Foto: Quelle: Anton Novoselov | flickr | CC by 2.0

„Vielleicht bin ich viel stärker als du“: Wie sehr kann ich mich meinen russischen Wurzeln verweigern?

Russlanddeutsche gelten am besten integriert und doch sind sie irgendwie anders. Wie genau dieses Anderssein aussieht und welche Vorzüge und Peinlichkeiten es mit sich bringt, Russlanddeutsche zu sein, berichtet euch Olga ab jetzt in ihrer Kolumne.

 

Helene Fischer: Das Paradebeispiel der Integration

Wir Russlanddeutsche gelten mittlerweile als die am besten integrierten Migranten Deutschlands. Nehmen wir zum Beispiel Helene Fischer, das Sinnbild des deutschen Schlagers. Die meisten wissen nicht einmal, dass sie Wurzeln in Russland hat. Und wenn man mal ehrlich ist: Deutscher als Schlager geht eigentlich nicht. Demnach ist Helene Fischer so deutsch wie es einem Menschen nur möglich sein kann.

Auch ich habe versucht, nach außen hin ein deutsches Bild von mir zu propagieren. Schließlich lebe ich seit meinem ersten Lebensjahr in Deutschland, wieso sollte ich dann anders sein als diejenigen, die keinen Migrationshintergrund haben? Wieso sollte ich nicht auch eine Helene Fischer sein können? Wenn man mal die Schlagerkarriere außer Acht lässt.

Tja, zum einen kann man, wenn man Olga heißt, nicht lange geheim halten, wo man herkommt. Nochmal danke, liebe Mama, lieber Papa, dass ich mir kein Schild um den Hals hängen muss, auf dem Russin steht, das erledigt mein Name schon für mich. Außerdem fällt es Freunden spätestens dann auf, wenn sie mich zu Hause besucht haben. Der russische Akzent meiner Eltern wird durch mein Hochdeutsch nicht weniger. Und opulent verzierte Ikonenbilder, Matrjoschkas in unzähligen Ausführungen und Massen an eingelegtem Gemüse habe ich in deutschen Haushalten auch noch nicht gesehen.

„Im Kartenhaus der Träume“

Anyway, kommen wir zurück zu Helene und mir. Helene kam bereits 1988 nach Deutschland, zu einer Zeit, in der die Sowjetunion noch bestand, Deutschland noch nicht wiedervereinigt war und jeder Flüchtling des Kommunismus mit offenen Armen empfangen wurde. So stellten wir es uns zumindest in unserem Exil in Kasachstan vor. Ehrlich gesagt, waren die Vorstellungen aber noch deutlich extremer. Deutschland sollte das wahr gewordene Paradies gewesen sein. Man stellte sich vor, dass wir vom Flughafen direkt in ein eingerichtetes Haus, mit goldenem Besteck und einem Auto vor der Tür kommen würden. Sag mal Helene, habt ihr das damals wirklich bekommen oder bestand es auch bei euch nur „Im Kartenhaus der Träume“?

Als wir 1993 kamen, wartete dann tatsächlich ein Haus auf uns, allerdings eines, das wir mit 50 anderen Familien teilen mussten und sich Notwohnung nannte. Also nichts anderes als ein Flüchtlingsheim. Heute überrascht mich diese Tatsache nicht, sondern viel eher die Naivität der Heimkehrenden. Sagt mal, wie kamt ihr denn bitte darauf, dass Deutschland euch so fürstlich empfangen würde? Ihr wart nicht verschollen, ihr seid damals freiwillig gegangen, das wisst ihr noch, oder?

„Wer will denn schon vernünftig sein“

Auf den Realitätsschock folgte, wie bei so vielen Migranten, die Rückbesinnung auf alte Traditionen. Auf einmal sollte man Russland „Vergeben, vergessen und wieder vertrau`n“, denn jetzt war dieses Land die alte neue Heimat. Statt Schweinshaxe und Bier gab und gibt es noch heute bei jedem Familienfest Pilmeni, russische Trinksprüche und dazu natürlich auch den obligatorische Vodka, denn „Wer will schon vernünftig sein“?

Lange Zeit wurde bei uns zu Hause ausschließlich Russisch gesprochen, deutsche Freunde wurden mit Skepsis betrachtet und die Heimat wurde glorifiziert. Manche verweigerten sich auch nach Jahren der deutschen Kultur. Und ich? Ich war ein rebellisches Kind, fühlte mich angegriffen, wenn über die Deutschen schlecht geredet wurde. Verweigerte irgendwann das Russisch Sprechen. Ich wollte wie jedes pubertierende Kind nicht anders sein, ich wollte einfach nur dazugehören und auch diese grauenhaften deutschen Schlager mitsingen können.

„Doch ich bereu` dich nicht“

Und wie sieht es jetzt, 23 Jahre nach unserer Ankunft aus? Noch immer fragt mein Vater bei neuen Freunden, ob sie aus Russland kommen, dabei ist der Name vollkommen egal. Allerdings ist die Enttäuschung nicht mehr so groß, wenn es Deutsche sind. Es gibt immer noch Pilmeni und Vodka. Jetzt sind es aber die perfekten Mittel, um sich bei anderen beliebt zu machen. Ich habe mich durchgesetzt und wir sprechen jetzt Deutsch zu Hause. Etwas, dass mich mittlerweile etwas traurig macht, da ich nach und nach das Sprachgefühl fürs Russische verliere.

Doch auch heute noch zerreisst es mich hin und wieder zwischen den Kulturen. Im Ausland merke ich immer, wie deutsch ich bin, in Deutschland merke ich die Feinheiten, die mich noch immer unterscheiden. Aber mehr und mehr kann ich akzeptieren, dass ich mich nicht für eine Kultur entscheiden muss. Für mich gilt das Gleiche, wie für viele andere Migrantenkinder auch: Wir sind beides.

Auch bei Helene kann man sehen, dass sie sich nicht immer nur die deutsche Schlagersängerin ist. Bei ihren Live-Auftritten kann man das ein oder andere mal auch ein russisches Volkslied hören.

*Alle zwischen Überschriften sind Songtitel von Helene Fischer

Titelbild: Anton Novoselov | flickr | CC by 2.0

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