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Sorry, aber mein Job braucht mich mehr als meine Familie und meine Freunde!

Sind die Prioritäten verrutscht? In dieser Woche fragt sich Silvia in ihrer Thirtysomething-Kolumne, wie viel wir unseren privaten Beziehungen zumuten, wenn die Arbeit immer an erster Stelle steht.

Von der Freizeit in Minimalform und Stammtischen, die leer bleiben

„Ich mach hier nur noch schnell was fertig, dann komm ich nach Hause.“ Ich schaue auf mein Handy, es ist kurz vor 22 Uhr. Es ist dieser eine Satz, bei dem man weiß: Das wird heute nichts mehr. Er kommt von ihm, er kommt von mir, er kommt von meinen Freund*innen und er kommt, so verlässlich wie das Amen in der Kirche, mehrmals die Woche. Es ist der Satz, der Abende unter der Woche ebenso zerstückelt wie die Samstage auf der Couch, oder die Runde des Stammtischs, den wir doch genau deshalb ins Leben gerufen haben, damit wir uns endlich mal wieder alle sehen. Und zwar regelmäßig. Aber irgendwer hat immer eine Präsentation zu machen, einen „Call“ vor sich, ein wichtiges Meeting am nächsten Tag, das vorbereitet werden muss – es gibt immer was zu tun. Und sei es nur, irgendwie nicht kaputtzugehen, weil Schlaf und Ausgleich immer wieder auf morgen vertagt werden. Viel zu selten haben wir dagegen noch etwas miteinander zu tun. Eine Situation, die sich natürlich multipliziert, wenn dazu noch Kinder Teil des Lebens sind. Denn in wie viele Menschen soll man sich eigentlich aufteilen, um allem und jedem gerecht zu werden? Und immer irgendwo im Hinterkopf die Frage: Muss man das eigentlich?

War das immer so? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass mir das Konzept „Stammtisch“ immer befremdlich vorkam, weil ich es vor allem mit Männern mittleren Alters, Holzvertäfelung im schummrigen Licht und schlechten Schenkelklopfern verband – heute weiß ich: Ohne festen Termin, den alle schon lange im Voraus kennen, weil es sich immer am selben Tag des Monats wiederholt, wird das nichts mehr mit den Treffen. Wir brauchen Stammtische, wir brauchen Doodle-Umfragen, wir brauchen gemeinsame Kalender – und sei es nur, um dann doch wieder abzusagen. Und ich weiß, dass von der guten alten „Freizeit“ oft nur noch ganz wenig übrig geblieben ist. Sei es, weil es Arbeitgeber*innen von einem verlangen oder wir von uns selbst. Wir wollen es doch so, oder? Aber Selbstverwirklichung im Job – und das ist schon die Luxusvariante, weil die eigene Sklavenhaltung selbstgewählt wird – hat nun einmal auch sehr häufig mit Ausbeutung zu tun. Wir beuten uns selbst aus, aber auch unsere Beziehungen zu Herzensmenschen, zu Freund*innen, zur Familie. Wir müssen das jetzt schließlich so machen, jetzt ist die Zeit, um reinzubuttern! Und alle anderen tragen es mit. Irgendwie. Bis sie es nicht mehr machen. Bis das Dasein als Teilzeit-Freund*in, Teilzeit-Alleinerziehende*r oder Teilzeit-Mitbewohner*in so sehr an einem rütteln, dass ein ziemlich einsames Schütteltrauma entsteht.

Du machst mich alleine, Mensch!

Rilkes „Du machst mich allein“ ist im Alltag vieler schon lange nichts mehr, was das romantische Herz klagt, wenn die Liebe dieses einen Menschen wieder nicht greifbar ist, sondern eigentlich könnten wir es uns doch viel zu häufig selbst zuraunen. Wir, die rennen, um gut zu sein, um überhaupt nur zu sein, um stark abzuliefern, um weiterzukommen, um die Karriereleiter hochzuklettern oder auch einfach nur bis Mitte des Monats Geld auf dem Konto zu haben. Wir rennen und rennen für den Job, für den Sinn, für die Miete – und dabei an so vielem vorbei, das uns lieb und teuer ist. An so vielen, für die wir doch eigentlich alles machen würden, aber eben nicht können: die Zeit schenken, die notwendig wäre. Man will ja, aber immer wird man gebraucht. Der Job, der läuft nicht ohne uns, das Team, das zählt auf uns, die Chefin muss wissen: Auf die ist Verlass. Oder weil die Angst uns zuraunt: Wenn du jetzt lockerlässt, fliegst du aus dem Job, aus dem System, bekommst du nichts mehr von der Anerkennung, nach der du so hungrig geworden bist.

Aber wer uns eben auch braucht sind die, die das mit uns gestalten, tragen und schützen, was wir unser Leben nennen. Das Leben, das sich immer weniger in klare Bereiche abtrennen lässt, und sich in der Mischung aus Arbeiten und Privatem doch zerstückelt statt zu fließen. Dieses große Puzzle des Alltags, bei dem am Ende des Tages doch immer so viele Teile fehlen, selbst wenn man noch so fleißig versucht, an allen Enden zu werkeln. Was vor einem liegt, ist immer nur halbfertig.

Alles easy: Sei doch einfach achtsam!

„Dann sei doch mal achtsam, vergiss nicht dich selbst, deine Freunde sind wichtiger als dein Job, und überhaupt, die Liebe!“ säuselt es dann von den bunten Bildern mit den klugen Sprüchen, die einem wie warmer Honig ins Ohr gleiten. Die klugen Sätze, die so leicht hingeschrieben oder eingesprochen wie wiederholbar sind, dass man fast glauben könnte, es geht. Ich kann das. Auch ich kann halblang machen und alles haben. Auch ich kann unperfekt sein und dafür geliebt werden, auch ich kann mich verwirklichen im Job, im Ich, in allem. Bis dann doch bei der Achtsamkeitsübung die Puste ausgeht oder das Handy klingelt. „Ja natürlich, das mache ich bis morgen fertig, kein Problem!“ – oder der vermeintlich wichtigste Gedanke der Woche durch die Hirnwindungen schießt, der, ohne sofort niedergeschrieben und zum Konzept gewandelt, verflogen wäre, wovon sicherlich am nächsten Morgen die Welt untergeht. Und war man endlich minutenlang achtsam, und hat dabei praktischerweise wieder mehr Kraft für produktives Denken getankt, dann ist man stolz auf sich und kriecht ins Bett, im schon dunklen Zimmer, und fragt sich, was der Mensch, der da neben einem liegt und leise atmet, wohl für eine Woche hatte. Was er sich wünscht, was sie gerade braucht.

Aber darum kann man sich morgen kümmern, jetzt heißt es schnell schlafen. Bald muss man wieder funktionieren. Wenn auch nicht ganz klar ist, für wen und warum und ob die Maschine, das sich fleißig drehende Rädchen, eigentlich auch das antreibt, was wirklich im Leben wichtig ist.

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