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Alltag als Palliativärztin: „Mein Job beginnt, wenn man die Patient*innen nicht mehr heilen kann”

Die Palliativärztin Hannah Haberland macht es möglich, dass Patient*innen zuhause sterben können. Über ihren besonderen Beruf hat sie ein berührendes Buch geschrieben. Ein Interview.

„Unsere Aufgabe ist es, den Menschen, zu ermöglichen, zu Hause zu sterben.”

Als Palliativärztin beginnt der Arbeitsalltag, an dem Punkt, an dem ein Patient nicht mehr zu heilen ist. Im Vordergrund der Behandlung stehen das Wohlbefinden, Schmerzfreiheit soweit es möglich ist und ein würdevoller Tod. Und jeder Mensch in dieser Situation hat das Recht auf eine „Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung”, durch die der Patient, wenn möglich, zuhause sterben kann.

Hannah Haberland (Pseudonym) arbeitet in einem der wenigen Teams in Deutschland, die das möglich machen. Über ihren Alltag als sterbebegleitende Ärztin, besondere Patientenbegegnungen und letzte Momente hat sie nun ein Buch geschrieben. Wir haben sie zum Interview getroffen.

Was genau versteht man unter Spezialisierter Ambulanter Palliativversorgung?

„Jeder Mensch hat das Recht auf eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung, kurz SAPV. Die SAPV macht im Prinzip das gleiche, was auf einer Palliativstation passiert, nur dass der Patient zu Hause und nicht im Krankenhaus ist. Deshalb können wir als Team auch nur eine bestimmte Patientengruppe aufnehmen. Die Patienten müssen an einer Erkrankung leiden, die nicht mehr heilbar ist, viele sind Krebspatienten, und sie müssen Symptome haben. Das alles führt dazu, dass wir unsere Patienten für gewöhnlich über einen sehr kurzen Zeitraum begleiten, im Durchschnitt drei bis vier Wochen. Das sagt aber über den individuellen Patienten nichts aus: es gibt Patienten, die betreuen wir drei Stunden, wir hatten aber auch schon Patienten, die wir über zwei Jahre begleitet haben.

Unsere Aufgabe ist es, den Menschen, die das möchten, zu ermöglichen, zu Hause zu bleiben und wenn möglich auch dort zu versterben. In dieser Zeit sorgen wir dafür, dass sie möglichst symptomfrei sind, keine Schmerzen haben und noch einmal ein wenig Lebensqualität zurückgewinnen.”

„Der Beruf gibt einem wahnsinnig viel zurück.”

Wie bist du dazu gekommen?

„Ich bin gelernte Anästhesistin. Nach meiner Facharztausbildung habe ich eine Weiterbildung zur Palliativmedizinerin gemacht, nachdem ich während meiner Zeit auf der Intensivstation viele frustrierende Momente erlebt hatte, in denen ich Patienten, von denen eigentlich jeder wusste, dass sie es nicht überleben würden, künstlich am Leben erhalten musste. Und als dann zufällig ein Platz in einem neugegründeten SAPV-Team frei wurde, wollte ich mir das gerne anschauen. Und jetzt möchte ich nichts Anderes mehr machen. Das ist so eine tolle Sache, die einem auch wahnsinnig viel zurückgibt.”

Und wie kommen die Patienten zu euch?

„Das ist unterschiedlich. Ein Teil kommt über den jeweiligen Hausarzt. Hausärzte haben oft mehrere hundert Patienten und kommen bei manchen von ihnen an den Punkt, an dem sie eine angemessene Versorgung in der Sterbebegleitung nicht mehr leisten können. Dann fragen sie bei uns an, ob wir diese Patienten aufnehmen können. Es gibt aber auch Kliniken, die Patienten entlassen und diese dann an uns übergeben. Manchmal rufen auch Patienten oder Angehörige selbst bei uns an.”

Von außen betrachtet klingt das nach einem ziemlich harten Alltag, der ganz schön belastend sein muss. Was ist das Schöne an deinem Job?

„Das Schönste ist – obwohl das alles natürlich sehr traurig ist – dass man die Patienten und Angehörigen, ich will nicht sagen glücklich machen kann, aber man kann ihnen eben doch wahnsinnig viel geben: Stabilität, Sicherheit, Symptomkontrolle. Oft hilft schon das erste Gespräch dabei, den Patienten die Angst zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass wir sie nicht alleine lassen und da sind, wenn sie ein Problem haben – egal zu welcher Uhrzeit.”

Und was ist das Schwerste?

„Ich bekomme oft zu hören: ,Das, was du machst, könnte ich nicht machen.’ Ich habe es in der Klinik oder als Notärztin aber als viel schlimmer empfunden, zum Beispiel junge Menschen sterben zu sehen. Da dachte ich dann immer: ,Der ist heute morgen genauso wie du aufgestanden.’ Unsere Patienten hingegen wissen ja oft schon länger, dass sie diese tödliche Erkrankung haben.

Was schwer ist sind die Patienten, die einem biografisch nah sind. Gerade wenn man merkt, dass sie einem auch im Verhalten ähnlich sind, fällt es mir sehr schwer, mich davon zu distanzieren, nach Hause zu gehen und wirklich abzuschalten. Gleichzeitig haben wir eine enorme Arbeitsbelastung. Im Schnitt betreuen wir 15 bis 20 Patienten. Manchmal haben wir vielleicht nur zehn aktuelle, aber wahnsinnig viel zu tun, weil viele Patienten eine kurze Verweildauer haben. Die Aufnahme bindet zwei Personen für mindestens eineinhalb Stunden beim Patienten, plus An- und Abfahrt und die bürokratische Bearbeitung. Insgesamt ist man also mindestens drei bis vier Stunden damit beschäftigt. Und eine Entlassung ist noch einmal aufwendig. Dann haben wir vielleicht nicht besonders viele Patienten auf der aktuellen Liste, sind aber trotzdem die ganze Zeit eingespannt.”

Im Medizinstudium geht es ja vor allem darum, zu lernen, wie man Menschen heilt. Das ist wohl auch der Beweggrund den die meisten Ärztinnen und Ärzte als Motivation für ihren Beruf angeben würden. Dein Job fängt aber erst an, wenn man den Patienten oder die Patientin nicht mehr heilen kann. Hat sich dein Bild von dir als Ärztin dadurch geändert?

„Es ist tatsächlich so. Mittlerweile ist Palliativmedizin zwar Teil des Studiums, aber eigentlich kommt das Thema nicht vor. Es gibt auch keine Facharztausbildung für Palliativmedizin, das ist keine Zusatzbezeichnung. Das Ziel ist immer, den Patienten zu heilen. Und das ist auch etwas, das ich bei vielen niedergelassenen Kollegen beobachte: die therapieren bis zum letzten Tag. Natürlich nicht aus Boshaftigkeit, nicht, weil ihnen nichts an dem Patienten liegt, sondern weil sie es nicht anders gelernt haben. Insofern glaube ich schon, dass es sehr bestimmte Menschen braucht, die dann zufällig auch Ärzte sind, um den Weg der SAPV einzuschlagen. Nicht bessere Menschen, aber einfach andere Menschen. Für mich passt es sehr gut.”

„Also macht man weiter und hofft, dass man dann doch irgendwann damit abschließen kann.”

Wie gehst du mit der enormen Belastung um?

„Bei uns kannst du nicht nach Hause gehen und sagen: ,Jetzt ist es vorbei.’ Wir haben ja Bereitschaftsdienst. Das heißt, ich kann vielleicht zu Hause sein und zum Beispiel die Wäsche zusammenlegen, und dann klingelt das Telefon und ein Patient ist verstorben, hat Schmerzen oder braucht eine neue Medikation. Es gibt keinen Rückzugsort. Es gibt keine richtig gute Strategie. Entweder man kann das, was wir machen, oder man kann es nicht. Und es gibt auch immer wieder Situationen, in denen ich es nicht kann. Gerade habe ich zum Beispiel einen Patienten, bei dem sowohl ich als auch meine Kollegin uns eigentlich zurückziehen müssten, weil es uns zu nah geht. Aber wir können das jetzt nicht, weil der Patient bald sterben wird. Jetzt, kurz vor Schluss, noch einmal die Bezugspersonen zu wechseln, wäre nicht richtig. Also macht man weiter und hofft, dass man dann doch irgendwann damit abschließen kann.”

Habt ihr die Möglichkeit zu einer Art von Supervision?

„Ja, das ist verpflichtend. Alle sechs Wochen kommt eine externe Person dafür. Dabei besprechen wir aber tatsächlich selten Fälle, die uns nahegehen. Es geht dabei eher um Teamstrukturen und solche Dinge. Aber es gibt die Möglichkeit des Gespräches, mit einer externen Person oder im Team, auf die man zurückgreifen kann.”

Und wie wichtig ist Humor in deinem Beruf?

„Humor ist auf jeden Fall wichtig. Man sagt Ärzten ja nach, dass sie im Laufe ihrer Karriere immer zynischer werden. Und ich glaube, da ist schon was dran. Zynismus oder Humor sind dabei auch eine Art Schutzmechanismus. Natürlich nicht zu Lasten der Patienten. Ein respektvoller Umgang ist uns total wichtig – aber wir lachen viel mit den Patienten gemeinsam. Es gibt Situationen, in denen Humor einfach hilft und schwierige Umstände leichter macht.”

War das Buch für dich auch ein Kompensationsmechanismus? Verarbeitung?

„Das Buch war sicherlich auch eine Art der Verarbeitung. Ich erzähle darin auf jeden Fall von ein paar Geschichten, an denen ich sehr zu knabbern hatte. Zum Beispiel von dem Patienten, der mich am Ende dann so explizit in seiner Patientenverfügung erwähnt hat oder der Patient, der am Ende eine akute Blutung hatte und trotzdem zu Hause sterben konnte. Oder die Patientin, die durch die Angehörigen eine versehentliche Überdosierung ihrer Medikamente erhalten hatte. Das sind Fälle, die mir immer noch sehr nahegehen. Es hat sicherlich geholfen, das aufzuschreiben und zu reflektieren.

Aber ich mache den Job ja insgesamt gerne. Es gibt sicherlich immer mal wieder Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, dass das alles zu viel ist. Dann gibt es aber auch immer wieder Zeiten, in denen es gut geht. Ich werde diesen Job wahrscheinlich nicht bis zur Rente machen. Ich muss schließlich noch 30 Jahre arbeiten, das werde ich nicht schaffen. Aber ich bin jetzt auch noch nicht an einem Punkt, an dem ich aufhören will oder muss.”

Und wenn du mal an diesem Punkt sein wirst, gibt es dann genügend Nachfolger oder habt ihr ein „Nachwuchsproblem”?

„Ich würde mich persönlich nicht so wichtig nehmen, dass ich denken würde, wenn ich aufhöre, macht niemand mehr diesen Job. Aber es ist tatsächlich nicht so, dass uns die Leute die Bude einrennen. Die Voraussetzungen, um als Palliativmedizinerin in so einem Team wie meinem zu arbeiten, sind relativ hoch. Und von dem, was man vorher in der Facharztausbildung gelernt hat, muss man einiges zur Seite legen. Unser Arbeiten ist ein bisschen wie ein Neuanfang. Du musst also den Wunsch haben, hinter dir zu lassen, dass du – was man in der Ausbildung immer wieder vermittelt bekommt – Menschen heilen möchtest und sie stattdessen auf ihrem letzten Weg begleiten. Das kann und will natürlich nicht jeder.”

Hannah Haberland: „Letzte Begegnungen: Eine Palliativärztin erzählt”, Eden Books, 2018, 224 Seiten, 14,95 Euro.

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