmals über bindungsorientierte Elternschaft zu schreiben. Ich war einfach so froh, in Kanada auf diese Philosophie gestoßen zu sein, dass ich diese Entdeckung unbedingt mit anderen Eltern teilen wollte. Ohne jemanden unter Druck zu setzen, einfach nur um zu zeigen, wie viel Spaß das macht.“

„Was immer wieder vergessen wird, wenn es um AP geht: Diese Idee, dass Babys am liebsten 24 Stunden am Tag Körperkontakt haben wollen, die ist auf die Bedürfnisse ganz kleiner Babys zugeschnitten.“ 

Gibt es für dich so etwas wie „Zu viel Fürsorge“ für das Kind? 

„Ja, das gibt’s schon. Es gibt doch dieses uralte Sprichwort, das immer auf Grußkarten steht: ‚Man muss Kindern Wurzeln und Flügel geben. Und da ist schon was dran – auch wenn es von der grundsätzlich fürsorglichen Haltung meiner Meinung nach nicht zu viel geben kann. Es ist nicht so, dass Eltern Sorge haben müssen, ihre Kinder zu sehr zu lieben oder ihre Nähebedürfnisse zu sehr zu beantworten. Aber zu der Feinfühligkeit, von der ich immer wieder spreche, gehört eben auch, nicht nur das Bedürfnis nach Nähe, sondern auch das nach Autonomie zu erkennen und zu respektieren. Was immer wieder vergessen wird, wenn es um AP geht: Diese Idee, dass Babys am liebsten 24 Stunden am Tag Körperkontakt haben wollen, die ist auf die Bedürfnisse ganz kleiner Babys zugeschnitten, die aus dem Bauch an diesen steten Körperkontakt gewöhnt sind und denen so der Übergang in die Welt leichter gemacht werden soll. 

Wie so ein viertes Schwangerschaftstrimester, in dem sie noch nichts müssen, sondern einfach ganz viel Geborgenheit bekommen, aus der sie sich nach und nach sowie mit eigenem Tempo herausentwickeln können. Aber es gibt eben auch Mütter, die die Symbiose mit ihrem Baby so sehr genießen, dass sie sie auch dann nicht loslassen können, weil ihr eigenes Bedürfnis nach Bindung so stark ist. Dann besteht die Gefahr, dass sie versuchen, ihr Kind ewig in diesem Baby-Zustand zu halten. Das will AP aber nicht. Das merke ich auch bei meinem Kind ganz deutlich: Schon jetzt, mit 18 Monaten, stößt mein kleiner Sohn mich manchmal weg und will Dinge alleine machen, bevor er zum stillen und kuscheln dann wieder zu mir kommt. Da gilt es dann einfach, nicht verletzt zu reagieren, sondern sein Bedürfnis nach Autonomie genauso anzunehmen wie alle anderen Bedürfnisse – und da zu sein, wenn er wieder Nähe tanken will.“

Du fragst auf deinem Blog: „Können wir es schaffen, den Begriff des „Attachment Parenting“ für uns neu zu definieren und die Idee so von ihrem Image des Selbstausbeuterischen, Sexistischen zu befreien? Hast du schon eine Antwort darauf gefunden?

„Ich bin immer noch auf der Suche. Mit dem Begriff ‚Attachment Parenting‘, der ja vor allem eine gute Bindung in den Mittelpunkt stellt, können wir durchaus arbeiten. Dafür ist für mich jedoch eine kritische Reflexion seines Erfinders William Sears unerlässlich, der sich unzweifelhaft für mehr geborgene Babys auf der Welt stark gemacht hat, in einem anderen Elternratgeber aber beispielsweise davor warnt, unmännliche Väter könnte zu schwulen Söhnen führen, was unbedingt zu vermeiden sei. Gleichzeitig können wir uns natürlich auch fragen, ob es für einen bindungs- und beziehungsorientierten Weg wie unseren überhaupt noch ein Label braucht, wo doch mehr und mehr Eltern ohnehin so mit ihren Babys umgehen, ohne dafür einen Namen zu kennen oder zu brauchen. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster, mit dem ich vor zwei Jahren ein Buch zum Thema Kinderschlaf geschrieben habe, hat neulich deshalb vorgeschlagen, den Begriff einfach durch ‚normal parenting’ zu ersetzen, weil es doch eigentlich das Normalste auf der Welt sein sollte, Kinder wertschätzend ins Leben zu begleiten. Und das ist tatsächlich auch mein Traum, dass wir irgendwann gar keinen Spezialbegriff mehr brauchen, weil alle Menschen sagen: Klar sind Kinder gleichwertige Menschen und wir sollten sie mit Liebe und Respekt ins Leben begleiten – was denn auch sonst?“

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