Wir können uns selbst aus unserer Einsamkeit heraushelfen. Das schreibt die 71-jährige Greta Silver, Bloggerin, Speakerin und YouTuberin in ihrem neuen Buch.
Manche 66-Jährige wissen mit dem Wort „YouTube” kaum etwas anzufangen. Irgendwas mit Videos? Greta Silver hingegen startete in diesem Alter ihren eigenen Kanal auf der Videoplattform. Heute, fünf Jahre später, folgen ihrem Account rund 19.000 Abonnent*innen. Nachdem sie ihre drei Kinder groß gezogen hatte, gründete sie nicht nur den Video-Kanal, sondern auch einen eigenen Blog und arbeitete als „Best-Ager”-Model und Speakerin.
Ihr erstes Buch „Wie Brausepulver auf der Zunge”, in dem sie ihren Lebensweg schildert und erzählt, was sie aus schwierigen Krisen wie ihrer Scheidung oder Phasen des Selbstzweifels gelernt hat, wurde zum Spiegel-Bestseller gekürt. Silver findet immer wieder zurück zur Lebensfreude. „Heute fühle ich mich sehr reich, weil ich beide Phasen leben konnte – intensiv Hausfrau und Mutter mit Marmeladekochen und dann noch mal richtig Gas geben als selbständige Unternehmerin”, sagte sie letztes Jahr bei uns im Interview. Am 19. November ist ihr zweites Buch „Alt genug, um sich jung zu fühlen“ erschienen. Darin setzt sie sich mit zwischenmenschlichen und persönlichen Themen wie Alltag, Verletzlichkeit, Glück und Angst auseinander. Sie geht der Frage auf den Grund, wann wir uns das letzte Mal unbeschwert gefühlt haben, wie uns der Alltag beim Glücklichsein in die Quere kommt und was Stress eigentlich bedeutet.
Gerade in den kalten, trüben Wintermonaten, wenn es auf die Advents- und Weihnachtszeit zugeht und sich alle in den Kreis ihrer Nächsten zurückziehen, fühlen sich viele Menschen besonders einsam. In diesem Buchauszug schreibt Greta Silver über dieses Gefühl und – fast noch wichtiger – darüber, wie wir die Einsamkeit überwinden können.
Weißt du eigentlich, dass du nicht einsam sein musst?
Fehlt uns das Vertrauen in uns selbst und andere, schotten wir uns ab aus Angst vor Verletzungen, dann scheitern wir schnell am Aufbau der für unser Glück so wichtigen Beziehungen. Ich kenne die schreiende Einsamkeit – auch als ich mitten in der Familie lebte. Es gab keinen, mit dem ich mich austauschen konnte, keinen, der mich verstand, keinen, dem es wichtig war, wie ich dachte. Keiner wollte meine Gedanken kennenlernen. Ich war liebevolle Versorgerin und als dies gern genommen. Mein Mann war in anderen Welten unterwegs, Beruf und Fernseher waren wichtiger.
Es gab so viel zu tun, dass ich mir über diese Einsamkeit nicht täglich Gedanken machen musste. Je mehr ich beschäftigt war, umso weniger fühlte ich den Schmerz. Der kam in der Stille, wenn ich allein war. Sehnsuchtsvolle Musik ließ mich erst recht in Traurigkeit versinken. Ich habe mich bedauert und sah keine Möglichkeit, da rauszukommen. Dachte, ich sei von anderen abhängig. Irgendwann verstand ich, dass jeder Mensch allein ist.
Niemand kann ihm die Verantwortung für sein Leben abnehmen
Niemand kann ihm die Verantwortung für sein Leben abnehmen – ob wir nicht nur allein, sondern auch einsam sind, das liegt in unserer Hand. Ich rede nicht von Kindern – sie lernen es erst Stück für Stück, Verantwortung zu tragen. Aber auf diese Verantwortung konnte und wollte ich auch gar nicht zurückgreifen, wenn es um meine eigene Mutter ging.
Diese Erkenntnis krempelte mein Leben komplett um. Äußerlich blieb alles beim Alten – aber ich litt nicht mehr, ich handelte. Ich ging auf die Menschen zu. Heute weiß ich, dass diese Klarheit in mir vollkommen neue Signale nach außen sendete. Das Umfeld spürt, wenn man offen ist für neue Beziehungen. Andere Menschen kamen plötzlich auch auf mich zu – man fand sich und schloss neue Freundschaften.
Superkraft Neugier
Nur wir selbst können uns aus der Einsamkeit befreien. Können uns öffnen für andere. Begeisterungsfähigkeit und Neugier sind die wichtigsten Eigenschaften, um jung zu bleiben – das hat die Hirnforschung bewiesen. Diese Eigenschaften führen uns auch aus der Einsamkeit heraus. Sich wieder für etwas anderes interessieren. Was waren die alten Hobbys und Träume?
Neugier – damit meine ich auch, sich für das Leben der anderen zu interessieren. Wenn man mitbekommt, dass die Nachbarin krank ist, dann ruhig mal klingeln und fragen, ob man den Einkauf erledigen kann oder ob man in der Zeit mal mit dem Hund gehen soll. So etwas schafft Beziehungen. Nicht dieses so verbreitete „Das geht mich nichts an”. Doch, ich finde schon. Jemandem helfen zu können macht beide Seiten glücklich.
Vielleicht mag man selbst solche Hilfe nicht annehmen, weil man keine Verpflichtungen haben möchte. Man glaubt dann, eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Schrecklich, dieser Kreislauf. Ich finde es daher sehr charmant, wenn man gleich sagt: „Nicht, dass Sie auf die Idee kommen, Sie müssten das für mich auch mal machen – nein, Sie werden das einfach bei anderen machen.” Die Kette geht immer weiter, nicht vor und zurück.
Menschen haben Angst als einsam entlarvt zu werden
Das alles schreibt sich leicht, und doch weiß ich, dass manche sich so weit zurückgezogen haben, dass diese Schritte schon riesig wären. Sie sind richtig menschenscheu geworden. Ich vermute, aus Angst, nicht verletzt zu werden. Aber genau weiß ich es nicht.
Ich hatte mal eine Freundin, die mir erst später gestand, dass sie sehr einsam war. Auch sie hatte Familie – einen Mann und drei Kinder. Sie sagte, sie schaue manchmal einfach aus dem Fenster und wisse nicht, was sie außer putzen machen solle. Sie hatte eine perfekte Mauer um sich herum aufgebaut – keiner ahnte etwas. Wenn ich anrief, um zu fragen, ob sie mitkommen wolle ins Kino oder zu einer Ausstellung, dann habe sie manchmal nur deshalb nein gesagt, damit ich nicht merkte, dass sie einsam sei. Sie wäre liebend gerne mitgekommen. Ich glaube, so geht es vielen. Man schämt sich für seine Einsamkeit, als sei das ein Makel.
Das darf nun wirklich nicht sein. Wie kann man sich aus dieser Situation befreien? Es gibt im Internet die Möglichkeit, nach Postleitzahlen sortiert ein Ehrenamt in der Nähe zu finden, zum Beispiel über die Aktion Mensch. Da kann man aus 16 verschiedenen Rubriken wählen. Ob im Bereich Kultur oder Bildung, ob bei Tierschutz oder Kranken, die Auswahl ist groß. Sich dort mal zu informieren, da hinzugehen als jemand, der nicht um etwas bittet, sondern der anderen helfen möchte – das kann ein guter Weg aus der Zwickmühle sein.
Das Leben anderer fröhlicher gestalten hilft bei Einsamkeit
Es weiß keiner, was unsere Motivation ist, ob wir die Welt etwas besser machen wollen oder ob wir dabei auch etwas für uns tun, um aus der Einsamkeit rauszukommen. Und so hat man auch wieder etwas zu erzählen. Kann der Nachbarin oder den Kindern davon berichten, was man erlebt hat.
Ich habe mich damals in der Caritas, einer kirchlichen Organisation, ehrenamtlich engagiert und alte Menschen, die alleine waren, besucht. Bin auch mit ihnen zusammen einkaufen gegangen oder habe einfach nur geplaudert. Das hat mir sehr geholfen. Wenn sie mir ihre Kriegsgeschichten erzählten, dann wusste ich, dass meine Probleme Kinkerlitzchen waren. Ich kam immer sehr gut gelaunt von diesen Treffen nach Hause – wissend, dass ich auch das Leben der anderen etwas fröhlicher gestaltet habe.
Wenn man es nicht mehr gewohnt ist, sich zu unterhalten, dann wählt man Tätigkeiten, wo das auch gar nicht gefragt ist. Ob man nun im Tierheim fragt, ob man helfen kann, oder in der Schule als Lesepat*in zur Verfügung steht (dabei lesen Kinder einem etwas vor, und man korrigiert sie liebevoll in der Aussprache). Ich zum Beispiel habe auch ehrenamtlich in der Schule meiner Kinder gearbeitet und ausländischen Kindern beim Deutschlernen geholfen. Ich habe Kinderbücher mitgenommen und die Gegenstände benannt, habe mit ihnen alltägliche Vokabeln wie „Tür auf und zu machen” oder „sich hinsetzen” geübt. Eigentlich war das alles Pantomime, denn ich konnte die Sprache der Kinder gar nicht. Dabei wurde viel gelacht, und irgendwie kamen wir doch voran und lernten alle dazu. Wenn einem diese Art des Gesprächs nicht liegt, man sich aber auch nicht gut genug fühlt, um mit Hunden Gassi zu gehen, kann man vielleicht das Equipment in seinem Sportverein auf Vordermann bringen. Da hat man nur lockeren Kontakt zu anderen, muss also nicht selbst für Unterhaltung sorgen.
„Die reinsteForm des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und zu hoffen, dass sich was ändert.”
Eine Alternative zum Ehrenamt sind die in vielen Städten organisierten Tauschbörsen, manchmal nach Stadtteilen sortiert. Da tauschen Menschen das, was sie brauchen, gegen etwas, was sie geben können. Nicht immer direkt, sondern über einen Pool. Also jemand benötigt zum Beispiel Hilfe bei der Fahrradreparatur und könnte das ganz toll mit Kuchenbacken oder Suppekochen ausgleichen. Wenn der*die Fahrradkünstler*in nun gar keine Suppe oder Torte mag, könnte das schwierig werden. So tauscht man Punkte. Jemand anders bekommt den Kuchen und gibt dann Punkte an den Helfenden weiter.
Ich merke gerade, es wird unübersichtlich. Aber das ist gar nicht so schlimm. Besser ist es, im Internet auf die Suche zu gehen, wo es solche Tauschbörsen gibt. Es ist unglaublich, was da alles angeboten wird. Von Gitarrenunterricht für Anfänger*innen und für Fortgeschrittene über Handy-Hilfe oder Internet-Schulung bis zur Strickhilfe und Kalligraphie ist alles dabei. Jetzt sag bitte nicht, du kannst nichts, was andere brauchen können. Das glaub ich einfach nicht. Den Hund ausführen, wenn jemand krank ist, geht immer, oder Pakete annehmen oder genau das, womit dein Umfeld dich früher immer genervt hat. Das, womit sie immer zu dir kamen, weil du es doch so schnell oder besonders gut konntest.
Ich möchte das hier wirklich noch ein paar Mal wiederholen: Es kommt niemand vorbei und holt uns aus der Einsamkeit raus – so sehr wir uns das auch wünschen. Wir müssen selbst die ersten Schritte machen. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann doch bestimmt Einstein. Der sagte schon: „Die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und zu hoffen, dass sich was ändert.” Das tritt ganz bestimmt auch auf die Einsamkeit zu.
Greta Silver, Alt genug, um mich jung zu fühlen , Rowohlt Taschenbuch Verlag, Dezember 2019, S. 224, 16 Euro.
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