Foto: Natalia Figueredo | Unsplash

Nach der Klinik: Wie geht das Leben von Essgestörten Zuhause weiter?

Die Behandlung der Magersucht ist kompliziert und langwierig. Und die Annahme, Betroffene seien nach einer stationären Psychotherapie geheilt, ist ein Trugschluss. Der Kampf gegen die Essstörung im Alltag fängt dann erst richtig an.

 

Was kommt nach der Klinik?

Ohne Frage ist ein stationärer Klinikaufenthalt für die meisten Menschen mit Magersucht ein wichtiger und unvermeidlicher Schritt. Dort lernen sie in einem geschützten Raum und unter professioneller Betreuung, wieder zu essen. Doch wie können sie das, was sie in der Therapie gelernt haben, zu Hause umsetzen? Was passiert in alltäglichen Stresssituationen, die es in der Klinik nicht gibt?

Vor genau solchen Fragen steht Jule, 18 Jahre alt: Vor wenigen Wochen wurde sie aus einer Klinik für Essstörungen entlassen. Mehr als drei Monate hatte sie dort verbracht. Doch gerade mal eine Woche hielt sie durch und setzte das, was sie sich in der Klinik mühsam erarbeitet hatte, um. Dann fiel sie in alte Verhaltensmuster zurück. Seither spart Jule wieder Kalorien ein – zu stark sind die alten Gewohnheiten und ihr typisches Verhalten, mit dem sie Konflikte bewältigt.

Unsicherheiten bleiben

Vor zwei Jahren erkrankte Jule an einer bulimischen Magersucht: Die wenige
Nahrung, die sie überhaupt zu sich nimmt, erbricht sie. Als sie 17 Jahre alt war, wies ihre Hausärztin sie in ein Krankenhaus ein, wo sie zunächst einige Tage künstlich ernährt wurde, bevor die Ärzte sie nach zwei Wochen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiesen. 700 Gramm pro Woche musste sie dort zunehmen. Schaffte sie das nicht, drohten ihr Konsequenzen wie Ausgangssperre am Wochenende. Nach zwei Monaten wurde sie entlassen. Mit zehn Kilo mehr – und denselben Unsicherheiten. Die Zeit in der Psychiatrie war zu kurz, um sich an die körperlichen Veränderungen zu gewöhnen. Für die 17-Jährige war die Gewichtszunahme zu massiv.

Der Rückfall ließ nicht lange auf sich warten, und Jule hungerte wieder. Kurz darauf folgte der fast viermonatige Aufenthalt in einer auf Essstörungen spezialisierten Klinik. Dort mochte Jule die Gruppentherapien. Und auch die Körpertherapie fand sie hilfreich. Wie viele andere Magersüchtige leidet Jule unter einer sogenannten Körperschemastörung: Sie erlebt ihren Körper deutlich größer und breiter als er tatsächlich ist. „Ich ordne meine Bedürfnisse und Gefühle jetzt besser ein. Trotzdem sehe ich meinen Körper noch nicht realistisch. Wenn ich zum Beispiel shoppen gehe, bin ich in der Umkleide jedes Mal erstaunt, dass die Hose, die ich mir ausgesucht habe, viel zu groß ist.”

Durch Körpertherapie sich selber wieder spüren

In der Körpertherapie steht der Körper im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit mit dem Ziel, dass die Patienten ihren Körper und seine Bedürfnisse (wieder) besser spüren. Dazu gehören Entspannungs-, Atem- und Bewegungstherapien sowie verschiedene Massageverfahren. Auf diese Weise sollen körperliche, psychische und soziale Kompetenzen gefördert werden.

In der Körpertherapie lernte Jule auch Entspannungstechniken. Zwar versucht sie, diese in ihren Alltag einzubauen, allerdings helfen sie ihr nur begrenzt. Bei kleinen Unsicherheiten funktionieren die Techniken gut. Doch werden Stress und Druck zu groß, greift sie zur alten Methode und erbricht die Nahrung.

Ambulate Psychotherapie als Weg aus der Krankheit

So wie Jule geht es vielen anderen. Kann eine stationäre Therapie, während der Betroffene vom Alltag größtenteils abgeschottet sind, wirklich langfristig helfen? 2013 führten Stephan Zipfel und Wolfgang Herzog von den Universitätskliniken Tübingen und Heidelberg die weltweit größte Studie zu diesem Thema durch, genannt ANTOP (“Anorexia Nervosa Treatment of Out Patients”): In einem Zeitraum von zehn Monaten kamen bei drei Gruppen von jeweils 80 Patientinnen ein anderes Psychotherapieverfahren zum Einsatz: Die fokale psychodynamische Psychotherapie, die kognitive Verhaltenstherapie und die Standard-Psychotherapie. Die beiden ersteren Formen sind zwei neue Verfahren, die speziell für die ambulante Behandlung der Anorexie entwickelt wurden.

Die fokale psychodynamische Psychotherapie bearbeitet die ungünstige Gestaltung von Beziehungen sowie Beeinträchtigungen bei der Verarbeitung von Emotionen. Die Patientinnen werden speziell auf den Alltag nach Ende der Therapie vorbereitet.

Die kognitive Verhaltenstherapie hat zwei Schwerpunkte: zum einen die Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtssteigerung. Zum anderen die Bearbeitung jener Problemfelder, die mit der Essstörung verbunden sind: zum Beispiel. Schwächen in sozialer Kompetenz oder Schwierigkeiten, Probleme zu lösen.

Die Standard-Psychotherapie wurde von erfahrenen Psychotherapeuten durchgeführt, die sich die Patientinnen selber aussuchen konnten. Ergänzend waren die Hausärzte in die Therapie eingebunden.

„Alle drei Therapien waren im Sinne einer mittleren Gewichtszunahme erfolgreich”, sagt Zipfel. „Auch in dem Jahr nach der von uns angebotenen Behandlung haben die Patientinnen weiter an Gewicht zugenommen. Das ist etwas sehr Besonderes, da gerade die magersüchtigen Patientinnen nach stationären Behandlungen schnell wieder an Gewicht verlieren.” Insgesamt war das Ergebnis der fokalen psychodynamischen Therapie am besten. Zipfel betont jedoch: „So eine Therapie funktioniert nur für Patientinnen, die zwar stark untergewichtig sind, deren Gewicht aber nicht im lebensbedrohlichen Bereich liegt. Alle unsere Teilnehmerinnen hatten einen Mindest-BMI von 15.”

„Alle drei Therapien waren im Sinne einer mittleren Gewichtszunahme erfolgreich”

Nach einer stationären Therapie ist die Behandlung längst nicht abgeschlossen. Zu häufig und zu schnell verlieren Betroffene ihr Gewicht wieder und fallen in alte Verhaltensmuster zurück. Ein ganzheitliches Konzept ist nötig, das auch nach der stationären Behandlung eine engmaschige ambulante Betreuung vorsieht. Die ANTOP-Studie hat darüber hinaus gezeigt, dass die reine ambulante Therapie eine wirksame Alternative zum mehrwöchigen Klinikaufenthalt darstellt.

Jule hat begriffen, dass die Gefahr groß ist, zurück in die akute Magersucht zu rutschen. Aus diesem Grund hat sie sich entschieden, demnächst in eine betreute Wohngruppe für Frauen mit Essstörungen zu ziehen.

Mehr bei Edition F

„Es ist schwierig eine Essstörung loszulassen, aber nicht unmöglich.“ Weiterlesen

To the Bone: „Essstörungen sind ein komplexes Thema – es reicht nicht, sich nur wieder selbst zu lieben.“ Weiterlesen

„Die Anorexie in mir will überleben“ – über den Kampf gegen Magersucht. Weiterlesen

Anzeige