Egal ob Rettungsanker oder goldener Käfig – Gleichberechtigung in Italien dreht sich ohne Zweifel um die Familie. Trotz rascher Fortschritte im EU-Vergleich zählt vor allem im Süden des Landes die Vereinbarkeit von Beruf und Muttersein zur größten Herausforderung für italienische Frauen.
„Die Frau regiert im Haus und der Mann bestimmt, wo es lang geht“
Wenn Nicoletta Cosentino morgens die Tür zu ihrem Laden aufschließt, bedeutet das für sie ein hart erkämpftes Stück Freiheit. Im Oktober weihte die 48-Jährige im Zentrum der süditalienischen Metropole Palermo ihre kleine Werkstattküche mit Verkaufsstelle ein. Auf der Fensterscheibe streckt eine zusammengeballte Faust die Teigrolle in die Höhe. Darüber steht: „Cuoche combattenti“, zu Deutsch „kämpfende Köchinnen“. Jeden Tag bereitet Cosentino – gemeinsam mit einer Handvoll Mitarbeiterinnen – Konfitüren, Pesto, Biscotti und vieles mehr zu. Auf den Etiketten der hausgemachten Produkte steht: „Liebe lässt keine Drohungen zu!“ oder „Wer dich liebt, kritisiert dich nicht ständig!“. Schlagfertige Botschaften mit denen die Köchin fortan die Frauen im Land erreichen will.
Cosentino und ihre Mitarbeiterinnen haben etwas gemeinsam: Sie sind Opfer häuslicher Gewalt, so wie mehr als 2,8 Millionen italienische Frauen. „Lange Zeit galt das Thema in Italien als Tabu. Insbesondere, wenn es um Gewalttaten des Partners oder Ex-Partners ging“, sagt Alessandra Notarbartolo vom Anti-Gewalt-Zentrum „Le Onde“ in Palermo. Sie lernte Cosentino vor vier Jahren kennen, als sich diese an das Frauenhaus wandte. „Gott sei Dank haben in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen den Mut gefunden, das Schweigen zu brechen“, sagt Sozialarbeiterin Notarbartolo. Nach aktuellen Zahlen des italienischen Amtes für Statistik (Istat) sind die Anzeigen von häuslicher Gewalt von sechs Prozent auf beinahe zwölf Prozent gestiegen. Das sei ein großer Erfolg.
Dass immer mehr Frauen offen über das Thema Gewalt sprechen, sei vor allem einem Ruck in der Zivilgesellschaft zu verdanken. „Nicht nur die Medien, sondern auch Aufklärungskampagnen in Schulen und Vereinen haben zu einem Bewusstseinswandel geführt“, sagt Notarbartolo. Seit über 20 Jahren kümmert sie sich in Palermo um Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Sie weiß, wie wichtig das Gemeinschaftsgefühl ist: „Entscheidend ist, dass die Frauen sowohl körperliche wie auch physische Gewalt überhaupt als solche wahrnehmen und nicht in Konfliktmustern denken. Dabei hilft der Austausch untereinander.“
Überwindung der eigenen Komfortzone
Auch für Nicoletta Cosentino war das größte Problem, sich der Gewalt in ihrer Ehe bewusst zu werden. „Zwar hat mein Mann mich nie geschlagen, aber ich lebte in einer Art goldenem Käfig. Unter ständiger Kontrolle und Demütigung“, erzählt die gebürtige Palermitanerin, „von Mal zu Mal schwand mein Selbstwertgefühl bis ich mich irgendwann einfach nur noch leer und ohne Identität fühlte.“ Erst im Gespräch mit den Betreuer*innen des Frauenhauses wurde ihr klar, dass sie jahrelang psychischer Gewalt ausgesetzt war.
Die größte Hürde sei es, die eigene Komfortzone zu überwinden. Für viele Frauen bedeuten die gewohnten Familienstrukturen Sicherheit – nicht nur finanziell, sondern auch moralisch. „Oftmals werden sie von ihrer Familie sogar ermutigt, tapfer zu bleiben“, so die Küchenchefin. Italien sei ein Land, das seit jeher durch katholische Werte und klar definierte Rollenbilder geprägt wurde. „Die Frau regiert im Haus und der Mann bestimmt, wo es lang geht. Das ist für viele leider immer noch Normalität und wird von Generation zu Generation weitergegeben.“
„Wenn es darum geht, Gewalt zu bekämpfen, sind Selbstbestimmung und finazielle Unabhängigkeit entscheidend“
Doch Cosentino hatte Glück. Ihre Familie ermutigte sie, neue Wege zu gehen. Irgendwann drückte ihre Schwester ihr die Nummer eines Frauenhauses in die Hand. „Nicht nur während meiner langen und schwierigen Trennung, sondern auch danach war die Unterstützung des Netzwerkes für mich maßgeblich“, erinnert sie sich. Der Verein vermittelte ihr ein Praktikum in einer Lebensmittelfabrik, wo sie ihre Leidenschaft fürs Kochen entdeckte und Stück für Stück ihr Selbstvertrauen zurückgewann. Endlich konnte sie ihre Fähigkeiten auch außerhalb des Haushalt wieder unter Beweis stellen und fühlte mich dabei geschätzt. Das war ein entscheidender Wendepunkt.
Mit ihrem eigenen Startup will die Gründerin nun dieses Selbstvertrauen nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen Frauen wiederaufbauen. „Die Idee dazu kam mir beim Abfüllen des selbstgemachten Tomatensugo. Anfangs wollte ich nur ‘Anti-Gewalt-Etiketten’ für Lebensmittel entwerfen, um meine mutmachenden Botschaften direkt in die Küchen der italienischen Familien zu tragen”, erzählt sie. Dann aber wurde ihr klar, dass vor allem das gemeinsame Kochen und der Austausch untereinander wichtig sind. Um das Projekt zu finanzieren, begann sie ihre kreativen Köstlichkeiten zu verkaufen.
Mittlerweile arbeiten drei weitere Frauen fest für das kleine Unternehmen. Neben zwei Sizilianerinnen absolviert seit kurzem auch eine Nigerianerin, die Opfer von Prostitution wurde, ein Praktikum bei „Cuoche Combattenti“. „Wenn es darum geht, Gewalt zu bekämpfen, sind Selbstbestimmung und finazielle Unabhängigkeit entscheidend,“, so Cosentino. Ihr Ziel: Sie will ein Unternehmen aufbauen, das andere Frauen dazu inspiriert, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Das bedeutet nicht zuletzt: wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Wer keine Familie hat, ist aufgeschmissen
Wie schwierig das mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit für Frauen in Italien ist, erlebte auch die Sizilianerin Clelia Giacalone. Nervös trommelt sie mit ihren Fingern auf das Lenkrad, während sie sich durch den chaotischen Verkehr Palermos kämpft. Die 37-Jährige holt ihren fünfjährigen Sohn Andrea von der Schule ab. Anschließend geht es weiter zur Oma, die nach dem Unterricht auf Andrea aufpasst. „Ohne die Großeltern wären wir aufgeschmissen!“, seufzt sie.
Es ist kurz nach eins. Die Pasta steht bereits auf dem Tisch, aber die junge Mutter hat keine Zeit zum Essen. Vor wenigen Wochen nahm sie erneut eine Teilzeitstelle in einer Anwaltskanzlei an. Seitdem ist jede Minute ihres Tages strikt durchgeplant. Für sie bedeutete der Job die Rettung vor dem finanziellen Aus. „Eigentlich war es mein Traum, als Selbstständige andere Frauen in ihrer neuen Rolle als Mutter zu unterstützen, doch leider ist unser Projekt gescheitert“, gibt Giacalone zu. „Ich kenne nicht viele Frauen in Palermo, die arbeiten gehen und gleichzeitig die Familie managen.“
Drastischer Mangel an Betreuungsangeboten
Das größte Problem sei die desaströse Infrastruktur. Es fehle an Kindertagesstätten, Horten und Ganztagsschulen. Im ärmsten Stadtteil Palermos, Zen 2, leben 20.000 Menschen, doch nur eine Kita stehe für rund 40 Kinder offen. Clelia Giacalone erzählt: „Die Schule endet um 13 Uhr. Schulbusse gibt es nicht. Wer dann keine familiäre Unterstützung hat, muss zu Hause bleiben.“ Überhaupt sei die Familie oft die einzige Sicherheit, die viele Frauen haben. Babysitter oder private Kindergärten kann sich nicht jeder leisten und manche kommen nur über die Runden, weil oftmals drei Generationen unter einem Dach zusammenleben.
Vor sieben Jahren gründete Giacalone mit ihrer Freundin Valentina Bruno eine Anlaufstelle für junge Mütter und Schwangere. Mit dem „Palermo Babyplanner“ wollten sie den drastischen Mangel an Betreuungs- und Informationsangeboten in Palermo ausmerzen. Neben einem Onlineratgeber veranstalteten sie Events für Kinder und eröffneten einen Co-working Space mit integrierter Kinderbetreuung. „Das, was unsere Kolleginnen in Mailand mit Erfolg umsetzen, hat hier im Süden keine Chance. Zum einen gibt es zu wenige Freelancerinnen, die Smartworking-Angebote nutzen, zum anderen fehlt den meisten das Geld dazu“, erklärt die ehemalige Unternehmerin.
Zukunft Smartworking: Aber wie?
Der große Unterschied zwischen Nord- und Süditalien wird vor allem beim Blick auf die Beschäftigungsquote von Frauen deutlich. Italien belegt aktuell den letzten Platz in der Rangliste des „European Instituts for Gender Equality“. Nur 53 Prozent der Frauen zwischen 20 bis 64 Jahren gehen einer beruflichen Tätigkeit nach. Hart trifft es vor allem Frauen mit Kindern. Nur eine von drei Müttern in Italien arbeitet. In Süditalien sind es sogar noch weniger. In Palermo sind beispielsweise nur rund 26 Prozent der Frauen in einem Beschäftigungsverhältnis.
Vor allem Selbstständige und Freiberuflerinnen sind im Süden des Landes eher eine Seltenheit. Psychologin Ana Rodrigues Afonso, die vor 15 Jahren aus Portugal nach Sizilien kam, sieht dennoch in modernen Entrepreneur-Modellen einen beruflichen Nährboden. Mit ihrem Projekt „100% Me Stessa“ schult sie Frauen, die auf eine Zukunft als Jungunternehmerinnen setzen. „Während in Städten wie Mailand oder Bologna Smartworking mittlerweile Trend ist, schrecken in Palermo noch viele davor zurück.“ Vor allem fehle es an einem Netzwerk und Orten, an denen die Frauen in Kontakt zueinander treten und sich gegenseitig insipirieren. „An mich wenden sich Mütter, die zurück in die Arbeitswelt wollen – die meisten kommen aus den Bereichen Mode, Schmuck und Kunsthandwerk.“
Auch wenn Italien in vielen Schlüsselbereichen der Gleichstellung schwächere Ergebnisse vorlegt als der europäische Durchschnitt, entwickelt sich das Land deutlich rascher als viele seiner EU-Partnerstaaten. Seit 2005 kletterte es um ganze zwölf Plätze in der Rangliste des „Gender Equality Indexes“ nach oben. Einen riesengroßen Sprung machte Italien vor allem im Hinblick auf die weibliche Repräsentanz in Aufsichtsräten. Mit der Einführung des Gesetzes zur Frauenquote in börsennotierten Unternehmen im Jahr 2011 stieg der Frauenanteil in Führungspositionen sogar von drei auf stolze 36 Prozent – zweifelsohne ein wichtiger Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung.
Dieser Text von Helen Hecker (Palermo) ist zuerst auf deine Korrespondentin erschienen.
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