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Das Dilemma von Eltern und Erzieher*innen: Bereiten wir Kinder auf die Schule oder das Leben vor?

Nimmt das freie Spiel in Kitas genügend Platz ein? Sollten Kinder stärker gefördert und auf die Schule vorbereitet werden? Und wie nehmen das eigentlich Eltern und Erzieher*innen wahr?

Kitas haben häufig einen fortschrittlicheren Bildungsanspruch als das allgemeine Schulsystem“

Nicht selten wirken Sachen von außen betrachtet ganz anders, als wenn man mittendrin ist. Der Kindergarten dürfte eines dieser Sachen sein. Hirnforscher*innen und Psychiater*innen schlagen Alarm, dass viele Kindergärten den Kindern zu viel strikte Lerninhalte aufzwingen und zu wenig freies Spiel ermöglichen – und so das selbstständige Denken nicht genug fördern würden.

Doch was sagen Eltern und Erzieher*innen? Valentina Resetarits und Lisa Schönhaar von unserem Partner Business Insider haben mit jenen gesprochen, die tagtäglich im Kindergarten sind, um zu arbeiten oder die Kinder abzuholen.

Alle Elternteile, die sich auf den Aufruf von Business Insider meldeten, gaben an, dass in der Kita ihrer Kinder viel gespielt wird und es keine vorgegebenen Inhalte gebe, die vermittelt werden müssen. Das ist zumindest das, was bei Eltern ankommt. Denn an sich gibt es diese Vorgaben schon: Jedes Bundesland hat einen sogenannten Bildungsplan für frühkindliche Erziehung. Der wurde als Reaktion auf das schlechte Abschneiden von deutschen Schüler*innen beim Pisa-Test Anfang der 2000er geschaffen. Darin wird auch auf Bildungs– und Förderziele eingegangen, die Kitas erreichen sollten, etwa im mathematischen, naturwissenschaftlichen, technischen, kulturellen, musischen, sprachlichen, medialen, religiösen und sozialen Bereich. Doch wie wirkt sich der Bildungsplan auf den täglichen Betrieb im Kindergarten aus?

„Spielerisches Lernen“

„Ich glaube, dass die Kinder auch heute noch sehr viel spielen“, sagt Kita-Leiterin Sabine Braun–Eckhardt im Gespräch mit Business Insider. „Nur der Fokus hat sich leicht verschoben, mehr hin zum spielerischen Lernen.“ In ihrer Kita würde es sogenannte Bildungsräume geben, die nach Themen geordnet sind, damit Kinder ihre Stärken erkennen können. Sie sollen die Räume selbst entdecken und dabei spielerisch lernen. „Wenn ich als Erwachsene meine, ein Kind muss jetzt dieses und jenes lernen und deshalb fördere ich auch nur genau diesen Bereich, erreiche ich das Kind gar nicht.“

Alexander Goy, Leiter eines bilingualen Kindergartens und Horts in München, sieht das ähnlich: „Kinder entdecken das meiste im freien Spiel. Aber gleichzeitig hat nicht jedes Kind den gleichen Explorationsdrang, deshalb müssen wir eine anregende Umgebung schaffen. Es ist eine Mischung aus festen Strukturen und freiem Spiel.“

Viele der Punkte, die Hirnforscher*innen kritisieren – wie die strikten Vorgaben, was Kinder in welchem Alter beigebracht bekommen sollten – wären ohnehin längst verbessert worden, sagen beide Kita-Leiter*innen. „Es wurde früher danach entschieden, was die Leiter*innen für richtig hielten und was sie persönlich dachten, was die Kinder lernen müssen. Heute ist es genau umgekehrt. Man schaut ganz genau hin, überprüft, was die Kinder in welchem Alter und welcher Entwicklungsphase brauchen und setzt da an“, sagt Braun-Eckhardt.

„Der bayerische Bildungsplan ist eigentlich eine gute Sache, weil die drei Ankerpunkte soziale Kompetenz, Selbstreflexion und Resilienz sind, also die Persönlichkeit der Kinder betreffen“, sagt Alexander Goy. Die Herausforderung für Kitas sei dabei vor allem, die Kinder dazu zu bewegen, Dinge selbst herauszufinden und ihnen nicht Sachen strikt beizubringen.

Eltern: „Gezielte Förderung anbieten“

So sieht es das Konzept des Bildungsplans vor. Doch in einigen Kitas wird das offenbar nicht umgesetzt. Eine Mutter mit einem fünfjährigen Sohn in einer Karlsruher Einrichtung sagte Business Insider, dass es überhaupt keine Förderung in ihrem Kindergarten gebe. „Ich glaube, da sind sehr viele Kinder unterfordert. Es kommt auch mal zu Schlägereien im Hof. Und das zeigt ja eigentlich schon eine Unterforderung.“ Unter den Eltern seien in ihrer Kita beinahe alle Eltern der Meinung, dass die Kinder mehr gefördert werden sollten. „Ich würde sagen, dass es die Kombination ausmacht. Das Spielen ist unersetzlich, Kinder lernen im Spiel. Dafür braucht man nicht mal besonders lernförderndes Spielzeug. Salopp gesagt kann man ihnen auch einen Topf mit einem Kochlöffel hinstellen und sie lernen beim Spielen, was das ist oder wie man rührt. Aber wenn die Kinder das wollen, dann sollte man ihnen gezielte Förderung anbieten.“

In anderen Kindergärten wird das schon besser umgesetzt. Ein Vater mit zwei Kindern, die in einen privaten Kindergarten mit Reform–Bildungskonzept gehen, sagte: „Es gibt diese Angebote, wie Rechnen, Schreiben, Lesen und Klavierspielen, aber die Kinder entscheiden selbst, ob oder wann sie diese wahrnehmen.“

Auch in der Kita von Braun–Eckhardt hält man sich an dieses Konzept: Es gibt einen Forschungsraum mit Mikroskop, Waagen, Kaleidoskop und Brillen, sowie einen Bereich „Bauland“ für „Architektur, Bauen und Zahlenwerk“ oder eine Schreibwerkstatt. Alles freiwillig. „Es braucht ein Umfeld, in dem das Kind von sich aus Interesse an etwas entwickelt.“

Viele Elternteile betonten in der Umfrage von Business Insider den freiwilligen Aspekt der Lernangebote im Kindergarten: „Meine Kinder werden in unserem privaten Kindergarten zur Selbstständigkeit erzogen. Sie dürfen selber Dinge des täglichen Lebens kindgerecht ausführen“, sagte ein Vater.

Ein anderer Vater, dessen heute sieben– und zehnjährige Kinder in den öffentlichen Kindergarten gingen, gab an, dass es konkrete Lernangebote wie Yoga, Frühenglisch oder Töpfern gegeben hätte und dass er insgesamt mit dem Angebot sehr zufrieden gewesen sei. Die Kinder hätten „bessere Motorik, sprachliche Förderung, Umgang mit Menschen und Widerständen“ gelernt.

Eltern sind hin– und hergerissen

Braun–Eckhardt sieht das Problem, dass Kinder in Lernmuster gezwungen werden, generell weniger bei den Kitas, sondern eher bei den Eltern. „Ich glaube, dass Eltern gar nicht mehr richtig schauen, was zu ihrem eigenen Kind passt. Sondern überwiegend, was andere Kinder schon können und machen und was der Professor XY sagt, der bei Google gefunden wurde. Ich glaube, dass die Intuition und das Gespür für das eigene Kind langsam ein bisschen verloren gehen.“

Deshalb würden viele Eltern auch erwarten, dass Kinder das meiste in der Kita lernen. Gerade wenn sich der Nachwuchs dem Schulalter annähert, würden einige Eltern sehr ungeduldig werden: „Dann kaufen sie mitunter Lernhefte und denken, sie müssten mit ihren Kindern üben, üben, üben. Aber diese Überei führt nicht zu langanhaltenden Lernergebnissen. Es ist eine Kunst, ein Kind dahin zu bringen, dass es auch Dinge erwirbt, die es nicht gerne erwerben möchte.“

Der Münchner Kita-Leiter Alexander Goy kennt das Problem auch, sieht die Schuld aber nicht bei den Eltern: „Es ist eine verwirrende Zeit. Eltern wissen, wie unser deutsches Schulsystem funktioniert und wollen, dass ihre Kinder sich darin bewähren, aber andererseits kennen sie auch die Erkenntnisse von Neurowissenschaftler*innen, dass man Kinder nach Talenten und ihrer Persönlichkeit fördern sollte.“ Am Ende würde diese Verwirrung der Eltern vor allem die Kinder verunsichern.

Goy sieht das zentrale Problem darin, dass Kitas häufig einen fortschrittlicheren Bildungsanspruch haben als das allgemeine Schulsystem. „Unser Schulsystem stammt aus der Nachkriegszeit und ist auf Frontalunterricht ausgelegt, deshalb wird erwartet, dass Kinder, die aus dem Kindergarten in die Schule kommen, ruhig sind, sich melden und Durchhaltevermögen haben.“ Die zentrale Frage, der sich Eltern und Erzieher*innen im Kindergarten ausgesetzt sehen: Will man die Kinder nun auf das Leben oder auf die Grundschule vorbereiten?

Dieser Artikel ist Teil eines Themen-Specials von unserem Partner Business Insider zu Kindergärten in Deutschland. Was Kindergärten mit Wirtschaft und Karriere zu tun haben? Eine ganze Menge: Viele Eltern sehen in der Institution inzwischen einen Ort, an dem schon die Kleinsten auf die Arbeitswelt der Zukunft vorbereitet werden sollten. Pädagogen, Ökonomen und Erzieher befürchten jedoch, dass wir die Zukunft unserer Kinder verspielen, wenn wir ihnen den Spaß am Spielen und Entdecken nehmen.

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