„Die Entstehung einer Essstörung ist komplex. Aber die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind der Nährboden dafür“, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli. Wie dieser Nährboden entsteht und was sich gesellschaftlich ändern muss, darüber hat die Ärztin ein Buch geschrieben. Wir haben mit ihr gesprochen.
„Wir sind nie als Einzelne schuld, wenn es zu einer Essstörung kommt“
In ihrem Buch „Size Zero: Essstörungen verstehen, erkennen und behandeln“ diagnostiziert Dagmar Pauli unserer gesamten Gesellschaft eine veritable Essstörung und geht den Ursachen dafür auf die Spur. Die Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychatrie der Psychatrischen Universitätsklinik Zürich findet sie unter anderem im unkritischen Umgang mit Social Media-Plattformen wie Instagram, aber auch in einem Zweitgenerationen-Konflikt, der sich insbesondere bei Töchtern mit ihren Müttern entspinnt. Worum es dabei genau geht, welche Warnzeichen man bei seinen Kindern unbedingt beachten sollte und wie sich ein entspannter Umgang mit Ernährung vorleben lässt, darüber hat sie mit uns im Interview gesprochen.
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Der Anlass, das Buch zu schreiben, war ein Plakat direkt vor der Klinik, das für eine Schönheits-OP warb – und das Sie sehr geärgert hat. Können die Kinder und Jugendlichen eine Behandlung überhaupt ernst nehmen, in der ihnen gesagt wird: Ihr müsst euer Aussehen nicht ändern, um selbstbewusst und schön zu sein? Wenn sie diese Signale von außen bekommen, wenn sie die Klinik wieder verlassen?
„Ja, das ist genau die Frage, die ich mir auch stelle. Denn man kommt ja gegen diese gesellschaftliche Beeinflussung nicht an. Deshalb war es mir wichtig, das auch einmal auf einer anderen Ebene zu besprechen, auf der man die gesellschaftlichen Bedingungen angeht. Die Jugendlichen werden ja nicht erst beeinflusst, wenn sie aus der Klinik rausgehen, sondern auch jeden Tag, während sie bei uns sind, etwa durch Instagram. Die Macht der Bilder ist stärker als das, was wir mit Worten vermitteln können. Und die Macht der Bilder ist allgegenwärtig. Unsere gesamte Gesellschaft hat verlernt, normale Körperformen schön zu finden, weil wir seit Jahrzehnten diese unrealistischen Bilder sehen.“
Die Verknüpfung von Sozialen Netzwerken und Essstörungen thematisieren Sie ja auch ausführlich im Buch. Wirkt das, was wir dort sehen, wirklich stärker als sich früher, bevor es diese Plattformen gab, etwa mit Topmodels aus Zeitschriften oder den Freundinnen zu vergleichen?
„Geändert hat sich erstmal die Intensität der Beeinflussung, weil man durch das Smartphone ständig Bilder vor Augen hat und ständig Bilder austauscht. Dadurch entsteht dann auch der stete, ungesunde Vergleich, weil man sich ja selbst dabei inszenieren muss und die anderen in ihrer Inszenierung sieht. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass man sich nachweislich schlechter fühlt, wenn man sich diese inszenierten Bilder von anderen anschaut. Also versucht man gleichzuziehen und gibt sich alle Mühe, wenn nötig mit Photoshop, um sich ähnlich darzustellen und das heizt dann den Wettbewerb immer weiter an. Natürlich hat man früher auch Models in Zeitschriften gesehen, aber das war eine Betrachtung aus Distanz. Es waren unerreichbare Idole. Aber wenn man die Freund*innen oder Follower*innen sieht, die eigentlich in der gleichen Liga kämpfen, dann ist das etwas ganz anderes. Der Druck entsteht durch den Vergleich mit Gleichaltrigen.“
Aber was ist die Konsequenz daraus? Seinen jugendlichen Kindern verbieten, sich auf diesen Plattformen herumzutreiben, wird ja nicht funktionieren.
„Ich glaube, dass wir vor allem als Gesellschaft Zeichen setzen müssen, indem wir etwa zu dünne Models auf Laufstegen verbieten. So dass wir dadurch Signale senden, die Jugendliche auch wahrnehmen. Wenn wir als Gesellschaft präventiv wirken, also etwa in der Schule Programme starten, in denen man lernt, medienkritisch zu rezipieren und sich etwa mit diesem Wettbewerb, mit Schönheitsidealen oder dem Fake durch Photoshop kritisch auseinanderzusetzen, dann hilft das. Ich glaube nicht, dass es über Verbote gegenüber den Jugendlichen laufen kann, sondern nur so, dass sie lernen, damit umzugehen. Denn die Welt wird sich sicherlich nicht wieder entdigitalisieren.“
Auch ärgern Sie sich über Sendungen wie Germanys Next Topmodel. Und schreiben: Junge Mädchen würden ihnen regelmäßig versichern, dass sie sich davon nicht beeinflussen lassen würden – Sie glauben aber nicht daran, dass sich junge Mädchen von den Botschaften distanzieren können. Warum?
„Weil ich weiß, dass Werbung uns unbewusst beeinflusst. Und das ist ja eigentlich auch eine allgemein bekannte Tatsache. Wir lassen uns, wie bereits gesagt, von Bildern sehr viel mehr beeinflussen als wir das denken. Und es wurde auch schon ganz konkret die Auswirkung von Germany’s Next Topmodel auf das Körpergefühl von Mädchen untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass Mädchen, die diese Sendung häufig schauen, sich dicker fühlen im Vergleich zu anderen, auch bei gleichem Körpergewicht. Ganz besonders die Mädchen, die schon sehr dünn und damit auch gefährdet sind, fühlen sich dicker. Das sind unbewusste Beeinflussungen, die aber ganz klar stattfinden. Und je jünger die Mädchen sind, die diese Sendung schauen, desto unkritischer sind sie, weil sie einfach nicht wissen, dass das keine echte Welt ist.“
„Schwierig wird es bei Mädchen oft auch dann, wenn die ersten Pubertätszeichen auftauchen, sich Oberschenkel und der Po verändern. Sobald sich etwas vorwölbt, wird das automatisch als dick wahrgenommen.“
In Ihrem Buch gibt es eine Zahl, einer Studie, die ergab: 60 Prozent der Mädchen ab zehn Jahren finden sich zu dick. Es gibt andere Studien, die zeigen, schon wesentlich jüngere Kinder nehmen sich als zu dick wahr. Sehen Sie das auch in Ihrem Berufsalltag, dass Kinder, die potenziell in Gefahr sind, an einer Essstörung zu erkranken oder es bereits sind, immer jünger werden?
„Ja, das sehe ich auch in unserer Klinik, die Kinder werden jünger. Ich nenne das im Buch den Zweitgenerationen-Effekt, der sich darin zeigt, dass die heutigen Mütter auch schon mit diesen extremen Schönheits – und Gesundheitsidealen aufgewachsen sind. Und diese Mütter beobachten die Kinder von klein auf sehr genau und haben sehr schnell das Gefühl, dass das Kind zu viel isst und dick werden könnte. Dann kommen erste kleine Bemerkungen, die das Kind abspeichert. Aber selbst, wenn sie es dem Kind nicht direkt sagen, vermitteln sie diesem oft das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Und bei den heutigen Zehn- bis Zwölfjährigen wirkt dann auch schon der Medienkonsum mit hinein. Auch das beginnt einfach früher heute. So dass ich tatsächlich sehe, dass sich schon Kinder im Primarschulalter stark mit den Themen beschäftigen. Und das sind meist keine Kinder, die stark übergewichtig* sind. Schwierig wird es bei Mädchen oft auch dann, wenn die ersten Pubertätszeichen auftauchen, sich Oberschenkel und der Po verändern. Sobald sich etwas vorwölbt, wird das automatisch als dick wahrgenommen.“
„Kinder müssen erstmal gar nicht wissen, was gesund und was ungesund ist, was man essen soll und was besser nicht.“
Wissen ist doch aber grundsätzlich wichtig und gut – auch beim Thema Ernährung. Wie geht man als Eltern damit um? Welche Infos gebe ich denn an meine Kinder weiter und vor allem wie?
„Bei den Infos fängt es schon an, eigentlich sind die gar nicht nötig. Wenn gesundes Essen auf dem Tisch steht, am besten eine reichhaltige Auswahl von verschiedenen Sachen, und man sich nicht darauf fokussiert, dass das Kind nun unbedingt gesund essen muss, dann machen Kinder das eigentlich von alleine. Man kann natürlich auch Süßigkeiten anbieten, aber eben in einem bestimmten Ausmaß. Wichtig ist, vor allem den Genuss und den sozialen Aspekt des gemeinsamen Essens zu betonen. Das genügt. Kinder müssen erstmal gar nicht wissen, was gesund und was ungesund ist, was man essen soll und was besser nicht. Weil genau das schon viel zu früh zu viele Gedanken zu dem Thema erzeugt. Durch diese ständigen Gedanken darüber, was gesund und ungesund ist, wird man paradoxerweise eher dicker als dünner, weil man sich dadurch auf das Essen und auch das Verbotene fixiert und die Lust darauf steigt. So dass es viel besser ist, das zuhause oder auch in der Schule nicht zu früh zu thematisieren, sondern einfach regelmäßig und ausgewogen zu essen. Damit legt man den besten Boden dafür, dass die Kinder keine Essstörung entwickeln.“
„Durch diese ständigen Gedanken darüber, was gesund und ungesund ist, wird man paradoxerweise eher dicker als dünner, weil man sich dadurch auf das Essen und auch das Verbotene fixiert.“
Da kommen wir schon zum Nächsten: Schwierig ist ja auch das Thema Schuldgefühl, das bei Essstörungen im Raum steht. Wie erleben Sie Eltern, die ihre Kinder zu Ihnen schicken? Wie bewerten diese ihren eigenen Anteil an der Situation und wie kann man Eltern vielleicht auch die Schuldgefühle nehmen?
„Das ist ein ganz wichtiges Thema, dem ich im Buch auch seinen Raum gebe. Ich möchte auf keinen Fall, dass Eltern sich Schuldgefühle machen und damit aufhalten. Ganz besonders die Mütter nicht, denn es hat ja eine lange Tradition zu sagen: Die Mütter sind an allem schuld. Aber das ist nicht meine Meinung. Denn wenn wir es im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang sehen, dann sind wir alle, ich spreche auch von mir, so aufgewachsen und haben diese falschen Ideale in uns – und müssen versuchen, bewusst dagegen anzugehen. Wir müssen also auch bewusst versuchen, nicht zu viel über das Essen und über Diäten zu sprechen, keine negativen Bemerkungen über Figuren zu machen oder zu früh zu intervenieren. Wir sind nie als Einzelne schuld, wenn es zu einer Essstörung kommt, sondern wir sind als Gesellschaft einen falschen Weg gegangen. Und jetzt müssen wir auch gemeinsam wieder ein Gegengewicht schaffen.
Was mir aber auch ganz wichtig ist: Es ist nicht so, dass ein Mädchen eine Magersucht entwickelt, nur weil in der Familie über Diäten gesprochen wurde. Ich schreibe da auch im Buch ausführlich drüber. Wenn man eine Magersucht entwickelt, kommen immer noch andere Faktoren dazu. Die Diät ist mehr ein Auslöser als eine Ursache. Wenn Eltern also jetzt denken ,Ach hätte ich doch da nicht über Diäten gesprochen oder anders reagiert, dann hätte mein Kind nun keine Essstörung‘, dann kann ich sagen: So einfach ist das nicht. Die Entstehung einer Essstörung ist komplex. Aber die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind der Nährboden dafür. In Gesellschaften, die nicht diese extremen Schönheitsideale haben, gibt es auch nicht in dem Ausmaße Essstörungen, wie wir das bei uns kennen. Früher dachte man tatsächlich, dass die Eltern im Einzelfall schuld sind und vielleicht zu hohe Leistungsansprüche bestanden, die in eine Essstörung führten, aber so einfach ist es nicht.“
Sie beschreiben Fälle von Gewichtsphobie, in denen die Jugendlichen die Vorstellung haben, sie würden schon zunehmen, weil sie fettiges Essen nur anschauen. Wie kommt es zu diesen komplett irrationalen Ängsten? Und wie hängt das mit der Überinformiertheit zusammen die Jugendliche ja heute schon in Bezug auf das Thema Ernährung haben?
„Das ist eben dieser schmale Grat, der zwischen ‚normalen Diätgedanken‘, die viele haben, und der krankhaften Essstörung verläuft. Das kann sich fast unmerklich in wenigen Wochen oder Monaten verändern, bis es zu zwanghaften, irrationalen Essstörungs-Gedanken kommt. Psychische Krankheiten entziehen sich oft einfach der Rationalität. Meist passiert das, indem man so viel über gesundes und ungesundes Essen nachgedacht hat, dass es irgendwann in eine komplett irrationale Vorstellung kippt. Dann kommen Gedanken wie: ,Wenn ich ein Pommes-Stück esse, macht mich das extrem dick.‘ Oder eben in Einzelfällen sogar der Gedanke, die Kalorien fliegen durch die Luft und lagern sich schon an mir an, während andere neben mir essen. Das sind dann richtig stark erkrankte, zwanghafte Kinder, immer noch zu 90 Prozent Mädchen.
Der Weg in die Krankheit ist ein fließender Übergang. Das Schwierige ist, dass wir die irrationalen Symptome einer Essstörung von außen kaum noch nachvollziehen können. Wenn jemand richtig krank ist, hat es das Umfeld wirklich schwer, damit umzugehen. Dazu kommt dann die Wahrnehmungsverzerrung, die den eigenen Körper betrifft, wenn man sich als dick wahrnimmt, obwohl man schon sehr dünn ist. Das kann bis dahin gehen, dass sich jemand mit einer Körpergröße von 1,70m und einem Körpergewicht von 35 Kilogramm als sehr dick empfindet.“
„Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, dass das Aussehen und die Figur nicht das Wichtigste sind, sondern der Mensch an sich.“
Aber wie geht man denn damit dann um?
„Wenn man merkt, dass die Kinder, meist Mädchen, aber auch Jungen, sehr figurgeplagt sind, da geht es um das Selbstwertgefühl, dann sollte man früh intervenieren. Indem man versucht, darüber zu sprechen, ihnen die Selbstzweifel zu nehmen und sie positiv unterstützt. Und zwar in jeder Hinsicht! Nicht nur indem man sagt, deine Figur ist doch toll, sondern indem man den Selbstwert auf verschiedenen Gebieten aufbaut. Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, dass das Aussehen und die Figur nicht das Wichtigste sind, sondern der Mensch an sich. Und sie müssen lernen, dass sie sehr viele Eigenschaften haben, von denen nur eine das Aussehen ist. Da kann man sehr viel machen.
Gehen wir einen Schritt weiter und Eltern sehen, dass ihr Kind Diät macht, etwa in der Pubertät und beginnt, abzunehmen, dann sollte man sehr früh und sehr beherzt Stellung dazu beziehen. Und auch sagen: Jetzt ist es genug! Ein sichtbarer, schneller Gewichtsverlust ist immer ein Alarmzeichen, auch wenn das Gewicht noch im ‚Normalbereich‘ ist. Darüber muss man sprechen und am besten darauf bestehen, dass wieder gemeinsam gegessen wird. Wenn das nicht hilft, sollte man zu einer Fachperson gehen – denn in dem frühen Stadium kann man noch mit ganz wenigen therapeutischen Maßnahmen helfen. Da würde ich nicht zu lange zuschauen und auch formulieren, dass man sich große Sorgen macht. Wenn es schon eine richtige Essstörung ist, dann muss man auf jeden Fall fachliche Hilfe holen, das kann man als Eltern alleine nicht mehr stemmen.“
Das finde ich einen wichtigen Punkt. Ich könnte mir vorstellen, dass eine große Hemmschwelle gibt, sich professionelle Hilfe zu suchen und andererseits, so schreiben Sie es, diagnostizieren Sie unserer Gesellschaft als Gesamtes ja eine veritable Essstörung. Da ist ja das Problem, dass man es als Eltern gar nicht wahrnimmt, dass die Kinder in eine Essstörung abrutschen, weil man sich selbst in diesem Kreislauf bewegt.
„Das ist richtig. Häufig finden es die Eltern am Anfang sogar noch gut, wenn die Jugendlichen abnehmen. Weil es ja vermeintlich schön ist. Wenn jetzt etwa ein jugendliches Mädchen einen wohlgeformten Hintern und einen wohlgeformten Bauch hat, und damit aus diesen extremen Schlankheitsidealen herausfällt – in anderen Jahrhunderten wäre das ja wunderschön gewesen, aber bei uns gilt das als pummelig – , dann ist es sehr häufig so, dass Eltern das erstmal gut finden, wenn ihre Tochter fünf oder sechs Kilo abnimmt. Da wird sie noch positiv bestärkt. Aber ganz wichtig: Auch da sind die Eltern nicht schuld, denn sie sind ja selber Teil dieser Welt und versuchen vielleicht auch selbst seit Jahren ein paar Kilos zu verlieren. Dann bewundern viele erstmal die eigene Tochter für ihre Konsequenz – und bemerken dabei nicht, dass das der erste gefährliche Schritt ist. Und viele sehen auch gar nicht, dass es gar keinen Grund gab, abzunehmen, weil das eventuell einfach die natürliche Figur ihrer Tochter ist, die sehr gesund ist.
Viele wachen erst auf, wenn dann mal zehn Kilo oder mehr runter sind. Das hat einerseits mit einer fehlenden Wahrnehmung zu tun, aber auch damit, dass viele, selbst wenn sie alles wahrnehmen, erstmal hilflos sind. Denn sich da als Eltern durchzusetzen, ist gar nicht so einfach – und da habe ich auch vollstes Verständnis. Die Betroffenen wehren sich meist nämlich zunächst mal mit Händen und Füssen dagegen, dass man ihnen helfen will. Aber deshalb will ich Mut machen, so dass man wirklich schon früh versucht, an das Thema ranzugehen, indem man seine elterliche Autorität einsetzt und klar die Bedenken formuliert.“
Was ist denn ein Zeichen, fernab der Diäten, bei denen man bei seinen Kindern wachsam werden sollte?
„Das sind bei Kindern und Jugendlichen zu Beginn der Pubertät, auf jeden Fall die Selbstzweifel. Wenn ich merke, dass mein Kind wirklich sehr unsicher ist beim Thema Aussehen, dann ist das bis zu einem gewissen Grad normal, aber es ist trotzdem wichtig, das wahrzunehmen, und zu versuchen, dagegen zu steuern. Das muss nicht heißen, dass auf jeden Fall eine Essstörung im Anmarsch ist, aber ich finde es eben auch wichtig, schon im Vorfeld etwas zu tun. Das wichtigste Warnzeichen, und das bedeutet wirklich Alarmstufe Rot, ist ein sehr schneller Gewichtsverlust bei jungen Menschen. Das ist ein ganz hohes Risiko. Bei Erwachsenen gibt es ja auch manchmal durch Diäten einen schnellen Gewichtsverlust und da ist das größte Risiko, dass sie die Kilos schnell wieder zunehmen oder sogar noch mehr als zuvor. Der bekannte Jo-Jo-Effekt. Aber bei jungen Menschen muss man da noch mehr aufpassen, weil sie aus einem Gewichtsverlust sehr rasch eine Essstörung entwickeln können. Wenn auf dem Teller auf einmal nur noch Salat liegt, die Kinder blass werden und Ringe unter den Augen bekommen, dann ist das Alarmstufe Rot, selbst wenn sie noch nicht untergewichtig sind.“
„Die Diskriminierung von dicken Menschen ist ein riesiges Problem in unserer Gesellschaft, ganz besonders bei den Kindern und Jugendlichen.“
Mit dem Schlankheitswahn kommt ja auch das Fat-Shaming, also die Diskriminierung von dicken Menschen. Wie sehr sehen Sie das an den Jugendlichen, die Sie behandeln? Die Stigmatisierung von dicken Menschen ist ja allgegenwärtig. Wie gehen Sie damit um? Wie bringen Sie den Kindern bei: Das geht nicht?
„Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Die Diskriminierung von dicken Menschen ist ein riesen Problem in unserer Gesellschaft, ganz besonders bei den Kindern und Jugendlichen. Die Diskriminierung von allem, was nicht sehr schlank ist, führt ja dazu, dass man jedes Gramm an sich selbst ablehnt. Da wird in der aktuellen Prävention auch ganz viel falsch gemacht, auch wenn sich das etwas gebessert hat. Früher hat man vor allem versucht, gegen Übergewicht anzugehen, indem man das Gewicht anprangert und damit die Scham nur noch mehr verstärkt. Nach dem Motto: Das sind die, die sich nicht beherrschen können, die falsch essen, etc. Es wird so wahnsinnig viel Negatives mit Dicksein assoziiert, wie faul oder dumm – diese Adjektive kommen Menschen meist als erstes in den Sinn, wenn man an dick denkt. Essstörungen und die Ablehnung von Menschen, die dick sind, sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen unbedingt mit dieser Diskriminierung aufhören, weil wir uns damit am Ende nur selbst diskriminieren.“
Die seelische Belastung von dicken Menschen, die durch diese Diskriminierung entsteht, ist ja in der Regel sehr viel ungesünder als die Kilos.
„Ja, das ist so. Der Selbsthass, von Menschen, die dick sind oder sich dick finden, entsteht durch die Gesellschaft und führt zu einer enormen seelischen Belastung. Und das besonders bei Frauen. In dieser Beziehung ist der Feminismus wirklich noch nicht sehr weit gekommen. Dabei ist es ja gerade so, dass Frauen eben mehr Fettreserven haben als Männer, das brauchen wir auch. Und das herrschende Schönheitsideal geht gegen unsere Weiblichkeit. Wir sind noch nicht da, dass der Körper, so wie er ist, einfach akzeptiert wird. Und Frauen tun auch selbst zu wenig dafür, um sich davon zu befreien.“
„Der Druck auf diejenigen, die sich noch nicht operieren und optimieren lassen, steigt.“
Immerhin gibt es eine Body Positivity-Bewegung – aber auch wenn sie medial schon relativ präsent ist, ist das ja gesamtgesellschaftlich gesehen noch eine recht kleine Bewegung. Das Perfide ist, so scheint es mir, dass wir eigentlich gar keine Körperform wirklich annehmen können – ob dick oder sehr dünn, irgendwas scheint immer falsch. Um dahin zu kommen, wäre es meiner Meinung nach wichtig, keine Körperform als die ideale Körperform auszurufen.
„Das sehe ich auch so. Es gibt derart genau Vorstellungen davon, wie ein Frauenkörper aussehen soll, dass es für praktisch keine reale Frau erreichbar sein kann. Genau deshalb kann mit der Schönheitsindustrie ja auch so viel Geld verdient werden. Die Schönheitsoperationen, und damit kommen wir wieder zum Ausgangspunkt, nehmen so wahnsinnig zu und das führt auch dazu, dass unrealistische Körperformen immer normaler werden. Es geht ja bis ins hohe Alter, dass man sich dem Diktat der Schönheits- und Modeindustrie unterwirft. Da wird die Nicht-Sichtbarkeit des Alterungsprozesses zur Norm erhoben, indem immer mehr Frauen sich gegen Falten behandeln lassen. Da dürfen wir einfach nicht mehr mitmachen!
Und wenn gesagt wird, dass sich der Einzelne damit eben wohlfühlt, muss ich sagen: Ja, aber uns als Gesellschaft geht es damit nicht besser. Denn der Druck auf diejenigen, die sich noch nicht operieren und optimieren lassen, steigt. Und es ist ja auch immer nur ein sehr zeitlich begrenztes Glück, weil dann immer etwas Neues kommt, was vermeintlich noch schöner und besser sein müsste. Wir brauchen also einen Gegentrend dazu, den ungesunden und unnatürlichen Schönheitsidealen zu viel Bedeutung beizumessen.“
Dagmar Pauli: Size Zero: Essstörungen verstehen, erkennen und behandeln, C.H.Beck Verlag, 2018, 17 Euro.
*gemessen am Body-Mass-Index.
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