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Kristina Lunz: „Politik ist am Ende nur so gut wie die Köpfe dahinter divers“

„Es ist wichtig zu verstehen, wie viel Diskriminierung in unserer Gesellschaft alltäglich ist.“ Die Politikwissenschaftlerin Kristina Lunz verbindet in ihrer Arbeit Frieden, Menschenrechte und Gerechtigkeit mit Außenpolitik. Ein Auszug aus ihrem Buch „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“.

Wenn Frauen oder andere politische Minderheiten sich Sicht- und Wirksamkeit erkämpfen, wird dies oft dargestellt, als sei nun endlich mal eine Frau bzw. eine Person of Colour fähig genug, um mit den Männern mitzuhalten, die schon so viel länger in ihren Positionen sind. Dieses Narrativ ist so falsch wie gefährlich.

Es war höchste Zeit, dass im Januar 2021 mit Kamala Harris die erste Frau, die erste Schwarze und zum ersten Mal eine Person mit südasiatischer Familiengeschichte Vizepräsidentin der USA wurde. Doch zugleich muss uns bewusst sein: Bis ins Jahr 1865 wäre sie als Schwarze in den USA noch versklavt worden. Bis ins Jahr 1920 hätte sie als Frau noch nicht wählen dürfen, und als Schwarze Frau wäre sie insbesondere in den Südstaaten der USA bis ins Jahr 1965 aktiv gehindert worden, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Bis ins Jahr 1954 hätte sie noch in nach Rasse getrennten Schulen lernen müssen, und bis 1974 hätte sie keine eigene Kreditkarte haben dürfen. Während all dieser Jahre waren weiße Männer Präsidenten der USA und damit mitverantwortlich für diese systematische und unmenschliche Unterdrückung von Frauen und Schwarzen.

Frauenleben heute und gestern

Schon 1837 brachte die Abolitionistin Sarah Grimké die Missstände wie folgt auf den Punkt: „Ich bitte um keinen Gefallen für mein Geschlecht. Alles, worum ich bitte, ist, dass unsere Brüder ihre Füße von unserem Nacken nehmen und uns aufrecht stehen lassen.“ Noch nach Anbruch des 20. Jahrhunderts durften Frauen im deutschen Kaiserreich oft nicht einmal allein spazieren oder ins Restaurant gehen, ohne Gefahr zu laufen, als „alte Jungfern“ verspottet, als „Lesbierin“ verdammt oder als „Dirne“ behandelt zu werden. Noch schlimmer: Aufgrund des damaligen „rückständigen Familienrecht[s] konnten Angehörige sie [die Frauen] bei solchem ›Verdacht‹ in die Psychiatrie einweisen und zwangsbehandeln lassen. [ …] Jede Frau, die sich der Prostitution verdächtig machte, konnte festgenommen und zwangsuntersucht werden. Und verdächtig war jede, die allein unterwegs war.“ Trotz dieser widrigen Umstände machten sich damals die herausragendsten Frauen und Feministinnen auf, gegen verschiedene Formen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung vorzugehen. Manche organisierten sich in feministischen Frauenvereinen, die Anfang des 20. Jahrhunderts einflussreich waren. Doch das preußische Vereinsgesetz verbot es diesen Organisationen, sich politisch zu äußern. Nicht überraschend.

„Die Frau ist frei geboren.

Die Männer wollten die Unterdrückung der Frauen durch die von ihnen etablierten gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen aufrechterhalten. Kämpferinnen wie Anita Augspurg und Lida G. Heymann ließen sich auch davon nicht aufhalten. Sie gehören zu den bekanntesten Feministinnen der deutschen Geschichte und brachten als Vorreiterinnen feministische Ideen in die Außen- und internationale Politik. Für die oben dargestellten Realitäten gibt es Gründe: Patriarchat und Misogynie. Frauen werden kontrolliert und alle diejenigen bestraft, die die männliche Dominanz herausfordern. Eins von zu vielen Beispielen dafür: Die Feministin Olympe de Gouges forderte 1791 während der französischen Revolution die Gleichstellung von Mann und Frau mit ihrer revolutionären „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. „Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten“, lautet Artikel 1 ihrer Deklaration. Zwei Jahre später wurde die mutige Vordenkerin von den jakobinischen Machthabern geköpft – ihre Hinrichtung begründeten die Richter wie folgt: „Ein Staatsmann wollte sie sein, und das Gesetz hat die Verschwörerin dafür bestraft, dass sie die Tugenden vergaß, die ihrem Geschlecht geziemen.

„Echte Frauen“ laufen keinen Marathon?

Ebenso bedrohlich war die rohe männliche Gewalt – wie gewaltsame Festnahmen und Zwangsernährung in Gefängnissen –, die britische Frauenrechtlerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts traf, weil sie sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. Sie hätten nichts im öffentlichen Bereich verloren, würden dadurch Kind und Haushalt vernachlässigen. Kathrine Switzer, die 1947 als Tochter eines Majors der US-Army in Deutschland geboren wurde, lief 1967 als erste Frau den Boston-Marathon. Die Veranstalter wollten sie gewaltsam von der Bahn entfernen. Angeblich würden echte Frauen keinen Marathon rennen, dafür seien sie zu fragil. Ein weiteres Beispiel sind die Beleidigungen, Demütigungen und sexualisierten Anspielungen gegenüber Politikerinnen zuzeiten der Bonner Republik. Im 2021 erschienenen Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ ist zu sehen, welchem Sexismus sich unter anderem Herta Däubler-Gmelin (SPD), Rita Süssmuth (CDU) oder Petra Kelly (Die Grünen) als weibliche Mitglieder des Bundestags ausgesetzt sahen. Männliche Abgeordnete versuchten ihnen beharrlich zu vermitteln, dass das Parlament keine natürliche Umgebung für Frauen sei. Das als natürlich empfundene Recht von Männern, Machtpositionen einnehmen zu dürfen, zeigt sich schmerzlich in alltäglichsten Verhaltensweisen: Im Februar 2021 titelte Der Spiegel: „Feindbild Frau – Die dunkle Welt enthemmter Männer. Und was gegen den Hass hilft.

„Miststück“ – Frauenfeindlichkeit im Parlament

Die Titelgeschichte bestätigt den erschütternden Zustand auch für Politikerinnen im deutschen Bundestag: „69 Prozent der Parlamentarierinnen, die auf die Umfrage geantwortet haben [64 von 222 angeschriebenen], erlebten schon Frauenhass, 36 Prozent wurden angegriffen“, und „72 Prozent der 64 Abgeordneten bejahten die Frage, ob sie Frauenfeindlichkeit innerhalb des Parlaments von Kollegen oder Mitarbeitern erlebten“. In dem Artikel berichten Politikerinnen dieser Legislaturperiode wie Ute Vogt (SPD), dass die Hassnachrichten nicht mehr nur anonym seien.

Unter Nennung von Namen und Postanschrift sei sie als „dreckige Flüchtlingshure“ und „widerliches Stück Scheiße“ beschimpft worden. Lisa Paus (Die Grünen) berichtet von Anrufen, in denen sie als „Schlampe“,„Miststück“ oder „Fotze“ beschimpft würde. Der Abgeordneten Yasmin Fahimi (SPD) wurden bereits Patronen zugeschickt, und Aydan Özoğuz (SPD) musste mehrfach vom BKA geschützt werden, ihre Tür im Wahlkreisbüro darf nicht mehr offen stehen. Hier kommen Rassismus und Frauenhass zu einer besonders bedrohlichen Mischung zusammen. Ein besonders tragisches Beispiel hierfür ist Marielle Franco, eine junge, Schwarze, lesbische Afrobrasilianerin aus den Favelas. Sie schaffte 2016, was bis dato unmöglich erschien: Diese junge Frau aus der Arbeiterschicht wurde in den Stadtrat Rio de Janeiros gewählt.

Sie setzte sich ein für die Rechte von Frauen, vor allem von Schwarzen Frauen, für die LGBTQI*-Community und gegen Polizeigewalt sowie Korruption. Sie war noch kein Jahr im Amt, als sie und ihr Fahrer nach einer politischen Veranstaltung im Auto erschossen wurden. Nicht allein Marielle sollte zum Schweigen gebracht werden. Die barbarische Ermordung sollte alle – vor allem Schwarze – Frauen treffen, die es wagten, politische Macht zu ergreifen. Patriarchat und Rassismus gehen Hand in Hand. 

Divers und effizient

Die Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensrealitäten von unterschiedlichen Menschen führen zu besserer Politik – nämlich zu einer Politik, die allen Bedürfnissen gerecht wird. In Unsichtbare Frauen legt Caroline Criado-Perez mithilfe vieler Studien dar, dass Frauen in politisch mächtigen Positionen so wirken, dass Frauen davon profitieren. Das trifft genauso auf andere politisch unterrepräsentierte Gruppen zu.

„Frauen werden kontrolliert und alle diejenigen bestraft, die die männliche Dominanz herausfordern.“

Politik ist am Ende nur so gut wie die Köpfe dahinter divers. Eben weil dann unterschiedliche Lebensrealitäten und Perspektiven in politische Entscheidungen einfließen und nicht, weil die Politik dann beispielsweise effizienter ist. Denn Frauen und andere politisch marginalisierte Gruppen haben zunächst das Recht, entsprechend ihrer Gruppengröße Macht zu ergreifen und in Entscheidungsebenen repräsentiert zu sein. Einfach, weil es ihnen zusteht und eine überproportionale Berücksichtigung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe immer auf ungerechte Prozesse hindeutet. Das gilt ganz genauso für die Diplomatie und Außenpolitik. Wenn wir die größten globalen Herausforderungen erfolgversprechend angehen und lösen wollen, können wir es uns nicht leisten, weiterhin die Deutungs- und Entscheidungsoptionen zu limitieren.

Doch patriarchale, unterdrückende Strukturen werden nicht allein zerschlagen, wenn Menschen künftig fair repräsentiert werden. Zusätzlich müssen Konventionen, Paradigmen und Glaubenssätze hinterfragt und neu gedacht werden. Frauen und andere politisch Marginalisierte zu stärken und in wichtige Positionen zu bringen ist daher nur der Anfang. Feministische Inhalte müssen folgen.

Kristina Lunz, Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch

Kristina Lunz: „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ Econ Verlag, erschienen am  24. Februar 2022, 22,99 Euro.

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