Foto: Samantha Garrote | Pexels

„Darf ich das überhaupt?“ – Um Rassismus zu überwinden, müssen Weiße rassismuskritisch handeln

Autor*in
Jule Bönkost

Unsere Community-Autorin Jule Bönkost arbeitet im Bildungsbereich, gibt Workshops zum Thema diskriminierungsfreie Bildung und erlebt immer wieder, dass weiße Menschen im Umgang mit rassistischem Verhalten völlig verunsichert sind. Hier erklärt sie ein paar Dinge, die weiße Menschen sich bewusst machen sollten.

Unsicherheit, Zweifel und Vorsicht

„Darf ich das überhaupt?“ In Veranstaltungen zum Thema Rassismuskritik stellen weiße Teilnehmende diese Frage häufig. Das passiert vor allem, wenn wir uns damit beschäftigen, dass Rassismus auch ungewollt und unbewusst reproduziert werden kann. Mit der Frage ist das eigene Handeln gegen Rassismus gemeint. Sie richtet sich weniger an mich, die weiße Referentin, die gerade eine Veranstaltung zu Rassismuskritik durchführt. Schließlich würde ich kaum vor den Teilnehmenden stehen, wenn ich davon ausgehen würde, dass Weiße nicht rassismuskritisch handeln dürfen. Sie wird eher als grundsätzliche Frage in den Raum gestellt. Das ist sehr oft mit vielen Emotionen verbunden und wird häufig von Unsicherheit, Zweifel und Vorsicht begleitet.

Als weiße Person, wenn auch als Referentin zum Thema Rassismus, fühle ich mich von der Frage dennoch angesprochen, weil ich sie kenne. Ich habe sie mir oft genug selbst gestellt. Die Frage kam zum ersten Mal in mir auf, als ich begann, mich intensiver mit Rassismus auseinanderzusetzen und lernte, dass ich von klein auf rassistische Wissensbestände verinnerlicht habe, die ich nicht einfach ablegen kann. Sie stellte sich mir, als ich anfing zu begreifen, dass mein Handeln trotz bester Absicht gewaltvoll sein kann und ich, weil Rassismus strukturell in der Gesellschaft verankert ist, niemals vollkommen rassismusfrei werden kann. In dieser Zeit kollidierte mein antirassistisches Selbstverständnis mit meinen neuen Erkenntnissen darüber, dass ich als weißer Mensch in Rassismus verstrickt bin.

Welche Bemühungen gehen in die falsche Richtung?

Ich fragte mich, ob ich Rassismus als weiße Person überhaupt etwas entgegensetzen kann, wenn dieser mich doch privilegiert und meine Bemühungen, etwas gegen Rassismus zu tun, diesen auch verfestigen können. Wenn ich zum Beispiel einschreite, wenn eine Person of Color rassistisch beleidigt wird, nehme ich ihr gleichzeitig den Raum, selbst zu entscheiden, ob sie das überhaupt will. Als ich beispielsweise Lehraufträge zum Thema rassismuskritsche Bildungsarbeit annahm, wurde ich gleichzeitig selbst ein Teil des weißdominierten universitären Lehrkörpers, den ich mit den Seminarinhalten hinterfragen wollte. In Workshops stellen weiße Teilnehmer*innen in diesem Sinne zum Beispiel häufig die Frage, ob es möglich sei, als rein weiße Gruppe oder Organisation rassismuskritisch zu agieren.

Weiße wissen nicht, wie sie mit Hinweisen auf rassistische Handlungen produktiv umgehen können. Für mich ist die „Darf ich das?“-Frage vor allem ein Ausdruck der Identitätsentwicklung Weißer, die über Rassismus lernen. Ein solches Lernen findet nicht von heute auf morgen statt. Es umfasst einen andauernden selbstreflexiven, selbstkritischen Lernprozess, den viele Herausforderungen, auch emotionaler Art, begleiten. Die „Darf ich das?“-Frage ist für mich mit dem Wunsch, „richtig“ und „rassismusfrei“ zu handeln, verbunden. Sie ist für mich ein Ausdruck von Schuldgefühlen und der Angst, unabsichtlich und unwissentlich rassistisch zu handeln und dafür kritisiert zu werden.

Denn die Frage unterstellt, dass es eine Instanz gibt, die es Weißen verbieten könnte, gegen Rassismus einzutreten. Das verdeutlicht mir, dass Weiße im Normalfall nicht gelernt haben, mit dem Hinweis auf eigenes rassistisches Verhalten und den damit ausgelösten Emotionen produktiv umzugehen. Weil Rassismus gesellschaftlich verankert ist, lernen sie zum Beispiel aus den Medien, in der Schule, in der Familie und am Arbeitsplatz in der Regel vielmehr, sich mit unermüdlichen Bemühungen von dem „Rassismusvorwurf“ wieder freizusprechen und als „guter Mensch“ zu beweisen, anstatt das rassistische Handeln zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen. Das gilt auch für weiße Personen, die sich gegen Rassismus einsetzen wollen. Sie fürchten sich besonders davor, dass ihr Handeln vor allem von Schwarzen Menschen und People of Color als rassistisch bewertet wird.

Rassismus ist keine Einzeltat

Das hängt mit dem vorherrschenden Rassismusverständnis zusammen. Es reduziert Rassismus auf die Handlungen von Einzeltäter*innen, die sich vermeintlich bewusst und grundsätzlich mit böser Absicht rassistisch verhalten. Von dieser verkürzten Sicht auf Rassismus ausgehend, kommt der Hinweis auf eigene rassistische Handlungen für Personen, die sich als „antirassistisch“ verstehen, einer beleidigenden Anschuldigung gleich. Diese von vielen verinnerlichte Perspektive auf Rassismus verschleiert seine strukturelle Wirkweise und den Umstand, dass alle Menschen jederzeit in diese eingebunden sind.

Die Frage „Darf ich das?“ birgt deshalb auch Gefahren, nämlich wenn die Befürchtung, etwas „falsch“ zu machen und hierfür mit „Vorwürfen“ konfrontiert zu werden, erstarren lässt und dazu führt, dass gar nicht mehr gehandelt wird. Denn dann sind Veränderungen ausgeschlossen und Rassismus wird nichts entgegengesetzt. Deshalb können es sich auch nur Weiße leisten, um die eigene Verstrickung in Rassismus zu kreisen. Daraus ergibt sich auch, dass es Schwarzen Menschen und People of Color überlassen wird, sich gegen Rassismus zu erheben und der gewaltvollen Abwehr, die dies verursacht, zu begegnen. Deshalb bietet die „Darf ich das?“-Frage auch Raum für weiße Abwehr bis hin zur Möglichkeit, sich dem rassismuskritischen Handeln ganz zu entziehen. Ich erlebe, dass weiße Menschen in Workshop-Situationen die „Darf ich das überhaupt?“-Frage immer wieder auch auf diese Art einsetzen.

Rassismus ist ein weißes Problem

Wenn Rassismus als strukturelles Phänomen erkannt und bekämpft wird, wird die „Darf ich das?“-Frage überflüssig. Es ist in erster Linie der vielfältige Widerstand von Schwarzen Menschen und People of Color, der Rassismus seit seiner Erfindung herausfordert. Wenn Rassismus überwunden werden soll, ist es aber unerlässlich, dass Weiße als Bündnispartner*innen von Schwarzen Menschen und People of Color gegen rassistische Diskriminierung eintreten. Denn auch weiße Menschen sind von Rassismus beeinflusst, wenn auch anders. Er verschafft ihnen eine machtvolle privilegierte Position, die der Begriff „weiß“ bezeichnet. Mehr noch, Rassismus ist ein weißes Problem, denn er wurde von Weißen erfunden, um die eigenen weißen Privilegien zu legitimieren und aufrechtzuerhalten.

Bis heute sind rassistische Handlungen Verteidigungen dieser Privilegien Weißer aus der machtvollen weißen Position. Um Rassismus abzubauen, müssen deshalb Weiße, als Akteur*innen des Rassismus, ihre Gewohnheiten ändern und die eigenen verinnerlichten rassistischen Denk- und Handlungsmuster hinterfragen. Dazu gehört zum Beispiel, die eigenen weißen Privilegien nicht länger als selbstverständlich zu begreifen, sondern als von Rassismus geschaffen anzuerkennen sowie aufzuhören, Weißsein als Norm zu setzen und rassistische Zuschreibungen unreflektiert weiterzubenutzen. Wichtig ist auch eine emotionale Bildung und das Einüben von Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung im Bezug auf rassismusrelevante Emotionen, die zum Beispiel beim Sprechen über Rassismus ausgelöst werden. All das ist kein leichtes Unterfangen und keine Sache simpler „richtiger“ Praxen und „einfacher“ Lösungen. Schon weil die privilegierte weiße Position und die damit verbundene weiße Perspektive nicht überwunden werden können, ist das Handeln Weißer gegen Rassismus immer auch selbst in Rassismus verstrickt.

Weiße können Rassismus herausfordern

Rassismus sozialisiert Weiße so, dass diese ihn zwar mehrheitlich unbewusst, aber mit viel Energie aufrechterhalten. Weiß zu sein bedeutet deshalb, besonders dazu geneigt zu sein, Rassismus unwissentlich und unabsichtlich zu reproduzieren, selbst wenn weiße Menschen eigentlich gegen ihn vorgehen wollen. Deshalb ist auch eine verkürzte „Ich darf das“-Einstellung, die zu einem unreflektierter Aktionismus führt, wenig zielführend. Als weiße Person muss ich mich immer fragen, welche rassistischen Wirkungen ich bei meinem Vorgehen möglicherweise übersehen habe. Weiß zu sein bedeutet aber auch, über bestimmte Möglichkeitsräume zu verfügen, Rassismus herauszufordern. Hier setzen z.um Beispiel der Ansatz des Powersharing und das Nutzen eigener weißer Privilegien für das rassismuskritische Handeln an. Auch das Thematisieren von Rassismus unter Weißen gehört dazu. Beispielsweise ist das Einschreiten gegen die häufigen rassistischen Bemerkungen, die Weiße nur unter sich machen, eine spezifische Aufgabe weißer Verbündete*r und Möglichkeit spezifisch für Weiße, Rassismus nicht weiterzutragen.

Feedback willkommen

Anstatt eines verkürzten „richtig/falsch“-Denkens geht es also darum, unter Berücksichtigung möglicher Fallstricke ausfindig zu machen, welche Möglichkeiten es gibt, um als weiße Person gegen Rassismus einzutreten. Dazu gehört auch, bestimmte Handlungen zu unterlassen, wenn sie sich als problematisch erweisen und Rassismus eher reproduzieren als hinterfragen. Das wäre zum Beispiel, wenn man meint zu wissen, was Personen mit Rassismuserfahrung brauchen, um Rassismus zu bewältigen. Das kann ich sein lassen, genauso wie ich beispielsweise darauf verzichten kann, rassistische Zuschreibungen und Begriffe auch bei deren kritischer Behandlung unnötig zu wiederholen. Gleichermaßen verlangt rassismuskritisches Handeln grundsätzlich, Spannungen zuzulassen und auszuhalten. Es setzt voraus zu akzeptieren, dass Widersprüche dazugehören. Beispielsweise beschäftigt sich mein Beitrag mit Weiß-Sein und stellt, wenn auch mit Blick auf rassismuskritisches Handeln, erneut die Bedürfnisse Weißer in den Mittelpunkt. Für mich ist das ein solcher Widerspruch, den ich nicht aufzulösen weiß.

Die Frage, die ich mir als weiße Person folglich regelmäßig stelle, lautet nicht, ob ich als weiße Person Rassismuskritik üben darf, sondern wie es mir bestmöglich gelingen kann, Rassismus herauszufordern. Der Hinweis Anderer auf mögliches rassistisches Verhalten meinerseits kann mir dabei helfen, dies weiter herauszufinden. Deshalb stellt ein solches Feedback immer eine wertvolle Chance dar, etwas zu lernen und zwar unabhängig davon, wie es vermittelt wird – auch, wenn es für mich unangenehm ist. Als Weiße*r gegen Rassismus vorzugehen bedeutet also auch zu lernen, Rückmeldungen zu rassistischem Verhalten auszuhalten, für diese offen zu sein, sie ernst zu nehmen und als Impuls für das eigene Lernen und Handeln aufzugreifen und wertzuschätzen. Wie wäre es deshalb, einfach mal zu antworten: „Danke für den Hinweis, den ich mir zu Herzen nehmen werde!“

Dr. Jule Bönkost ist Amerikanistin und Kulturwissenschaftlerin. Zusammen mit Josephine Apraku leitet sie das IDB/Institut für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin, das Veranstaltungen zum Thema Rassismuskritik und Kritisches Weißsein durchführt. Sie ist Herausgeberin des Sammelbandes „Unteilbar: Bündnisse gegen Rassismus“ (Unrast, 2019).

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