Foto: Metropolico.org – Flickr – CC BY-SA 2.0

Zeit für eine neue Kultur – warum Integration uns alle fordert

Nach Köln müssen wir vor allem darüber diskutieren, wie wir zusammen leben wollen. Natürlich wird die Integration schwer. Es war immer schon schwer, sich positiv zu verändern. Louisa Löwenstein beschreibt in ihrem Essay, was wir tun können, damit sie gelingt.

 

Ist Köln ein Wendepunkt?

Als die Ereignisse in Köln viel zu spät und immer noch fragmentiert an die Öffentlichkeit kamen, habe ich sofort gehofft, dass es sich nicht um Flüchtlinge und nur um ein großes Missverständnis handelt. Was würden die Ereignisse nun für meine Argumentation bedeuten? Ich bin immer für die Aufnahme von Flüchtlingen eingestanden – wie könnte ich diese Meinung nun noch vertreten? Hatten jetzt nicht alle anderen Recht, die schon lange gewarnt hatten, dass so etwas passieren würde? 

Lange habe ich darüber nachgedacht und viele der Beiträge gelesen, die mein zwiegespaltenes Netzwerk zu der Debatte gepostet und geschrieben hat. Das Resultat war völlige Verwirrung.

Habe ich im Taumel der Willkommens-Kultur die Realität übersehen? Ist die Bedrohung so offensichtlich – und nur ich und andere Hippies sehen das nicht?

Mit Ängsten umgehen

Ich glaube, das waren die Gedanken vieler und sicher mit ein Grund dafür, dass Informationen zurückgehalten wurden. Und das ist natürlich nicht richtig. Um mit den Schwierigkeiten umgehen zu können, müssen wir Fakten kennen, dürfen uns Informationen nie vorenthalten werden. 

Ich kann verstehen, warum sich hier manche Menschen entmündigt fühlen und von einer Politik überrumpelt, die sie nicht unterstützen wollen. Ich glaube, wir dürfen diese Ängste nicht ignorieren oder gar klein machen. Ich verstehe sie sogar. Wenn etwas Unbekanntes auf uns zukommt, uns gefühlt überrollt, dann reagieren wir mit Angst. Die Lösung ist, dem Unbekannten den Schrecken zu nehmen, indem man hilft, es zu verstehen. 

Bevor hier der Verdacht aufkommt, ich fordere Verständnis für die Geschehnisse der Silvesternacht: solche und andere Übergriffe sind fürchterlich und in einer Gruppe besonders perfide! Sie dürfen keine Sekunde geduldet, jeder Anzeige muss nachgegangen und die Täter geahndet werden. Diese Männer haben sich schuldig gemacht, und nicht die Frauen, weil sie die Gefahr nicht sahen oder gar provoziert hätten. Wenn wir Humanität mit Naivität verwechseln, haben wir verloren. Aber dennoch muss man sich fragen: wie konnte das passieren und wie kann man es verhindern?

Sexualisierte Gewalt als Teil von Kultur

Es stimmt, ich habe in meinem Studium der Islamwissenschaften und vielen Reisen in die arabische Welt nicht selten mitbekommen, wie schwierig vielerorts der Umgang mit Frauen ist und wie sie sexuell bedrängt wurden – nicht zuletzt habe ich es in Ägypten selbst erleben müssen.

Ich glaube auch nicht, dass man verneinen kann, dass der Ursprung solcher sexualisierten Gewalt oft im Kulturellen und damit auch der Religion liegt. Es ist sicher nicht gut für die Entwicklung junger Menschen, wenn es kaum natürlichen, vor allem nicht-sexuellen Austausch zwischen den Geschlechtern gibt. Wenn jede Berührung, so harmlos sie auch sein mag, zum Problem wird. Wenn gleichzeitig durch das Internet die absurdesten Vorstellungen von Frauen über Pornos, aber auch einfache Werbeanzeigen transportiert werden, dann tut sich da ein Graben auf, dessen unmögliche Überwindung Frustration hervorruft. Und diese kann sich schnell in Übergriffen äußern. Plump nennen das viele gerade „oversexed and underfucked“: überall werde einem Sex verkauft, nur wolle es keiner mit einem umsetzen. Dann hole man es sich eben mit Gewalt. So einfach sei das. 

So einfach ist es aber eben nicht.

Ich weigere mich zu glauben, dass mangelnder Sex Männer übergriffig macht. „Underfucked“ suggeriert, dass Sex haben die Lösung des Problems ist. Das käme aus der gleichen Lade, aus der auch das Frauenbild kommt, dass Pornografie und Werbung vermitteln. Eines, das nichts mit der Realität zu tun hat und einen entspannten Umgang immer schwieriger macht. Es ist der Mangel an natürlichen, freundschaftlichen Begegnungen zwischen den Geschlechtern in Kombination mit einem Umgang mit dem Thema Sex, der die persönlichen Grenzen jedes Menschen respektiert. 

In der arabischen Welt ist dieser Graben zwischen der Realität und der Vorstellung besonders tief, zumal die Vorstellung hauptsächlich auf die westliche Frau projiziert wird und die arabische/muslimische Frau ein Mysterium bleibt. Man lebt in einer Gesellschaft, aber nicht auf einem Level.

In den meisten Gegenden, die ich besucht habe, würde ich als Frau, egal welcher Herkunft, nicht leben wollen. Nicht nur auf Grund meiner freien Erziehung. Dass die Tatsache, dass man als Frau geboren wird, Nachteile, die von Demütigung bis Mord gehen mit sich bringt, ist ein Skandal, der sich nicht durch Religion und Kultur rechtfertigen lässt und dessen Beschönigung uns nirgendwohin führt.

Das solch eine Behandlung der Frau nicht zu dulden ist, sehe ich als Voraussetzung für jedes Gespräch über die Herausforderung dieser Krise. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen müssen wir dabei aber auch auf uns selbst schauen. Denn hier gibt es diesen Graben, wo sexuelle Übergriffe von Jugendlichen ständig ansteigen, auch. Wenn dieses Thema nun endlich auf dem Tisch ist, dürfen wir es uns nicht so einfach machen und mit dem Finger auf Flüchtlinge zeigen. Wenn wir die Wahrheit fordern, dann doch bitte die Ganze. Nur wenn wir uns auch unseren eigenen Dämonen stellen, können wir wirklich überzeugen und etwas bewegen. 

Ein anderer Umgang mit Sexualität

Auch hier hat der Umgang mit Sex nichts mit der Realität zu tun, wenn 8-Jährige schon Pornos schauen und im Grundschulunterricht schon mit Kondomen hantiert wird. An jedem Zeitungsstand wird Sex stilisiert zu etwas, dass scheinbar jeder ständig hat, an den ausgefallensten Orten, mit den unglaublichsten Techniken. Wie, ihr kommt nur einmal? Dabei gibt es doch 150 Wege zum perfekten, multiplen Orgasmus. 

Sex ist eine wunderbare Sache. Es macht Spaß, es bringt Nähe und es macht Babys – jeder sollte die Freiheit haben, selbst darüber zu entscheiden, mit wem und wie man dieses Erlebnis hat und wie viel Raum es in seinem Leben einnehmen soll. Das Thema Sex beschäftigt manche mehr, manche weniger. Was dem einen schon zu viel ist, fängt beim anderen gerade erst an. Jeder hat andere Grenzen mit diesem Thema, und die sollten wir akzeptieren und für uns einfordern. Und das fängt lange vor einem tätlichen Angriff an. Weder meine Religion, noch suggestive Medien oder gar ein anderer Mensch sollten mich dabei in irgendeine Richtung drängen dürfen. 

Wie können wir also auf unserem hohen Ross sitzen und den Flüchtlingen jeglichen Anstand absprechen, wenn tausende – ja tausende – europäischer Männer (und Frauen) jedes Jahr ins Ausland reisen, um dort mit Frauen, Männern, Transsexuellen und Kindern Sex zu haben, die das nicht freiwillig und innerhalb ihrer persönlichen Grenzen tun? Aber man muss auch gar nicht erst in die Ferne schweifen, um sich selbst an die Nase zu fassen. 

Ich wurde schon von einem Mitschüler als Schlampe bezeichnet, da wusste ich noch gar nicht, was das heißt. Kaum hatte ich einen Busen, wurde er angegrabscht. An der Wies’n unters Dirndl, in der U-Bahn von hinten angerieben – alles schon passiert. Und ich habe nie etwas angezeigt. Es hat die Übergriffe in Köln gebraucht, dass ich darüber nachgedacht habe und mir klar wurde – das ist nicht ein einfacher Faux-pas. Es ist falsch und gehört in eine Polizeiakte, egal von wem der Übergriff kommt. 

Eine Debatte für wirklich alle

Und was heißt das nun, diese Einsicht? Es heißt zum einen, dass wir vielleicht einmal über Sex reden müssen und zwar alle und ehrlich – und über Grenzen. Die Grenzen zum Beispiel, an denen es mir persönlich zu weit geht oder die Grenzen, die Frauen beleidigen – oder andere Geschlechter.  Und wenn diese Grenzen übertreten werden, selbst wenn es nur ein „Witz“ ist, dann dürfen – und wenn es zudem gegen das Gesetz geht, müssen – wir aufstehen und sie einfordern. Jeder, gleich welcher Herkunft hat das Recht auf diese Grenzen und die Pflicht, die des anderen einzuhalten und eigentlich auch gegen Dritte zu verteidigen.

Nun stehen wir immer noch vor dem Problem, dass hunderttausende Männer und Frauen aus der arabischen Welt nun bei uns leben und diesen Graben, der besonders tief ist, natürlich nicht einfach mit ihrer Ankunft in Deutschland überwunden haben. Sie bringen diese teils massiven Schwierigkeiten mit sich, wie sie auch ihre Traumata mitbringen. Und das ist die Herausforderung, die wir Integration nennen. Sicher heißt das für viele, dass sie ihre Einstellungen zu Frauen gehörig ändern müssen. Extremer Machismus ist definitiv ein Problem bei vielen der zahlreichen jungen Männer, die hier ankommen. Wir dürfen dabei aber nicht fordern, dass nun alle Flüchtlinge unsere sexuellen Vorstellungen teilen.

Aber sie müssen sie und unsere persönlichen Grenzen genau so respektieren, wie wir ihre und die jedes anderen Menschen. Wenn nötig mit Hilfe des Gesetzes. Gemeinsam mit unseren neuen Bürgerinnen und Bürgern müssen wir an einem natürlichen Umgang unter den Geschlechtern arbeiten. Wir müssen offen über unsere Ängste reden und weder unsere, noch die unseres Gegenüber weglachen. Wir müssen ihnen mit Aufklärung begegnen und einer Kultur, in der Fragen erlaubt sind und Grenzen respektiert werden. Und dafür müssen wir unsere Grenzen selbst respektieren, für uns definieren und uns unserer (Frauen-)Rechte nicht erst dann erinnern, wenn so etwas Schreckliches wie in Köln passiert. 

Unsere Kultur wird sich verändern – gemeinsam

Es gibt in der arabischen Welt und auch in Deutschland Frauen, die das Kopftuch als Zeichen ihres Glaubens und nicht aus Scham oder aus Unterdrückung tragen. Junge Männer, die  Frauen zu ihrem Freundeskreis zählen und sie respektieren – das gibt es auch dort und unter den Flüchtlingen. 

Wenn wir so aufeinander zugehen, dann bin ich mir sicher, schaffen wir die Integration. Mehr noch – dann wachsen wir Deutschen selbst daran und hinterfragen vielleicht auch einmal unsere eigene Kultur. Nicht nur im Thema Sexualität sollten wir von unserem Roß steigen.

Wir haben Angst vor dem Verlust unserer christlichen Werte und wissen nicht mehr wie unser Nachbar heißt, wir fürchten uns vor Destabilisierung, dabei destabilisieren wir seit Jahrzehnten andere Länder ökonomisch, ökologisch und politisch, um unseren Wohlstand zu mehren. Jeden Tag haben wir mit unserem Lebensstil daran teil, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, was es für andere Menschen und Länder bedeutet. Nicht alles, aber einiges spielt auch in dieser Krise eine Rolle.  

In jedem Fall lohnt es sich, einen Blick auf das eigene Konto, auf das eigene Leben zu werfen und sich zu fragen, ob ich ein Recht habe, meine Kultur so überlegen zu finden. So sehr, dass ich fordern kann, dass man Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, nicht aufnimmt, um diese so oft blinde und arrogante Kultur vermeintlich zu schützen.

Integration ist nicht einfach 

Natürlich wird die Integration schwer. Es war immer schon schwer, sich positiv zu verändern. Aber wenn wir von unserem Roß nach unten diktieren und schwadronieren, anstatt das Problem auf allen Ebenen, auch auf unserer, an der Wurzel zu packen, dann sind Änderungen immer nur oberflächlich. Integration geht nicht von oben herab sondern auf Augenhöhe über Kulturen, Religionen und Geschlechter hinweg. Nur so können wir gemeinsam eine neue, eine integrative Kultur schaffen, in der Respekt und Toleranz für alle gleichermaßen gilt. Wir haben hier die Chance, etwas richtig zu tun. Lassen wir uns das nicht kaputt machen, von all dem Falschen, was in Köln und im Nachlauf der Silvesternacht passiert ist.


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