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„Eine Leben ohne Autismus und ADHS? Eine gruselige Vorstellung, plötzlich ein anderer Mensch zu sein“

Denise Linke hat Autismus und ADHS – und führt ein Magazin für Autist*innen, ADHSler*innen und Astronaut*innen erfunden. Was es damit auf sich hat, hat sie uns bei einem Treffen erklärt – und warum sie sich ihre Besonderheiten niemals fortwünschen würde.

Die Diagnose als Befreiung

Denise ist 21 Jahre alt und lebt in einer riesigen Wohngemeinschaft in Los Angeles, als sie endlich alles versteht. „Wann hast du eigentlich deine Diagnose bekommen?“,
fragt sie an einem Nachmittag ganz beiläufig einer ihrer Mitbewohner. Denise starrt ihn an und hat keine Ahnung, wovon er eigentlich spricht. „Na, Autismus. Du hast doch auch Autismus.“ Sie waren die beiden einzigen gewesen, die sich die Ohren zugehalten hatten, als ein Krankenwagen mit angeschalteter Sirene am Haus vorbeigefahren war. Instinktiv wusste sie, dass er Recht hatte.

Zurück in Deutschland bestätigte eine Ärztin die Diagnose – und Denise fühlte sich wie befreit. „Es erklärte einfach alles. Es erklärte, warum ich mich ein ganzes Leben fehl am Platz gefühlt hatte. Nicht weil ich dachte, anders zu sein als die anderen. Sondern weil die anderen mir zu verstehen gaben, dass ich es war“, schreibt Denise in ihrem Buch, das im Oktober 2015 erschienen ist und den Untertitel trägt: „Mein wunderbares Leben mit Autismus und ADHS.“

Für sie war die Diagnose also alles andere als ein Schock, sondern ein riesige Erleichterung. In ihrem Buch schreibt sie von ihrer Jugend als einer Zeit, die geprägt ist vom Unverständnis ihrer Umwelt und von Mobbing; eine Zeit, in der niemand vermochte, sie zwischen hochbegabt und verschroben richtig einzuordnen.

Wenn Wörter zu Bildern werden

Einige Jahre später wird auch ADHS bei Denise diagnostiziert. Autismus und ADHS sind keine seltene Kombination. Wenn man ihr im Café gegenübersitzt, neben ihr auf der
Bank kuschelt sich ihr Hundeswelpe „BB King“ in ihren Mantel, und man mit dieser humorvollen, aufmerksamen und redegewandten Person spricht, will man natürlich wissen: Wie äußern sich Autismus und ADHS in ihrem Alltag, was geht womöglich gerade in ihr ab, wovon das Gegenüber keine Ahnung hat?

So einiges. Wörter laufen in ihrem Kopf als Bilder ab; wenn man also von Schuhen spricht, sieht sie das Bild eines bestimmten Paars Schuhe; redet man über Köln, laufen in ihrem Kopf alle Bilder, die sie von Köln hat, wie ein Film ab. Manchmal, sagt sie, sehe sie die Sätze, die ihr Gegenüber spricht, als geschriebene Worte vorbeirattern, immer weiße Schrift auf schwarzem Grund. Und sie beschreibt ihre Wahrnehmung so: Was Leute bei Instagram nur an ihren besten Tagen machen, ist ihr Tagesgeschäft: Ohne Filter. Jetzt im Café zum Beispiel prasseln alle Wahrnehmungen mit der gleich Intensität ungefiltert auf sie ein: Das Blubbern und Röcheln der Kaffeemascheine, die Gespräche am Nebentisch, die Hintergrundmusik, der Geruch des Parfüms der Sitznachbarin, die grelle Beleuchtung. Man könnte sich das so vorstellen, sagt sie: In ihrem Kopf läuft 24/7 ein Film von Tim Burton.

Eine ständige Übung in Disziplin

Stellt es für sie also gerade eine Übung in Disziplin dar, mir ganz ruhig gegenüberzusitzen und sich konzentriert zu unterhalten? „Ich lasse mich sehr schnell ablenken, muss mich eigentlich immer bewegen, an irgendwas herumspielen. Jetzt sind meine Hände gerade ganz ruhig, aber das geht nicht so lange. Sollte dieses Interview zwei Stunden dauern, dann weine ich vielleicht irgendwann einfach.“

Sie raucht seit einiger Zeit („was ich natürlich niemandem empfehlen will“), und oft, sagt sie, sei das ihre Rettung. „Wenn ich sage, ,ich muss mal fünf Minuten raus, ich halt das hier nicht mehr aus’, dann gucken alle komisch und denken ,Hilfe was hat die denn?’ Wenn ich mal kurz raus eine rauchen gehe, findet das niemand komisch. Ich bin echt froh, dass man drinnen in den meisten Kneipen und Cafes nicht rauchen darf.“ Sie muss lachen.

Ein weiteres Problem, das im Dialog mit anderen oft Schwierigkeiten macht: Denise versteht weder Ironie noch Sarkasmus, sie versteht Dinge genau so, wie sie gesagt werden. Auch dass Mimik und Gestik dazu genutzt werden, um nonverbale Botschaften zu senden oder das Gesagte zu unterstreichen, musste sie erst mühsam lernen.

Bis heute begreift sie nicht, was daran lustig sein sollte, als ihre beste Freundin aus der Kindheit sie anrief und vom Tod ihrer Katze berichtete, um das Ganze wenig später als Aprilscherz aufzulösen.

Freundschaften pflegen: eine Herausforderung

Wenn sie etwas interessiert, gerät sie in einen Hyperfokus und kann dann nicht mehr aufhören zu reden, sie muss sich zwingen, ihrem Gegenüber zuzuhören. Für Freund*innen und Partner*innen ist das nicht immer einfach. „Die meisten meiner Freunde haben irgendeinen Depressionen, Sozialphobien, ich habe Randgruppenfreunde“, sagt Denise und lacht. In ihrem Alltag kämpft sie mit Hürden, von denen „neurotypische Menschen“, wie Denise diejenigen ohne neurologische Auffälligkeiten nennt, gar keine Ahnung haben.

Sie will gern pünktlich sein, schafft es aber nicht. Und alles, was sie denkt, sagt sie auch. „Das kennen bestimmt alle: Manchmal denkt man irgendeinen Schwachsinn oder etwas
Übertriebenes, was man sofort wieder verwirft und niemals laut sagen würde, und noch bevor ich denken kann ,Was für ein Schwachsinn’, da hab ich es schon gesagt.“

Routinen funktionieren nicht

Viele Symptome ihres ADHS konterkarieren die von Autismus. Autist*innen mögen Routinen und Pünktlichkeit, sie kommt immer zu spät. „Ich bin als ADHSlerin nicht in der Lage, Routinen einzuhalten, was für mich total furchtbar ist, weil ich als Autistin gerne welche hätte. Als ADHSslerin wiederum würde es mich total in den Wahnsinn treiben, wenn jeder Tag durchgetaktet wäre, ich könnte niemals zu geregelten Zeiten in einem Büro arbeiten.“

Auch in ihrem Beziehungsleben spielt ihr ADHS eine Rolle. „Die wenigen Männer in meinem Leben, die wirklich nett waren, habe immer ich verlassen. ADHSler langweilen sich extrem schnell, das ist bei mir auch so, und das ist kein besonders charmanter Wesenszug in einer Beziehung. ,Du bist supernett, du kümmerst dich um mich, aber mir ist so langweilig, ich hab das Gefühl ich bin tot’ – das ist den Männern gegenüber unfair, aber ich habe eine intensive Rastlosigkeit in mir, und leider neigen manchmal Männer, die Arschlöcher sind, eher dazu, Abenteurer zu sein.“

Das Gehirn gleicht einem Freizeitpark

In ihrem Buch beschreibt sie ihren Alltag so: „Mein ADHS macht es mir unmöglich, in den Stand-by-Modus zu gehen. Ich sende und empfange immer – egal ob es erforderlich ist oder nicht. Passiert nicht genug, drehe ich mich um meinen Kern wie ein perpetuum mobile.“ Und weiter: „Mein Gehirn gleicht einem Freizeitpark, bei dem die Schalterhäuschen am Eingang nicht besetzt sind. Alle rennen ohne Kontrolle in den Park und wollen auch noch gleichzeitig aufs Riesenrad.“

Sie berichtet auch von ihrem Versuch, gegen ihr ADHS mit Medikamten anzugehen. Ihr Arzt empfahl ihr Methylphenidat, also den Wirkstoff, der in ADHS-Medikamenten wie Ritalin enthalten ist. Bei ihr führte das zu schlimmen Nebenwirkungen, nach einer Woche setzte sie die Medikante ab. „Ich kenne Leute, die das sehr gut vertragen und mithilfe der Medikamente ein normales Leben führen und in einem Büro arbeiten können, ich bin Gott sei Dank in der Situation, dass ich genug Freiheiten habe und nicht darauf angewiesen bin, mithilfe von Medikamenten besser zu funktionieren.“

Denise ist schon lange ihre eigene Chefin, sie schreibt Bücher – und ist seit einiger Zeit Verlegerin: Ende 2014 erschien die erste Ausgabe ihres eigenen Magazins: Sie hat eine Zeitschrift gegründet, die etwa dreimal im Jahr erscheinen soll: „N#ummer – ein Magazin für Autisten und AD(H)Sler – der Titel ist eine Anspielung darauf, dass so viele Leute in dem Klischee verhaftet sind, Leute mit Autismus könnten ja so toll mit Zahlen umgehen. Und es soll auch ein Magazin für Astronauten sein. Astronauten, das sind für Denise all jene Leute ohne neurologische Auffälligkeiten, die sich Leuten mit Autismus oder ADHS nähern wie Astronauten einem fremden Planeten.

Lauter Vorurteile und Klischees

Über ein Crowdfunding finanzierte sie die Herstellung, innerhalb von drei Monaten kamen 10.000 Euro zusammen, genug für eine Startauflage von 2.500 Stück. „Wir waren
viel zu lange viel zu leise“, schreibt Denise in ihrem Editorial. „N#mmer soll Menschen eine Stimme geben, denen man bislang nicht zutraute, eine zu haben.“

Sie will zeigen, dass es gut ist, dass manche Menschen anders sind. Sie ist endlos genervt von der Art und Weise, wie Autismus und ADHS in den Medien dargestellt werden, nämlich ziemlich ähnlich: Voller Vorurteile und mit denselben negativen Unertönen. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen Artikel über ADHS gelesen habe, der nicht mit einem traurigen, schreienden Kind oder einer Packung Pillen bebildert war. Immer wird gelitten, und alles ist furchtbar.“ N#mmer soll ein Korrektiv sein.

Außerdem arbeitet sie gerade an einem neuen Buch, und an einem Konzept für eine neue Frauenzeitschrift, die ebenfalls in ihrem Verlag erscheinen soll und in der Themen wie Kochen, Mode und Beauty kategorisch nicht vorkommen sollen. Für sie ist es ein Segen, dass sie nicht darauf angewiesen ist, in einem klassischen Bürojob funktionieren zu müssen, sondern in ihrem eigenen Tempo, ihrem eigenen Rhythmus ihre Arbeit machen zu können.

Wie wäre ein Leben ohne ADHS?

Oft wird ihr die Frage gestellt, ob sie, wenn es möglich wäre, ihr Autismus und ADHS gerne los wäre; weil es dann womöglich leichter wäre, unbeschwerter? Sie findet die Frage befremdlich.

„Es gibt ja viele Dinge die einem das Leben generell schwerer machen, zum Beispiel dass man eine Frau ist, oder dass man homosexuell ist, oder dass man ein bestimmtes Syndrom hat, oder weil man schwarz ist… trotzdem denke ich ja nicht: ,Wenn ich ein Mann sein könnte, dann wär ich lieber ein Mann’; ich bin halt eine Frau, ich bin so geboren, das ist in Ordnung so und ich fühle mich auch so; und das ist mit ADHS und Autismus genau so: Ich weiß nicht, wer ich wäre, wenn dieser wichtige Teil meiner Persönlichkeit plötzlich weg wäre.“ Für sie ist die Vorstellung, plötzlich ein anderer Mensch zu sein, einfach nur gruselig.

Das ist Denises Buch: Nicht normal, aber das richtig gut. Mein wunderbares Leben mit Autismus und ADHS. Berlin Verlag, Oktober 2015, 208 Seiten, 20 Euro.

Und hier findet ihr Infos zu ihrem Magazin N#mmer.

Themenwoche: Frauen mit ADHS

Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben einem Arzt, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS, zum Beispiel Andie:

„Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“. Weiterlesen

Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“. Weiterlesen

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