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Sondierungsergebnisse: In was für einem Land wollen wir die nächsten vier Jahre leben?

Fast alles spricht dafür, dass die nächste GroKo kommt. Aber was steht eigentlich im Sondierungspapier? Das fragt sich unsere Volontärin Helen diese Woche in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.

GroKo reloaded?

Fast vier Monate ist die Bundestagswahl nun her. Spätestens seit vergangenen Freitag stehen die Zeichen für eine erneute Große Koalition. Die Parteien haben sich auf ein Sondierungspapier geeinigt. Und wenn am kommenden Wochenende die Basis der SPD zustimmt, wird es an konkrete Koalitionsverhandlungen gehen. Das Ergebnispapier, das am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde, macht vor allem eins: müde. „Wir wollen sichern was gut ist, aber gleichzeitig den Mut zur Erneuerung und Veränderung beweisen” heißt es zwar in der Präambel, der Mut zu Erneuerung und Veränderung lässt sich auf den folgenden 26 Seiten aber nur schwer finden. Deshalb ist man auch geneigt, ein halblautes „Dann ändert sich halt nochmal vier Jahre nichts” zu murmeln und die Sondierungen, Sondierungen sein zu lassen. 

Das Ergebnispapier liest sich so, als wäre es vor allem darum gegangen, dass jede der drei Verhandlungspartner sich Inhalte auf die Fahne schreiben kann. Vor allem bei der SPD scheinen die konkreten Punkte dabei ziemlich egal zu sein: Es wird keine Bürgerversicherung geben, dafür aber eine Obergrenze und die Aussetzung des Familiennachzugs.

Das mag funktionieren – allerdings nur für die Menschen, für die die Beschlüsse wirklich kaum etwas verändern würden oder für die all das, was in dem Papier ausgelassen wurde, nicht von existenzieller Bedeutung ist. Alleinerziehende zum Beispiel werden kein einziges Mal erwähnt. Der Klimawandel schafft es genau einmal namentlich ins Papier. Die sozialen Errungenschaften der Verhandlungen sind vor allem Maßnahmen für die von Abstiegsangst geplagte Mittelschicht: Das Kindergeld soll um 25 Euro steigen, die Steuern steigen nicht und Arbeitgeber sollen zukünftig wieder zur Hälfte von den Arbeitgebern getragen werden. Sieht so das Land aus, in dem wir die nächsten vier Jahre leben wollen? 

Sozialpolitik? Vielleicht ja 2021 …

Für einkommensschwache Familien soll immerhin der Eigenanteil an Kita- und Schulessen entfallen und der Kinderzuschlag steigen. Ja, das sind konkrete Maßnahmen gegen Kinderarmut, aber sie reichen längst nicht weit genug. Auch sozialer Wohnungsbau wird angesprochen: irgendwann wird er kommen – vielleicht. Zumindest werden Anreize geschaffen. Wie so viele soziale Maßnahmen im Papier bleibt dieser Bereich sehr vage. 1,5 Millionen Wohnungen sollen frei finanziert und öffentlich gefördert werden. Wenn man sich keine Sorge um seine wohnliche Situation machen muss, mag das in Ordnung sein, für die vielen Menschen die konkret unter dem Wohnraummangel, vor allem in Großstädten, leiden, bleibt die existenzielle Bedrohung. Denn Statt „steuerlicher Anreize für den freifinanzierten Wohnungsbau” und „finanzielle Unterstützung bei Eigentumsbildung insbesondere für Familien” braucht es aber eigentlich vor allem staatlichen Wohnungsbau. Eigentum ist ein Luxus, genügend Wohnraum sollte es nicht sein. Einer alleinerziehenden Mutter bringt es in den meisten Fällen nichts, wenn der Staat sie beim Erwerb einer Eigentumswohnung finanziell unterstützen würde, wenn sie nicht einmal weiß, wie sie die Miete für eine genügend große Wohnung aufbringen soll. 

Aber einen Bereich gibt es, bei dem das Sondierungspapier konkret wird: Migration und Integration: Faktisch soll der Familiennachzug weiterhin ausgesetzt werden und eine Obergrenze eingeführt werden. Union und SPD bekennen sich zwar „strikt zum Recht auf Asyl und zum Grundwertekatalog im Grundgesetz, zur Genfer Flüchtlingskonvention, zu den aus dem Recht der EU resultierenden Verpflichtungen zur Bearbeitung jedes Asylantrags sowie zur UN-Kinderrechtskonvention”, beschließen aber gleichzeitig eine Politik der immer weiterreichenden Abschottung. Sie schaffen ein klares „Wir” und „Die”.

Europas Festung wird ausgebaut

Die Zusammenarbeit mit Transit- und vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten soll weiter ausgebaut werden. Frontex soll eine „echte Grenzschutzpolizei” werden. Während im ersten Abschnitt zum Thema „Europa” großspurig angekündigt wird: „Europa muss ein Kontinent der Chancen sein, besonders für junge Menschen”, wird im Abschnitt zur Zuwanderung deutlich, dass dies nur für Menschen mit dem richtigen Pass gilt, die auf der richtigen Seite geboren sind. Während die Sondierungsparteien in Bezug auf Europa Protektionismus, Isolationismus und Nationalismus eine klare Absage erteilen, sehen sie „Freiwillige Rückkehr” und konsequente Abschiebungen gleichzeitig als von wesentlicher Bedeutung.

Dafür sollen ANkER-Einrichtungen geschaffen werden. ANkER steht für „Zentrale Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen” oder auch menschunwürdige Massenlager, in denen in Schnellverfahren entschieden werden soll, wer bleiben darf. Alle anderen sollen direkt aus diesen Einrichtungen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.

In Deutschland wird es immer kälter

Am Montag hat der Vorstand der CSU einstimmig für die Koalitionsverhandlungen mit der SPD gestimmt. Man sei zufrieden mit dem Sondierungspapier. Angela Merkel bezeichnete selbiges als „Papier des Gebens und Nehmens” und Sigmar Gabriel spricht von einem sehr guten Ergebnis. Auch wenn sich in der SPD (vor allem in der Person des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert) Widerstand regt, wird es wohl zur GroKo kommen. Wir blicken also einer Regierung entgegen, die sich einmal mehr gegen die Schwächsten richtet und deren Opposition von der AfD angeführt wird.

Währenddessen griffen am Wochenende im sächsischen Wurzen etwa 30 Nazis eine Unterkunft für Asylsuchende an. Und vor den Toren Europas sterben weiter fast täglich Menschen. An der Schaubühne in Berlin läuft derzeit „Ungeduld des Herzens” von Stefan Zweig. In dem Stück geht es unter anderem darum, welche Verantwortung wir für andere Menschen tragen. Der letzte Satz des Stückes lautet: „Aber seit jener Stunde weiß ich neuerdings: Keine Schuld ist vergessen, solange noch das Gewissen um sie weiß.” Nach dem dieser Satz gesprochen wurde, werden verschiedene Bilder an die Wand projiziert. Das letzte Bild zeigt ein Boot voller geflüchteter Menschen auf dem Mittelmeer.

Mit Blick auf das Sondierungspapier frage ich mich traurig, ob unser Gewissen uns irgendwann einholen wird. Ich jedenfalls möchte in so einem Land nicht leben. Im Gegensatz zu vielen Geflüchteten kann und werde ich es trotzdem. Denn die Alternativen zur GroKo lauten: Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Keins davon scheint derzeit eine ernsthafte Alternative.

Hier könnt ihr das gesamte Sondierungspapier lesen.

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