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Karrieretipps schön und gut – aber erst einmal muss ich meine Miete bezahlen können

Manchmal ist das Leben gar nicht so einfach, wie es viele Tipps vermuten lassen. Und zwischen Selbstoptimierung und Karriere, will und soll man auch so bleiben wie man ist. Aber geht das überhaupt?

 

Die Blogosphäre ist nicht das wahre Leben

Fertig mit den Mühlen des Bologna-Studiums – und zack rein in die Freiheit und Eigenverantwortung! Schön wär’s. Wer sich wie ich gerade in einer privaten und beruflichen Umbruchsphase befindet, und nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum lebt, der trägt sich mit zwei großen Baustellen herum. Es dreht sich nicht alles um die individuelle, dynamische Zukunftsvision, sondern es gibt auch ein Leben mit den bestehenden Gegebenheiten. Und da ja nicht nur bei mir nicht alles glatt läuft, hole ich mir Inspiration von anderen und teile meine Erfahrungen.

Meine favorisierten Anlaufstellen hierbei sind nicht nur Menschen, mit denen ich befreundet bin oder in meinen kreativen Tätigkeiten zusammenarbeite, sondern häufig auch das feministische Internet. Ich freue mich dann darüber, dass es Seiten wie die Mädchenmannschaft gibt, die die Analyse von Problemen in einem mehrfach diskriminierenden System zugänglich machen. Gleichzeitig freue ich mich, dass es Seiten wie Edition F, und das Chapter One Mag gibt, in denen Frauen Probleme, vor allem aber Strategien und Visionen für ein erfolgreicheres, schöneres und spaßigeres Leben teilen, und versuche, mir hin und wieder etwas abzugucken, aber auch meine eigene Position festzustellen und zu hinterfragen.

Alles also kein Problem, oder?

Ist also alles abgedeckt? Wieder einmal: schön wär’s! Denn die Frage ist doch, was möchte ich ganz persönlich erfahren und was brauche ich? Ganz egoistisch gesprochen: Ich möchte wissen, wie ich meine Miete zahlen, eine Tätigkeit als freie Redakteurin planen kann und trotzdem noch Platz für meine kreativen Leidenschaften, Privatleben und produktives gesellschaftliches Engagement finde. Dabei können einzelne Beiträge helfen. Aber in der Theorie weiß ich es doch längst.

Würde ich, so wie es für mein Fortkommen gut wäre, funktionieren, stände ich morgens auf, würde die Nachrichtenlektüre beim Frühstück erledigen, ein bis zwei Bewerbungen am Tag schreiben, ein veganes Menü kochen, einen Artikel schreiben, für den ich am Wochenende recherchiert habe, mich der kreativen Muße widmen, um dann abends lässig Freund_innen zu treffen und ihnen von meinem spannenden Tag zu berichten.

In Wahrheit aber, deprimiert mich all das

In Wahrheit stürzt mich die Nachrichtenlektüre in tiefe Frustration, wenn ich mir Bewerbungstipps dann bei den karriereorientierten Frauen von besagten Magazinen ansehe, gehe ich guten Mutes heran, schweife aber schnell zu meinen Problemen mit dem Jobcenter und vergangenen Arbeitserfahrungen, störe mich an den unrealistischen Anforderungen in Stellenausschreibungen oder philosophiere darüber, ob mein letztes negativ ausgefallenes Bewerbungsgespräch an meinem aus finanziellen Gründen nicht perfekt ausfallendem Bewerbungsoutfit oder meiner anfangs oft introvertierten Art gelegen hat, denke daran, dass ich beides gerade nicht ändern kann, flüchte mich zur kapitalismuskritischeren Mädchenmannschaft und habe schließlich gar keine Lust mehr, mich bei den dringlicheren Problemen Sexismus, Rassismus, Ableismus und Klassismus überhaupt noch weiter etwas so unwichtigem wie meinem eigenen beruflichen Werdegang zu widmen.

Vor dem Einkauf für das Mittagessen bin ich dann eher schon Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs als jung, talentiert und erfolgreich unter 30 und habe gar keine Energie mehr, die nötigen Schritte zu gehen oder Weichen für ein erträglicheres Leben zu legen.

Du siehst alles so negativ! Ist es doch auch!

Neulich traf ich mich mit losen Bekannten. Nachdem ich in den Themen Kultur, Politik und Arbeit von meiner Leidenschaft für kluge Dystopien erzählte, mich über den sich rasant steigernden Rassismus in Deutschland ausgelassen hatte, und die erfolglose Suche nach einem Job, der mich herausfordert und erfüllt, und/oder zumindest die Miete zahlt, ansprach, legte mir eine junge Frau ans Herz, ich solle mich nicht so stark auf die negativen Dinge konzentrieren, dies sei weder für meine eigene Psyche noch den beruflichen Werdegang gut und wenn ich einfach etwas Schönes mache, dann inspiriere ich andere, die dann ebenfalls etwas Schönes machen.

Das ist nichts neues, und im Grunde suche ich auch nach genau diesen Aussagen, wenn ich mich im Netz auf die Suche nach Inspiration begebe. Ich bin nämlich eigentlich richtig gut im schöne Dinge machen, mein Humor hat schon Menschen mein wahlweise tadelloses veganes Chili oder Borschtsch vor Lachen durch die Nase getrieben, an liebevoll erstellten Geschenken wurde sich erfreut, wenn ich Geschichten vorlas, fühlte mensch sich entertained und wenn es mir richtig, richtig schlecht geht (oder aber ich ganz doll möchte, dass mich jetzt jemand mag) dann kann ich diese Dinge auch gut vor mich hin sagen, damit sie entweder dazu führen, dass mein Ego oder ich gestreichelt werden.

Alles schön und gut, aber wie zahle ich meine Miete?

Das ändert aber nichts daran, dass ich nicht weiß, wie ich die nächste Miete zahlen soll, finde, das die Gesellschaft sich sowieso in einem unerträglichen Zustand befindet und ein Angestelltenverhältnis in den seltensten Fällen Kreativität, eigenständiges Denken und den verdienten Lohn bringt – vor allem nicht als Geisteswissenschaftlerin in Berlin.

Ich kann nicht über meine Zukunft nachdenken, ohne meine Position in ihr als weiß-deutsche Frau mit Eigensinn mit zu denken. Ich kann aber auch nicht von Luft und Liebe leben und vom Studium in die berufliche Perspektivlosigkeit gleiten. Ich kann und muss Eigenmarketing betreiben, aber bin gleichzeitig davon überzeugt, dass wir eigentlich gesellschaftlich weiter wären, wenn wir ehrlicher in Bezug auf unsere Schwächen sein könnten. Ich bin nicht authentisch, wenn ich nur anprangere, denn ich profitiere auch vom System. Ich bin nicht authentisch, wenn ich mich selbst nur als großartig darstelle, denn ich bin es oft nicht. Ich wünsche mir einen Aktivismus, in dem auch vor der eigenen Haustür gekehrt wird und eine Arbeitswelt, in der Selbst- und Fremdkritik erwünscht ist. Und ich wünsche mir eine Welt, in der erkannt wird, dass es manchen unmöglich ist, immer positiv und gleichzeitig ganz sie selbst zu sein.

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