Ein Leben lang wollte ich dazu gehören. Bis ich rausfand, dass ich anders bin. Und das gut so ist.
Syn – was?
Habt ihr schon einmal von dem Begriff „Synästhesie” gehört? Nein? Ich auch nicht – bis vor Kurzem! Bis ich rausgefunden habe, dass ich Synästhetin bin.
Schon als Kind wollte ich nie auffallen, habe mich immer hinter anderen versteckt. Vor Kurzem dann habe ich sozusagen die amtliche Bestätigung erhalten, dass ich gar nicht anders kann, als ein seltsamer Kauz zu sein, quasi biologisch bedingt! Schuld ist die sogenannte „Synästhesie“ (altgr. für „zugleich wahrnehmen“ oder „mitempfinden“): ein genetisch-bedingtes, neurologisches Phänomen, bei dem durch die Reizung eines Sinnesorganes nicht nur ein, sondern gleichzeitig ein zweites (Sinnes-)Zentrum im Gehirn angesprochen wird. Eine Vermischung der Sinne sozusagen. Einige Synästheten schmecken Töne, geben Zahlen Persönlichkeiten, wieder andere riechen Worte. Ja, ihr lest richtig: Worte kann man riechen!
Obwohl zu dem Phänomen Synästhesie noch viel geforscht wird, konnten führende Neuro-Wissenschaftler wie der Amerikaner David Eagleman mit Hilfe der Magnetresonanztomografie gleichzeitige Aktivitäten in den besagten Verarbeitungszentren des Gehirns nachweisen. Die Amerikanische Synästhesie Gesellschaft geht von insgesamt über 63 verschiedenen Formen von Synästhesie aus, je nachdem welche Zentren im Gehirn miteinander verknüpft sind.
Zahlen haben für mich bestimmte Farben
In meinem Fall wird neben dem Sehzentrum zugleich das Zentrum für Farben, die sogenannte V4-Area, aktiviert. Wenn ich also Zahlen oder Buchstäben sehe, haben diese für mich Farbnuancen, weshalb ich mir selbige schon immer gut merken konnte. Das Wort „BERLIN” zum Beispiel sehe ich als erdbraun-wiesengrün-dunkelbraun-schwarz-sonnengelb-weiss-Buchstaben Kombination. Die Zahl acht ist wunderschön braun, die zwei beige. Man nennt das graphemische Farbsynästhesie. Auch Wochentage und Monate haben bei mir seit Kindertagen Farben: Donnerstage find ich super, die sind so schön grün. Freitage finde ich schwierig, da sehe ich im wahrsten Sinne des Wortes immer rot und weshalb die Welt am blauen Montag auch nicht einfach mal blau macht, werde ich wohl nie verstehen.
Bisher hat übrigens noch kein Synästhet identische Farbnuancen mit einem anderen Synästheten gezeigt, weshalb Wissenschaftler noch untersuchen, welchen Einfluss die Umwelt auf die verschiedenen Nuancen hat. Inzwischen hat man aber rausgefunden, dass einige Synästheten die Farben tatsächlich projizieren („projectors”), der überwiegende Teil sie assoziiert („associators”).
Falls ihr jetzt denkt, verrückter geht es nicht mehr, dann kann ich euch versichern: das geht es doch. Interessant wird es nämlich, wenn man so wie ich, auch Töne oder bestimmte Klänge, ja sogar menschliche Stimmen mit Farben assoziiert. Man nennt das „coloured hearing”. Ich brauche von Natur aus keine bewusstseinserweiternden Substanzen, um bei Klängen Farben zu sehen. Das geht bei mir auch so. Immer und überall, nicht steuerbar. Da wandelt sich die nasale Erkältungsstimme meiner Freundin von einem wunderschönen Sonnengelb in ein tiefdunkles Grün. Und die Gesangstimme eines Musikerkollegen erscheint in einem tiefem Orange mit scharfgelben Kanten und einem cyanfarbenen Kern.
Synästhesie kann sehr einsam machen
„Super!”, denkt ihr jetzt bestimmt! Ich würde das auch gerne haben! Nun, ganz so einfach ist es nicht mit der Synästhesie. Wenn man nur circa sieben Prozent der menschlichen Bevölkerung ausmacht, ist das schon etwas einsam! Im Alltag jemanden zu finden, der einen versteht, wenn man statt des vierstelligen PIN Codes am Bankautomaten lieber die Farben sonnengelb-wiesengrün-azurblau-schwarz vor sich hin murmelt, ist eine echte Herausforderung. Ganz häufig wissen viele Menschen gar nicht, dass sie Synästhesie haben.
Dabei lassen sich interessanterweise viele Prominente als Synästheten ausmachen: der russische Autor Vladimir Nabokov („Lolita“) war zum Beispiel einer. Sein Alphabet war holzfarben. Oder der Maler Wassily Kandinsky, Johann Wolfgang Goethe, beim Komponisten Alexander Skrjabin scheiden sich die Geister, aber der Komponist Franz Liszt war auch einer! Letzterer soll bei einer Probe in Weimar 1842 einmal zu seinem Orchester gesagt haben: „Meine Herren, dieser Ton ist dunkelviolett und nicht rosa, glauben Sie mir!“ Der Spruch hätte in der Tat auch von mir sein können! Leider haben diese Herren alle etwas gemeinsam: Sie sind tot – denkbar schlecht um noch Kontakt zu knüpfen!
Vor einiger Zeit nun hat sich aber auch Sänger Pharrell Williams als Synästhet mit „coloured hearing“ geoutet. Er beschreibt seinen Song „Happy” nämlich als „gelb, mit einem Hauch Senf und Sorbet-Orange“. Na yammi! Von Lady Gaga ist bekannt, dass ihr ihr Song „Poker Face” als „gelbliche Wand“ erschien und Pianistin Héléne Grimaud erklärt, dass ihre Skalen, jede Note und jede Tonlage verschiedene Farbnuancen hätten. Ist Synästhesie also doch nicht so selten?
Die Welt mit anderen Augen sehen
Viel interessanter an der Synästhesie ist aber, dass Wissenschaftler davon ausgehen, dass es sich bei ihr um weit mehr als nur ein neurologisches Phänomen handelt. Es definiert viel eher die Persönlichkeit, ist also nicht, wie zum Teil noch immer angenommen, eine Krankheit. Gewisse Eigenheiten und Charakterzüge lassen sich parallel bei vielen Synästheten finden. Viele von ihnen besitzen zum Beispiel eine sehr ausgeprägte Beobachtungsgabe, eine hohe Empfindsamkeit gegenüber ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen, wittern Stimmungen und Gefühle, lesen zwischen den Zeilen. Die wohl bekanntesten Eigenschaften von Synästheten ist die ausgeprägte Neigung zu einer metaphorischen Sprache und die Begabung, Verbindungen zwischen scheinbar nicht zusammengehörenden Dingen zu sehen. Letzteres lässt sie häufig nicht nur besonders erfindungsreich im Job, z.B. bei der Findung von unkonventionellen Lösungen sein, sondern prädestiniert sie geradezu dazu, kreativ tätig zu sein.
Selbst in der Biologie scheinen Synästheten ihren Platz zu haben. Hier gehören sie sozusagen zu den Mimosen unter den Populationen, in der Fachsprache auch HSP-Typen (Hochsensible Subpopulation) genannt, also die 15-20 Prozent der Spezies, die immer gleich eingehen, wenn sich auch nur eine Umweltbedingung ändert. Na danke, Vererbung! Das Leben ist auch so schon schwer genug!
Manchmal sehe ich die Welt vor lauter Farben nicht
Und nun ist das ja auch alles schön und gut mit diesem „Synnie-Gen“. Aber so richtig intelligenter fühl ich mich damit auch nicht. Anhand der Farben bin ich im Alltag vielleicht schneller, weil ich mir Dinge wie Zahlencodes besser merken kann. Ich muss zugeben, dass es schon seinen Vorteil hat, wenn man die Telefonnummern seiner 100 Facebook-Freunde auswendig kann. Aber manchmal ist das Ganze auch sehr verwirrend. Vor allen Dingen immer dann, wenn ich mit andersfarbigen Buchstaben konfrontiert werde, die nicht mit meinen inneren Farben übereinstimmen. Eine wirkliche Pein im Alltag sind Wörter mit Anfangsbuchstaben in prägnanten Farben, denn die färben für gewöhnlich das ganze Wort ein. Das merke ich immer dann, wenn ich in Berlin in die violette U6 (wer hat sich denn violett für die U6 ausgedacht?!) steigen will. Die geht bekanntermaßen in Richtung Alt-Mariendorf und Alt-Tegel. Leider weiss ich nie, welche Richtung ich nehmen muss, denn das korallenrote A von alt färbt beide Richtungen in ein gleich intensives Rot. Für mein Gehirn fährt diese U-Bahn damit immer in ein und dieselbe Richtung! Error! Zumindest die ersten fünf Sekunden, denn dann fängt sich mein Gehirn wieder und vermag sich auf die einzelnen Buchstaben zu konzentrieren. Und ja, manchmal wünsche ich mir auch sehnlichst, dass der Hund meines Nachbarn etwas weniger schwarz-gelbe Zik-Zak-Linien bellt. Das sieht wirklich nicht schön aus!
Nein liebe Leser, ich bin nicht verrückt. Ich habe nur Synästhesie. Und das ist auch gut so! Und wenn ihr nun die ein oder andere Gemeinsamkeit entdeckt habt, dann meldet euch bei mir! Gemeinsam ist man weniger allein.
Mehr bei EDITION F
Hochsensibel und selbstständig: Auf diese Dinge solltet ihr achten. Weiterlesen
Ist Hochsensibilität ein Geschenk? Weiterlesen
Über das beschissenste Gefühl der Welt: diese verdammte Einsamkeit. Weiterlesen