Ein prominenter CDU-Politiker findet, dass Kinder, die kein Deutsch sprechen, auf deutschen Grundschulen „nichts zu suchen“ hätten. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Politik der Mitte rechte Positionen salonfähig macht.
Carsten Linnemann, nicht irgendein verirrter Hinterbänkler, der sich mit einer gewagten Position auch mal ein bisschen Aufmerksamkeit besorgen wollte, sondern Unionsfraktionsvize, hat kundgetan, dass Kinder ohne Deutschkenntnisse auf deutschen Grundschulen nichts zu suchen hätten. Nun erzählen viele Menschen, zum Beispiel auf Twitter, ihre Geschichten, die einige Jahrzehnte früher spielen. Geschichten von Kindern, die ihre Heimat verlassen mussten und ohne ein Wort Deutsch irgendwann in einer deutschen Grundschulklasse saßen. Egal ob Kinder aus der Türkei, oder aus aus russlanddeutschen Familien: Damals gingen diese Kinder nicht in den Kindergarten, in der Grundschule waren sie also zum ersten Mal in der Situation, umgeben von ausschließlich deutsch sprechenden Kindern (und Lehrer*innen) Zeit zu verbringen – und zu lernen.
Jede*r, und damit auch Carsten Linnemann, dürfte wissen, dass Kindern, je jünger sie sind, das Erlernen einer neuen Sprache unheimlich leicht fällt – viel, viel leichter als Erwachsenen. Wer sich in der eigenen bildungsbewussten Filterblase umschaut, dem fällt bestimmt eine Geschichte von Freund*innen ein, die mit ihrer Familie beruflich für einige Zeit ins Ausland gegangen sind und hinterher begeistert davon berichteten, dass die Sechsjährige, die davor natürlich kein Wort Englisch sprach, nach einem halben Jahr munter auf Englisch parlierte.
Auf eine Integrationsgesellschaft einstellen
Und das, man stelle es sich bloß mal vor, klappt nicht nur bei deutschen, privilegierten Kindern, die in Dubai eine amerikanische Privatschule besuchen; das klappt in vielen Fällen auch beim syrischen oder nigerianischen Kind aus einer geflüchteten Familie, das in einer deutschen Grundschule sitzt und erstmal kein Wort versteht.
Wenn in dieser Grundschulklasse aber, wie zum Beispiel in manchen Vierteln Berlins, die Mehrheit der Kinder nicht gut Deutsch spricht, dann wird es natürlich schwieriger für alle Beteiligten. Niemand wird bestreiten können, dass das deutsche Bildungssystem vor massiven Herausforderungen steht, um es mal milde zu formulieren. Oder anders gesagt: Seit vielen Jahren versagt die deutsche Bildungspolitik bei der Aufgabe, sich auf eine moderne Integrationsgesellschaft einzustellen. Natürlich: Eine Gesellschaft, die immer mehr auch aus Menschen besteht, die aus anderen Ländern kommen und die Sprache erstmal nicht beherrschen, muss dafür sorgen, dass diese Menschen die Chance bekommen, Deutsch zu lernen; das ist bei Erwachsenen vergleichsweise mühsam; das weiß jede*r, der*die während des Erasmusjahres in Frankreich mit allen nur Englisch sprach und dann nicht wie geplant fließend Französisch sprechend zurückkehrte. Bei Kindern funktioniert das besser, aber natürlich ist das nicht immer ein Selbstläufer: In Grundschulen, in denen fast der gesamte Rest der Klasse Deutsch als Muttersprache spricht, ist es weniger schwierig, als in einer so genannten Brennpunktschule in den Großstädten, wo eine Mehrheit der Kinder Sprachförderbedarf hat.
Die Förderung muss früher beginnen
Wer aber nun ein nicht deutsch sprechendes Kind davon abhalten will, eine deutsche Grundschule zu besuchen, der könnte auch auf die Idee kommen, Leuten ohne Führerschein die Fahrstunden zu verbieten. Klingt irre? Ist es auch. Sprache ist ein wichtiger Schlüssel zur Integration. Ein Kind soll sich also integrieren, indem man es davon abhält, sich zu integrieren?
Völlig klar: Es gibt Grundschulen, die überlastet sind, die nicht genug Mittel, nicht genug Personal zur Verfügung haben, um den teilweise extrem auseinanderklaffenden Wissensständen aller Schüler*innen einer Klasse gerecht zu werden; mehr Personal, mehr Räume, mehr Förderstunden – es gibt so viel, das passieren muss, damit deutsche Grundschulen ihrem Auftrag vernünftig gerecht werden können.
Und: Natürlich sollte die Förderung von Kindern, die nicht Deutsch sprechen, schon früher beginnen. Allerdings ist mehr als fraglich, ob eine Vorschulpflicht für nicht deutsch sprechende Kinder, wie Linnemann sie fordert, zielführend sein kann: In einer solchen Vorschule wären die Kinder so wie in ihren Familien wieder umgeben von Nichtmuttersprachler*innen. Eine Kitapflicht für Kinder aus nicht Deutsch sprechenden Familien wiederum wäre sinnvoll und sollte nicht als Zwang empfunden werden, sondern als große Chance, den eigenen Kindern gleiche Startbedingungen bei ihrer Bildungslaufbahn zu ermöglichen. Das Beispiel Berlin zeigt, wie schwer umsetzbar eine solche Kitapflicht allerdings sein kann. Und dann ist man auch schon wieder beim Thema Kitaplatzmangel … vielleicht hätte Carsten Linnemann ja mal Lust, sich ein bisschen stärker ins Thema Bildungspolitik einzuarbeiten, anstatt populistischen Quatsch zu erzählen?
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