Für viele bedeutet Fremdgehen das Aus der Beziehung. Das war auch Annelies erster Gedanke, nachdem ihr Freund sie betrogen hat. Für sie ein Grund, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, wie wir Beziehungen leben.
Wenn es dir plötzlich selbst passiert
Ich nippe am Glas, um mich herum tanzt die Menge, ich bin nervös. Meine Freundin schaut mich an und ich schreie ihr ins Ohr: „Der knutscht grad mit einer anderen, ich kann es nicht beweisen, aber ich weiß es einfach. Der geht grad fremd!“
Der Typ, den ich im Club gesehen habe, ist mein Freund. Zumindest ein Bild von ihm. Denn er ist ein paar tausend Kilometer weit weg. Doch ich fühlte in diesem Moment seine Untreue und es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ich es auf den Punkt genau erahnt habe. Die traurige Gewissheit trifft mich ein paar Tage später.
Im nächsten Moment weiß ich, dass jetzt alles schlagartig anders sein wird. Ich spüre keine Wut, nicht mal im Ansatz, nur Trauer, weil die logische Konsequenz nun das Aus für die Beziehung bedeutet. Oder nicht?
Kann Fremdgehen ein Neuanfang sein?
Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht alle Möglichkeiten durchdacht hätte. Ich fühle mich im Nachhinein ein bisschen wie das kleine Wikingerkind, das sich immer den Finger unter der Nase reibt und dann eine grandiose Idee hat.
Besteht nicht jetzt die Chance, unsere Beziehung jetzt grundlegend zu erneuern? Wollte ich das nicht immer, wie die Hippies frei und ohne diese ganzen konventionellen Regeln einer „typischen“ Beziehung leben?
Ja. Ich will! Oder doch nicht?
Die Vorstellung, dass der eigene Freund sich mit anderen Frauen vergnügt, ist merkwürdig, aber mit dem Wissen, dass ich das auch tun könnte, hat es wieder einen gewissen Reiz. Ich denke nach, ich erzähle es meinen Freundinnen und werde behandelt wie eine Verrückte: „Wie kannst du nur? Wo ist dein Stolz? Wieso brichst du den Kontakt nicht ab? Einmal Betrüger immer Betrüger!“ Willkommen im Wahnsinn der Beziehungsdiskussionen.
Treue ist auch nur ein Konstrukt
Mir ist bewusst, dass sich bei diesem Thema die Geister scheiden und wahrscheinlich der Vorwurf erklingt, es läge an unsere Generation des Überflusses, der Fülle an Möglichkeiten, dem Sexwahn und der omnipräsenten Sexdarstellung, dass wir nicht mal mehr mit der „unantastbaren“ Treue unseren Frieden haben können. Mag sein. Fakt ist jedoch, dass Treue ein erfundenes Modell ist, nachdem wir leben, ohne es groß in Frage zu stellen.
Fremdgehen. Einfach Sex. Die Faszination des Neuen. Oftmals in Verbindung mit Alkohol oder einer Ausnahmesituation: Urlaub, Streit, unerfüllte Sexträume. Ich persönlich kann verstehen, warum man vom monogamen Weg abkommt. Manchmal sind die Umstände einfach zu verlockend. Nur zu gut kenne ich folgende Aussage: „Also wenn jemand fremdgeht, dann kann etwas in der Beziehung nicht stimmen!“ Gegenfrage: In welcher Beziehung stimmt denn alles? Jeder setzt seine Prioritäten anders.
Treue ist ohne Frage eine angenehme Regel, aber ich zermarterte mir seit Jahren den Kopf darüber, ob wir diesen Begriff nicht endlich mal ganz offiziell überarbeiten sollten? Man muss sich ja nicht unbedingt gleich drei Partner anschaffen, aber Monogamie ist ein Dogma, welches in meinen Augen immer weniger unserem Naturell entsprich. Nur um es kurz erwähnt zu haben: Das ist keine Predigt fürs Fremdgehen, sondern ein Appell, darüber nachzudenken, nicht gleich alles hinzuschmeißen, falls doch mal jemand „abgerutscht“ ist.
Eine Beziehung ist doch soviel mehr als Sex. Jemanden zu finden, mit dem du dich gut verstehst, der sich für dich interessiert und an deiner Seite steht. Das ist doch mehr wert als ein One-Night-Stand. Geschlechtsverkehr kann mittlerweile jeder so einfach haben, aber eine emotionale Beziehung führen, durch dick und dünn gehen, sich die Mühe machen hinter die Fassade zu schauen, das machen doch die wenigsten heutzutage. In Zeiten von Tinder müssen wir uns jederzeit der Versuchung stellen. Warum also eine tolle Beziehung aufgeben, nur weil der eine mal eine andere Person küssen wollte?
Beziehungen sind niemals einfach
Natürlich ist es längst nicht so einfach. Nein, es ist sogar sehr, über alle Maße hinaus, mega, unbeschreiblich kompliziert. Denn Untreue, sei sie auch nur rein körperlicher Natur, birgt immer die Gefahr des Verliebens, des Verletztwerdens und – nicht zu vergessen – der Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Das kann passieren, muss es aber nicht.
Was mich stört, ist das permanente Verurteilen und die Rechtfertigung, wenn das herkömmliche Beziehungsmodell nicht gelebt wird. Meine Oma würde sich zweifelsfrei im Grabe umdrehen, wenn ich ihr sagte: „Oma, ich habe einen Freund, aber was hältst du davon, dass ich gelegentlich auch mit anderen verkehre? Ist dir dieser Gedanke bei Opa auch schon mal gekommen?“ Das wäre ein Skandal, ich müsste erst mal meinen Taufspruch und ein paar Psalmen aufsagen, um dieses Gedankengut wieder zu neutralisieren.
Mein Mutter fragte mich erst neulich: „Kind, warum kannst du nicht wie deine Eltern ein normales Leben führen? Normal arbeiten, mit normalem Partner, normal Kinder zeugen und sonst auch einfach normal sein?“ Danke Mama, was soll das denn heißen?
Ich bin enorm normal. Ich führe eine erfolgreiche kleine Allein-Unternehmung, ich schlafe viel und habe noch nie in meinem Leben Drogen genommen. Man könnte fast sagen, ich sei langweilig. Eine Langweilerin mit exotischen Vorstellungen von Treue, die so manches hinterfragt.
Beim Thema Beziehung neue Perspektiven wagen
Das, was ich kann, ist die Perspektive wechseln, über den Tellerrand hinausschauen, mich in Dinge hineindenken und lernen zu verstehen und zu verzeihen. Denn ich habe verziehen und nicht aufgegeben. Und das war trotz allem nicht so leicht wie ich es vielleicht darstelle. Dazu gehört eine gewisse Fähigkeit der Selbstreflexion und eine Portion Selbstbewusstsein. Du musst dein Ego mit all der Eifersucht ausschalten, viel reden und vor allem verzeihen wollen, ohne es in der nächstbesten Gelegenheit vorzuhalten. Es ist wichtig, sich von alten Denkmustern zu lösen und die Sichtweise zu wechseln, um das Handeln des Partners zu verstehen. Ich habe meinen Frieden gemacht und bin offen für jede Diskussion über sämtliche Beziehungsmodelle.
Betrug ist nicht das Ende, im Gegenteil, es kann sogar ein Anfang für eine noch emotionalere und erfüllendere Beziehung sein, weil beiden bewusst wird, was man an dem Partner hat.
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