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Intuitive Eating – vergesst Diäten, vertraut eurem Hunger!

In Deutschland leben nach Schätzungen über zwei Millionen Menschen mit einer Essstörung, die sie im Alltag beeinträchtigt. Das Konzept „Intuitive Eating“ ist ein Ansatz, wieder zu einem gesunden Essverhalten zurückzufinden, und zu verstehen, was hinter Diäten steckt.

Kann man Essen verlernen?

Essen, wenn man hungrig ist und damit aufhören, wenn man satt ist. Das ist, was man sich wahrscheinlich unter Elyse Reschs und Evelyn Triboles Methode „Intuitive Eating“ vorstellt, wenn man sie noch nicht kennt. Das Konzept hat allerdings weit mehr zu bieten: Neben der Rückbesinnung auf körpereigene Signale hinterfragen die Ernährungstherapeutinnen, wie frauenfeindliche Gesellschaftsstrukturen unsere Einstellungen und Ängste zum Thema Essen beeinträchtigen. Dass wir uns nämlich beim Essen einschränken, egal ob tatsächlich oder immer wieder darüber nachdenken, was wir essen wollen und was nicht, sei ein Resultat systematischer Entmachtung, um Frauen „beschäftigt“ zu halten und ihnen damit Zeit und Energie für andere Aktivitäten zu rauben. Wie die Autorin Naomi Wolf schon vor Jahren schrieb, gehe es einer Kultur, die Frauen auf Dünnheit eicht, nicht um weibliche Schönheit, sondern um weibliche Unterwerfung: „Diäten sind das stärkste politische Beruhigungsmittel der Geschichte – eine schweigsame, heimlich kranke Bevölkerungsgruppe ist einfacher lenkbar.“

Resch und Tribole, die US-Amerikanerinnen hinter dem Konzept des intuitiven Essens, helfen also nicht nur dabei, sich von Essstörungen zu befreien, sondern auch dabei, unsere Körper aus den Klauen des Patriarchats zurückzuerobern, indem sie das Verständnis für vernachlässigten Bedürfnisse stärken. In zehn Prinzipien, deren erstes lautet, dem Diätwahn komplett und dauerhaft abzuschwören, führen sie ihre Klientinnen und Klienten wieder Schritt für Schritt an ein verlorene geglaubtes, gesundes Körpergefühl heran.

Die meisten Diäten wirken nicht

Wir wissen bereits, dass Abmagerungskuren nicht funktionieren – 95 von 100 Leuten wiegen nach ihrer Diät mehr als vorher – und lernen, dass der Psychostress, der mit unzureichender Nahrungsaufnahme und Perfektionismus einhergeht, langfristig kränker macht als ein höheres Körpergewicht.

Das Konzept von Resch und Tribole möchte dabei helfen, das Vertrauen in das eigene Hunger- und Sättigungsgefühl wieder zu bekommen, sie ermutigen, uneingeschränkt das zu essen, was man möchte. Komplett ohne Netz aus Fitness-Plan und doppelten Boden aus „gesunden“ Lebensmitteln, mit Hilfe derer wir die Aufnahme man „ungesunden“ ausgleichen solle. Dafür mit dem Hinweis, dass es eine Weile dauern kann, bis sich Essgewohnheiten nach jahrzehntelangen Verboten und Kalorien zähöen normalisieren und unsere Körper sich auf dem für sie individuellen Optimalgewicht einpendeln.

Studien belegen längst, dass restriktives Essverhalten Fressattacken verursacht – selbst, wenn wir uns nur manchmal und nur bestimmte Lebensmittel vorenthalten, und sogar, wenn wir nur daran denken, dass wir bestimmte Esswaren nicht essen sollten.

Welches Denken gestörtes Essen begünstigt

Woher kommt zum Beispiel die Idee, dass Eiscreme schlecht für uns sei, obwohl sie uns glücklich stimmt? Die Ernährungstherapeutinnen empfehlen dringend, die inzwischen normalisierte und beinahe vollautomatische Bewertung von Lebensmitteln in „gute“ und „schlechte“ sein zu lassen. Stattdessen betonen sie, dass alle Nahrungsmittel dem Körper dienliche Nährstoffe enthalten. Zucker und Fett, die gemeinhin einen schlechten Ruf genießen, sind zum Beispiel notwendige Energielieferanten für wichtige Gehirnfunktionen und die effiziente Verwertung von Vitaminen und Mineralien. Eher als auf einzelne Snacks oder Inhaltsstoffe, denen wir oft zu viel Einfluss zuschreiben, kommt es Resch und Tribole auf Abwechslung in der Nahrungsaufnahme über die Zeit an.

Psychische Gesundheit, etwa durch Überwindung einer Essstörung, kann nur erreicht werden, wenn unserem Gehirn ausreichend Wasser und Nährstoffe von der gesamten Palette zugeführt werden. Wer weiß, wie es ist, wenn die Gedanken an Essen den Tag dominieren, wird zu schätzen wissen, dass unser Gehirn durch obsessives Wiederholen bestimmter Schlüsselwörter bloß versucht, uns vor dem Verhungern zu retten: Keine leichte Aufgabe in einer Gesellschaft, in der Dünnsein neben Reichtum eines der wichtigsten Privilegien darstellt.

Weniger lebensnotwendig und häufig noch unangenehmer sind zudem all die Scham- und Schuldgefühle, mit denen wir kämpfen, wenn wir Lebensmittel essen, die wir uns oft willkürlich verboten haben. Dazu gehören Gedanken, wie sich „etwas zu erlauben“ oder davon auszugehen, dass ein bestimmtes Lebensmittel sofort zu Gewichtszunahme führen würde. Resch und Tribole nennen die innere Stimme, die uns diese Vorwürfe macht, die „Essenspolizei“. Mag sein, dass diese es gut mit uns meint, aber ihre Methoden sind schädlich – für Körper und Geist. Viel zu lange haben wir uns unrealistischen Erwartungen unterworfen; es ist an der Zeit, die Essenspolizei bestimmt und beharrlich mit einem lauten „NEIN!“ in den Ruhestand zu schicken. Denn egal, ob wir aus physischen oder psychischen Gründen essen, oder aufgrund äußerer Umstände wie etwa beim Abendessen mit Freunden: Jeder Anlass zur Nahrungsaufnahme hat seine Berechtigung.

Jeder Körper ist anders

Evolutionsbiologisch gesehen ist Essen darauf ausgelegt, dass es uns schmeckt und Freude bereitet. Wäre dies nicht so, wäre der Homo Sapiens inzwischen ausgestorben. Gene spielen darüber hinaus bei unserer Kleidergröße eine ebenso wichtige Rolle wie bei der Schuhgröße: Niemand würde von einer 39 verlangen, sich in eine 36 zu zwängen. Wie würden wir über uns denken, hätte man uns nicht unser Leben lang suggeriert, dass überall Optimierungsbedarf besteht? Dass unsere Haare nicht ausreichend glänzen, in unseren Kleiderschränken immer genau ein Teil fehlt und unsere Brüste nie groß oder klein genug sind?

Dass wir versuchen, ungute Gefühle mit Essen auszubessern, ist normal, natürlich und verständlich. Das Einzige, was zu bedenken ist, ist dass Probleme ebenso wenig weggegessen wie weggetrunken werden können. Um ihnen dauerhaft effektiv zu begegnen, müssen wir Bewältigungsstrategien erlernen, dank derer wir uns am nächsten Morgen besser fühlen statt schlechter. Resch und Tribole empfehlen, sich tröstende Rituale auszudenken, die nichts mit Essen zu tun haben. Solche, die uns nicht nur ermöglichen, selbstbewusst den Raum in der Gesellschaft einzunehmen, der uns zusteht, und solche, die uns dabei helfen, uns mit den Gedanken, wie seien nicht gut genug, weniger allein zu fühlen.

Es wird eine Weile dauern, wieder zu verlernen, was uns unser Leben lang eingebleut wurde: Weg mit Bildern dünner weißer Frauen, weg mit Instagram-Feeds, die grüne Smoothies bejubeln, weg mit dogmatischer Diät-Denke, die uns tagtäglich einzwängt. Egal, ob wir „zu viel“ oder „zu wenig“ essen, „zu viel“ oder „zu wenig“ wiegen, die Tatsache, dass wir uns mit unserem Gewicht beschäftigen, bedeutet, dass wir unsere Zeit und Intelligenz nicht für Dinge nutzen, die uns Spaß gut tun und auch die Zeit, um die Welt positiv zu verändern.

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