Die Arbeitswelt ist auf 20- bis 30-Jährige Workaholics eingestellt, die bereit sind viele Opfer zu bringen. Es gibt keinen Platz für Kinder, die Pflege von Angehörigen oder die eigene psychische Gesundheit. Das muss sich ändern.
Mit Mitte 20 fühlt man sich unbesiegbar
Unsere Arbeitswelt kennt keine Kompromisse. Sie ist auf höchstleistungsbereite 20- bis 30-Jährige ausgerichtet, die bereit sind, ihre Karriere über alles zu stellen. Und diese Bereitschaft wird belohnt. Man ist erfolgreich, schafft es aus der WG in die eigene Wohnung und dann in die Eigentumswohnung.
In dieser Phase glaubt man tatsächlich alles schaffen zu können. Man befindet sich auf dem Höhepunkt der eigenen Leistungsfähigkeit, ungebremst von Kindern und alternden Eltern. Alles scheint möglich, man fühlt sich unbesiegbar und glaubt, dass auch Familie, Karriere und die Pflege von Anehörigen easy unter einen Hut zu bringen wären, wenn man müsste. Das flüstert einem der „Lean-Geist” des 21. Jahrhunderts zu. Damit meine ich das Prinzip, dass alle Prozesse und die eigene Arbeitskraft dauerhaft schnell, effizient und wahnsinnig produktiv sein kann.
Man kann nicht ewig 150 Prozent leisten
Leider bleibt man nicht sein ganzes Leben zwischen 20 und 30. Jenseits der 30 spürt man plötzlich die Grenzen dieses Prinzips. Ab da geht es nämlich bergab. Und plötzlich ist der Glaube an den Mythos des ewigen Wachstums mit den Themen Kinder, Krankheit, Pflege, Alter, Einschränkungen und dem Bedürfnis nach Ruhephasen konfrontiert. Dinge, die die Gesellschaft aber nicht berücksichtigt.
Dabei könnte sie es besser wissen. So viele über 30-Jährige wie jetzt gab es noch nie. Erstaunlich, dass wir uns selbst so demontieren, dass wir es wirklich zulassen, ja, danach streben „lean” zu sein. Dass das 24/7 für den Job in einem nicht kleinen Teilen unserer Gesellschaft, der das Privileg hat sich zu entscheiden, trotzdem immer noch auf Platz 1 der Lebensstile zu rangieren scheint.
Mit dem Kind stellt sich die Gleichberechtigungsfrage neu
Spätestens mit Kindern fängt sie meistens an, die Suche nach Balance, die ganz häufig eher ein Drahtseil-, denn ein Balanceakt ist. Spätestens dann kommt die Erkenntnis, dass man mit dem Kind Krankheiten bekommt, von denen man vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Dinge, wie „Hand-Mund-Fuß”. Dass man ungewollt eine Eintrittskarte für’s Krankheitskarussel gewonnen hat und ab November alle der Reihe nach Magen-Darm, Schnupfen und Husten bekommen und wenn alle einmal durch sind, der Spaß von vorne losgeht.
Mit Anfang 30 lernt man dann, dass gleichberechtigtes Arbeiten nicht nur bedeutet, das Kind von sieben bis 17 Uhr in die Kita zu stecken (das ist wirklich ein Luxusproblem zweier Akademiker). Man merkt, dass die traditionellen Rollenbilder einen ruckzuck von hinten anfallen und niederstrecken können. Dass Kinder häufiger als die zehn vom Arbeitgeber genehmigten Krankheitsbetreuungstage krank werden. Dass man nicht mehr nur an seinem Arbeitsplatz Höchstleistung abliefern muss, sondern auch noch zu Hause viel Verantwortung trägt. Und dass das die Leistungsgesellschaft nicht interessiert.
Man lernt, dass, wenn der Mann die Krankheitsbetreuung des Kindes übernimmt, er auch 2018 noch ernsthaft gefragt wird, warum das nicht seine Frau machen könne. Dass Männer anscheinend angeblich immer besser ausgebildet sind und mehr verdienen und die Frauen deswegen ganz logischerweise zu Hause bleiben sollten. Dass Frauen Führungspositionen in Teilzeit haben können, aber Männer für eine Führungsposition Vollzeit arbeiten müssen. Das macht ja nach dem alten patriachalen System auch total viel Sinn …
Kein Raum für Belastungen
Wenn man Kinder hat, fühlt man sich manchmal wie ein minderwertiger Teil unserer Gesellschaft. Wenn man körperlich oder psychisch krank wird, fühlt man sich wie ein minderwertiger Teil der Gesellschaft. Wenn man sich die älteren Menschen in unserer Gesellschaft anschaut, wird das auch nicht besser. Denn selbst, wenn man keine Kinder hat, haben doch die meisten von uns Eltern. Und Eltern werden irgendwann alt, und manchmal auch krank. Und dann lässt es sich auch nicht mehr so gut Höchstleistung bringen, wenn man sich plötzlich um die alten, kranken Eltern kümmern muss.
Natürlich kann man all diese Dinge auch outsourcen, ausgliedern, nach außen verlegen. Die Kinder in die Ganztagsbetreuung (bleibt das Problem mit dem Krankheitskarussel und den manchmal unlustigen Nächten), die Eltern ins Pflegeheim. Da freut sich dann der Geist unserer lösungs-, wachstums- und leanorientierten Gesellschaft. Er reibt sich die Hände und schüttet sich einen gewaltigen Bonus aus. Und dieses Wegorganisieren muss man sich auch erst einmal leisten können.
Höchste Zeit, dass sich etwas ändert
Muss das denn so sein? Nein, nicht wenn wir dem „Lean-Geist” unserer Gesellschaft mal so richtig ordentlich in den Hintern treten. Ein Ansatz dafür lautet: „New Work“, meiner Meinung nach die Gegenbewegung zu dem gierigen Hochleistungsgeist unserer bisherigen Gesellschaft.
Woher kommt der „Lean-Geist” unserer Gesellschaft? Aus der patriachalen Geschlechtertrennung. Als Frauen noch fast ausschließlich zuhause blieben, gab es keine Kranken, Alten und Kinder in den Büros. Es kamen ja nur die gesunden, ausgeschlafenen Männer. Die übernächtigten, versorgenden Frauen und ihre Kinder blieben ja zu Hause. Das Problem begann aus patriarchaler Sicht mit der Emanzipation der Frau. Mit der Idee, der Arbeitsmarkt könnte auch etwas mit den Frauen anfangen. So eine dumme Idee. Denn mit der Emanzipation der Frau, mit der Bildungsoffensive, mit dem Teilen von Arbeit und Haushalt kam vielleicht noch Leistung dazu, aber gleichzeitig kamen die Viren und die Bakterien nun auch zu den zu Höchstleistung gezwungenen Männern.
Damit Frauen richtig in der Arbeitswelt ankommen können, brauchen wir eine echte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Und die ehrliche Bereitschaft, Strukturen zu schaffen, die nicht nur die Vorteile, sondern auch die neuen Herausforderungen berücksichtigen.
Vom „Lean-Geist” zum „New-Work-Geist”
Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel. Mit dem „Lean-Geist” stoßen die klassischen Unternehmen langsam an ihre Grenzen. Mit der Gleichberechtigung der Frau kommt nicht nur die Frau auf den Arbeitsmarkt und die Karriere des Mannes bleibt unangetastet. Nein, mit der Gleichberechtigung der Frau, Familienarbeitszeiten, Work-Life-Balance verändern sich ganz selbstverständlich auch die klassischen Karrierestufen des Mannes. Ziel kann es nicht sein, dass Lebenspartner*innen auch eine Karriere anstreben, die keine Rücksicht auf Verluste kennt, sondern eine neue Idee von Arbeit und Leben, eine neue Idee von Kind und Karriere zu entwickeln, die eine Balance darstellt. Teilhabe an der Arbeitswelt für alle. Eine neue Gesellschaft – nicht nur für 20-30 Jährige. Das ist die wohl größte Herausforderung der heutigen Arbeitswelt. Aber es lohnt sich – für alle.
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