Wie nehme ich Deutschland, meine Heimat, wahr? Wie ändert sich die deutsche Gesellschaft durch Zuwanderung? Eine junge Deutsche mit Migrationshintergrund erzählt uns, was sie fühlt und sieht.
Wie ich Deutschland sehe
Eine junge Deutsche mit Migrationshintergrund, so würde ich mich beschreiben. Hier möchte ich mit euch meine Erfahrungen teilen – sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Alltag. Wie nehme ich Deutschland, meine Heimat, wahr? Was sehe ich, was erlebe ich? Wie ändert die Zuwanderung die deutsche Gesellschaft? Jeden Tag sind etliche Berichte in den Medien, welche sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Dieser Beitrag schildert das Empfinden durch meine persönliche Brille.
Montag, 7:54 Uhr – Bus
Ich sitze im Bus auf dem Weg zur Arbeit – die Zeit, in der ich das Geschehen um mich herum betrachte. Seit ich denken kann, liebe ich es, Menschen zu beobachten. Der Bus füllt sich langsam.
Viele Menschen tummeln sich im Bus: Schüler, Studenten, Rentner, junge Mütter… Der Stress am Montagmorgen scheint alle erfasst zu haben. In solch stressigen Momenten bin ich seltsamerweise die Ruhe selbst. Hier, im Bus, scheint es keine Rolle zu spielen, welchen kulturellen Hintergrund jeder Einzelne im Bus mitbringt.
Wortfetzen in den unterschiedlichsten Sprachen gelangen an mein Ohr, angeregt unterhalten sich die Leute im Bus. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
8:33 Uhr – Ankunft im Büro
Raus aus dem Bus beginnt mit der Ankunft im Büro das Eintauchen in eine neue Welt. Nicht nur das Klima ist anders, sondern auch die Sprache ist eine andere. Nicht gemeint im negativen Sinne, sondern einfach „anders“. Freundlich grüße ich meine Kollegen, während sie auf den Aufzug warten.
„Woher kommen Sie?“
Oft werde ich mit den immer gleichen Fragen konfrontiert.
„Woher kommen Sie?“ „Aus Stuttgart“, lautet meine Antwort. Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich, aber im Kern nicht sehr verschieden. Meistens folgt darauf ein Herumdrucksen. Meine Antwort scheint nicht die Antwort auf das Rätsel zu sein, die erwartet wird.
Warum ich mich wohl so anstelle, und nicht gleich mit der Antwort rausrücke? Diesen Gedanken meine ich bei vielen im Gesicht zu lesen. „Ja, aber wann sind Sie nach Deutschland gekommen?“ „Ich bin hier geboren“, entgegne ich ruhig. Zwar reagiere ich gelassen, trotzdem merke ich, dass mir diese Fragen einfach nicht guttun.
Ja ich bin Studentin, arbeite nebenbei in einem Konzern und bin ehrenamtlich aktiv. Ich versuche, die Gesellschaft mitzugestalten. Nicht nur ich. Viele meiner Freunde, egal ob nun „deutsch-deutsch“ oder „deutsch-xy“, haben ähnliche Visionen, was die Zukunft betrifft.
„Multi-Kulti“ als Bereicherung
Deutschland ist meine Heimat. Ich bin hier geboren, habe die deutsche Staatsbürgerschaft und liebe die deutsche Sprache. Ja, ich spreche akzentfrei Deutsch, es ist meine Muttersprache. Türkisch ist meine zweite Muttersprache.
Die Multi-Kultur sehe ich als Bereicherung – das ist für mich Vielfalt.
Trotzdem mache ich mir Sorgen, wenn ich morgens kurz nach dem Frühstück die Schlagzeilen in den Nachrichten überfliege.
Wohin entwickelt sich Deutschland? Kritische Stimmen, Menschen, die sich als besorgte Bürger titulieren, um ihren rassistischen Äußerungen Luft zu machen. Was ist das? Angst vor Vielfalt? Angst vor anderen Kulturen? Angst vor anderen Sprachen?
Aber auch die andere Gruppe – ja, es sind wirklich nicht wenige – machen mir Angst. Die andere Gruppe? Ich meine jene, die tatenlos zuschauen. Die sich nur um ihr eigenes Leben kümmern. Hinnehmen. Ein Gedanke, den ich so nicht stehen lassen möchte.
„Mein Appell: Die deutsche Gesellschaft muss sich ändern“
Es darf keine Rolle mehr spielen, woher die Eltern oder Großeltern eines Menschen kommen. Jeder Einzelne hat das Recht, als Individuum betrachtet und wahrgenommen zu werden. Die Gesellschaft muss zu ihren Werten stehen – ehrlich, ohne Wenn und Aber. Populistische Äußerungen aus Politik und Medien sollten endlich kein Gehör mehr finden. Derartige Äußerungen bringen keine Entwicklung – sie führen dazu, dass die Menschen immer mehr verunsichert werden.
Großbritannien zum Beispiel oder die Vereinigten Staaten scheinen das besser hinzubekommen. Und ja, es ist mir klar, dass diese Länder eine andere Geschichte haben, andere Entwicklungen durchgemacht und viele anderen Faktoren eine hohe Tragweite haben.
Bitte kein Schubladendenken mehr!
Wie auch immer. Ich wünsche mir ein Deutschland, in dem es egal ist, ob du studierst oder eine Ausbildung machst – ein Deutschland, in dem nicht ständig Bezug auf deinen „sogenannten Migrationshintergrund“ genommen wird. Ich will in keine Schublade gesteckt werden. Ich will keine Klischees bedienen müssen, die es in meinem Fall über Deutsche mit türkischen Wurzeln gibt. Ich will mir auch nicht mehr anhören müssen: „Du bist anders! So weltoffen und liberal, nicht so wie die anderen Türken!“
Ehrlich gesagt, spielt es keine Rolle, ob solche Aussagen gut gemeint sind oder nicht. Sie sind einfach nicht in Ordnung. Und es macht müde, immer wieder aufs Neue gegen Vorurteile anzukämpfen.
10:45 Uhr – Frühstück im Konzern
Internationales, kulinarisches Frühstück mit Kollegen. Deutsche, französische, arabische, türkische und viele andere Köstlichkeiten aus aller Welt schmücken den Tisch. Sozusagen Multi-Kulti „zum Anfassen“. Es funktioniert reibungslos – und sollte noch viel mehr gefördert werden.
Daher eine letzte Bitte: Öffnet euch und gestaltet aktiv mit.
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