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Landleben: Warum ich nie wieder auf dem Dorf leben will

Frische Luft, Ruhe, ein weiter Blick, keine Infrastruktur. Unsere Autorin ist in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen – und will nie wieder zurück. Ein Essay von Mareice Kaiser.

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Ich will weg. Ich weiß nur nicht, wohin. Meine Welt führt von der Hauptstraße bis zum Wald. Dazwischen das Haus meiner Eltern, dahinter ein kleiner Bach, Felder und Wald. So weit, so idyllisch. Und so langweilig. „Geh an die frische Luft“, sagt mein Vater. Er sagt das eigentlich ständig. Fernsehen kommt nicht in Frage und Lust darauf habe ich eh nicht. Wir haben drei Programme, ARD, ZDF und NDR. Wetten, dass..? ist manchmal cool und zu Weihnachten Märchenfilme. Ansonsten: Draußen ist die frische Luft und darin habe ich offenbar zu sein. Unabhängig vom Wetter, unabhängig von der Jahreszeit und ja, leider eben auch unabhängig davon, ob ich selbst Bock drauf habe oder nicht. Ich lerne also ziemlich schnell lesen. Das finden zwar auch alle irgendwie seltsam, so viel zu lesen, aber nicht ganz so seltsam wie fernsehen. Es ist meine Ausrede gegen die frische Luft. Also hänge ich mit den Büchern rum, mit den Büchern meines älteren Bruders. Der Fänger im Roggen gefällt mir gut. Ich ahne: Irgendwas muss es hinter den Feldern und dem Wald geben. Und ich ahne: Es könnte gut sein.

Meine Grundschullehrerin ist anders als alle Erwachsenen, die ich bisher so kenne. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich mag sie sehr. „Vorher hat sie in der Stadt unterrichtet“, sagt meine Mutter. Meine Lehrerin hat viele Locken und bunte Kleider. Manchmal bringt sie ihren Mann mit in die Schule, er hat lange Haare, einen langen Bart, spielt Gitarre und singt mit uns. Meine Lehrerin trägt jeden Tag verschiedene Socken. Anfangs sprechen alle darüber, irgendwann nicht mehr.

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Ich ziehe am Türgriff und rieche das Leder der Sitze. Das Auto ist grau, meine Gedanken sind bunt. Ich setze mich auf den Platz mit dem Lenkrad und fühle mich frei, noch bevor ich die Zündung betätige. So lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Mein Leben im Bus endet hier, meine Freiheit beginnt. Bisher habe ich im und mit dem Bus gelebt, der mich in die Stadt fährt. Wenn ich ihn verpasse, bleibe ich im Dorf. Der Bus in die Stadt mit meinem Gymnasium fährt zur ersten Stunde und zur zweiten Stunde. Danach nicht mehr. Nachmittags zu zwei Zeiten wieder zurück. Abends gar nicht mehr. Verabredungen mit Klassenkamerad*innen nach der Schule fallen flach – außer, meine Eltern holen mich ab. Uncool und manchmal unmöglich. Zum Glück habe ich ältere Freund*innen aus Nachbardörfern, die einen Führerschein haben und manchmal sogar ein Auto. Sie sind meine Rettung.

„Den Führerschein bezahlen wir euch, mehr können wir nicht“, lautet die Ansage meiner Arbeiter-Eltern. Führerschein als Luxus, aber auch: Führerschein als Möglichkeit. Ausziehen erlauben mir meine Eltern nicht. Eben auch, weil es teuer wäre. Also immerhin ein Führerschein und ein geteiltes Auto mit meinem Bruder. Jetzt hier im Fahrschulauto fühle ich mich wie der Marlboro-Mann, so frei. Mein Dorf ist zu weit von der Stadt entfernt, um mit dem Fahrrad zu fahren. 20 Kilometer hin, 20 Kilometer zurück. „Na dann mal los“, grinst mich Herr Schreiber von rechts an. Ich drehe den Schlüssel und starte das Auto.

‚Mach das Telefon wieder frei!‘, brüllt mein Vater. Wir haben jetzt endlich ein Modem, aber ich darf es nicht benutzen.

Nach Hannover fahren meine Mutter und ich nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug. Das ist für mich jedes Mal ein Feiertag. In der 20 Kilometer entfernten Kleinstadt gibt es keinen H&M. In Hannover verbringe ich mit meiner Mutter Stunden in diesem Laden. Wenn wir rausgehen, trage ich ganz stolz eine große Plastiktüte voll mit Klamotten in der Hand. Meine Mutter zahlt bar, damit mein Vater nicht die Abbuchung auf dem Konto sieht. Wir sind Komplizinnen und ich bin glücklich. Wir gehen anschließend in ein Café und trinken den Kaffee, als wäre er Champagner.

Ich sitze auf der Treppe, das grüne Tastentelefon neben mir. Die Treppe ist die einzige Chance, ungestört zu telefonieren, die Schnur des Telefons reicht nicht bis in mein Zimmer. „Mach das Telefon wieder frei!“, brüllt mein Vater. Wir haben jetzt endlich ein Modem, aber ich darf es nicht benutzen. Schließlich könnte in der Zeit, in der ich im Internet bin, jemand meine Eltern oder meine Brüder telefonisch erreichen wollen. Sowohl Telefon als auch Internet sind bei uns heiß umkämpft. Neidisch denke ich an meine Freundinnen aus der Schule, die jetzt zusammen sein können, weil sie sich gegenseitig mit dem Fahrrad besuchen können. An die Freundinnen, die zusammen Handball spielen, weil sie zu Fuß die Sporthalle erreichen können. Ich wünsche mir Gesangsunterricht, aber meine Eltern können ihn weder bezahlen noch es sich leisten, mich einmal pro Woche 40 Kilometer zu fahren. Ich will endlich wenigstens ein Handy.

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Ab Hannover bekomme ich schlechter Luft. Vom ICE steige ich in die S-Bahn um, hier beginnt eine andere Welt. Die Menschen sehen anders aus als in Berlin. Irgendwie gleichförmiger. Sticht jemand heraus, wird die Person gleich angeglotzt. Vielleicht liegt es daran, dass hier weniger Menschen sind? Aber nein, auch wenig Menschen könnten ja vielfältig sein. Sind sie hier aber nicht. Rapsfelder ziehen an mir vorbei und sind die einzigen Farbkleckse. Ansonsten alles grün und grau, ein paar Hügel. Die Weite, die ich aus dem Fenster sehe, macht meinen Hals enger. Meine Eltern holen mich vom Kleinstadtbahnhof ab, die 20 Kilometer fahren wir mit dem Auto.

Auf dem Dorf leben, um in der Natur zu sein, aber ein Auto haben müssen, das die Natur verschmutzt, um aus der Natur wieder herauszukommen. Ich versuche, weniger zu hinterfragen, sobald ich in das Auto meiner Eltern steige. Das Auto meines Vaters, meine Mutter hat seit einigen Monaten auch noch eines. Ein kleineres. Im Auto meines Vaters sitzt sie auf dem Beifahrersitz. Wie alle Ehefrauen aus unserem Dorf. Manche haben kein eigenes Auto, die meisten aber schon. Gleichberechtigung macht nicht vor unserem Dorf halt. Ich muss lachen. Manchmal kommt es mir vor, als wäre das Ehegattensplitting für unser Dorf gemacht worden. Hier leben die Menschen, die davon profitieren, dass der Mann mehr verdient als die Frau und sich die Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert.

In Berlin bin ich umgeben von Leuten, die schreiend weglaufen würden, wenn ich mit ihnen über die heterosexuelle Ehe sprechen wollen würde. Ein Dorf nach dem anderen, gleich sind wir da. Mein Dorf ist das kleinste. 240 Einwohner*innen, 240 Kühe, viele Schweine, Hauptstraße und zwei Nebenstraßen, eine runter ins Dorf, eine hoch. Wir fahren hoch. Die Menschen, die an dieser Straße wohnen, können Autos am Geräusch erkennen. Meine Eltern hören, wenn die Nachbar*innen nach Hause kommen und die Nachbar*innen hören unsere Eltern. Jede*r kennt jede*n gilt hier auch für die Autos.

Beim Abendbrot sitze ich am Küchenfenster, neben mir hängt eine Gardine, die ich manchmal zur Seite schiebe, um meine Mutter zu ärgern. Dabei bin ich mir nicht sicher, was genau sie mehr stört: Dass die Gardine unordentlich aussehen könnte, oder dass die Nachbar*innen sehen könnten, dass wir gerade Abendbrot essen. Alle Nachbar*innen haben die gleichen Gardinen, sie verdecken die Hälfte des Fensters. „Welches Brötchen möchtest du denn morgen früh essen?“ Woher soll ich wissen, was ich morgen früh essen will, denke ich, antworte aber: „Roggen“.

Ich kann nicht schlafen, so leise ist es hier.

Der Brötchenwagen kommt zweimal pro Woche, immer dienstags und samstags, immer 6:50 Uhr. Er fährt die Dörfer in der Umgebung ab und ist gerade für die älteren Menschen die einzige Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen. Als ich noch ein Kleinkind war, gab es noch einen kleinen Edeka-Laden an der Hauptstraße, mittlerweile gibt es nur noch einen Briefkasten. Für Roggenbrötchen müssen meine Eltern früh aufstehen. Die Bäckereiwagenfrau würde die Brötchen auch vor die Tür stellen, für 2 Cent mehr pro Brötchen. Diesen Service nutzt aber so gut wie niemand. Ich vermute, weil die anderen Nachbar*innen das ja sehen könnten, hinter ihren Gardinen, dass da jemand zu faul sein könnte, um früh aufzustehen. Abends, im Bett im Haus meiner Eltern, ist es so still, dass meine Ohren piepen. Ich kann nicht schlafen, so leise ist es hier.

Retour kann ich ab Hannover wieder besser atmen. Das Marlboro-Gefühl stellt sich ein, sobald ich im ICE nach Berlin sitze. Mit meinem MP3-Player höre ich Ich steh auf Berlin, meine Berlin-Hymne. Ich komme mir dabei sehr verwegen vor und singe leise mit: „Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein, ich steig aus, gut wieder da zu sein.“ Seit ein paar Wochen nehme ich Gesangsunterricht, die Gesanglehrerin wohnt in meinem Bezirk, ich gehe einmal pro Woche zu ihr. Außerdem gehe ich aus, mehr als einmal pro Woche. In Bars, in Clubs, in Theater, in Büchereien, in Ausstellungen, wohin ich will, wann ich will und so lange ich will.

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„Hier ist alles herrlich grün!“, jauchzt mein Kind im Garten meiner Eltern. Und es hat recht. Es ist wirklich grün. Grün mit Blumen. Schön, eigentlich. „Wir sind im Garten“, steht auf einem Schild, das meine Eltern in die Einfahrt zur Garage gestellt haben. Das Zeichen für die Nachbar*innen: Kommt ruhig nach hinten. Auch meine 17-jährige Nichte sitzt heute mit uns am Gartentisch. „Mein Freund kommt später noch vorbei. Ist doch okay, Oma?“ fragt sie meine Mutter und ich muss grinsen. Spontanbesuche sind hier eher nicht vorgesehen. Das Gute an unserem Dorf: Es gibt sie auch nicht. Niemand kommt hier mal zufällig oder spontan vorbei. Der Freund meiner Nichte hat schon einen Führerschein und ist offenbar so verknallt, dass er die 20 Kilometer gern fährt.

Als er dann mit am Gartentisch sitzt und mich auf meinem Handy tippen sieht, fragt er schüchtern: „Hast du hier Empfang?“ Ein guter Witz. Empfang hat hier nämlich niemand. Warum auch, gibt ja Festnetz. Erst seit einigen Jahren gibt es hier stabiles WLAN. Seitdem kann ich es besser aushalten im Dorf meiner Eltern, das mal mein Dorf war.

Die Hühner hier haben mehr Auslauf als meine Tochter in der Stadt.

Mit meiner Tochter und meinem Vater gehe ich zu den Hühnern. Sie leben auf dem Bauernhof, auf dem ich aufgewachsen bin. Der Bauernhof, auf dem ich Heuballen gestapelt und Kühe auf die Weide getrieben habe. Der Bauernhof, neben dem ich Kartoffeln geerntet habe und auf dem geschlachtete Hühner ohne Kopf neben mir liefen. Der Bauernhof, in dem die Hasen kopfüber von der Decke hingen, während ihre Gedärme in Eimer tropften. Seitdem esse ich kein Fleisch mehr. „Aber Wurst, die isst du schon?“, fragte mich meine Oma immer, als sie noch lebte.

Wer glückliche Hühner sehen will, muss hierher kommen. Die Hühner hier haben mehr Auslauf als meine Tochter in der Stadt. Sie können so viele oder so wenig Eier legen, wie sie wollen, und bekommen die besten Essensreste meiner Eltern jeden Tag frisch geliefert. Ich poste ein Foto des Hühnerstalls bei Instagram. Eine Bekannte schreibt darunter: „Ich wusste ja gar nicht, dass du so sehr vom Land kommst.“ Als wäre es verwunderlich, dass der Kuhstallgeruch nicht weiterhin und dauerhaft an mir haftet.

„Mama isst keine Eier mehr“, verrät mich meine Tochter jetzt beim Frühstück mit Roggenbrötchen. Einige Themen spare ich hier lieber aus, mit meiner Tochter wird das schwieriger. Seitdem ich auf Instagram eine Illustration mit der Erklärung „Menstruationsprodukt vom Huhn“ gesehen habe, kann ich kein Ei mehr essen. Mein Vater steigt glücklicherweise nicht ein in das Gespräch, er hat wohl schon genug Diskussionen mit mir hinter sich – und ich auch mit ihm. Schön ist: Wir können unsere verschiedenen Welten mittlerweile gut nebeneinander stehen lassen. Augenrollen hier und da inklusive. Vielleicht auch, weil wir sie nicht mehr zusammenbringen müssen, nicht mehr dauerhaft.

„Pack deinen Sack / Und geh auf die Reise / Fahr einfach los / Das Ziel, es kommt von selbst / Lass dich treiben / Du wirst ein anderer werden / Hab keine Angst / Denn nichts geht dir verlor’n / Und du trägst dein Dorf immer mit dir rum / Und du trägst dein Dorf immer mit dir rum“ (Rocko Schamoni)

Rocko Schamoni singt „Du trägst dein Dorf immer mit dir rum“ und es ist wahr. Wir sind auch, was wir mal waren – selbst wenn wir es gar nicht sein wollten. Die Gedärme der Hasen und die vielen Busfahrten hätte ich mir zwar selbst gern erspart, aber sie sind mit dafür verantwortlich, dass ich heute weiß, wie ich leben will. Und auch dafür, dass ich weiß, wie man auf einem Grashalm pfeift.

Ich versuche Busfahren zu vermeiden und fahre so viel Fahrrad wie möglich. Die U-Bahn vor der Haustür zu haben und damit fahren zu können, wohin ich will, bleibt für mich für immer Luxus. Heute ist Samstag, ich verlasse um 19 Uhr das erste Mal meine Wohnung, die Luft ist so mittel frisch, ich gehe zum Supermarkt um die Ecke und wieder nach Hause. Ich habe niemanden getroffen, den*die ich kannte, und alles bekommen, was ich brauchte. Von Kısır bis Klopapier. Jetzt schreibe ich ins Internet und esse ein Roggenbrötchen.

Der Originaltext von Mareice Kaiser ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.

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