Foto: Christina Papakyriacou

Impostor-Phänomen: Die Angst, nicht gut genug zu sein

Du zweifelst an deinen Fähigkeiten? Ständig fragst du dich, ob deine Erfolge verdient sind? Klingt nach Impostor-Phänomen. Sabine Magnet kennt sich damit aus – und gibt im Interview Tipps für das Leben mit der Unsicherheit.

„Hoffentlich merkt niemand, dass ich das alles gar nicht so gut kann.“ „Phu, Glück gehabt, ist es mir dieses Mal gelungen.“ „Die sind nur nicht so streng mit mir, weil sie mich sympathisch finden.“ „Was, wenn meine Chef*innen feststellen, dass sie mit mir eine total unqualifizierte Person eingestellt haben?“ – Diese und ähnliche Gedanken treiben Menschen, die vom sogenannten Impostor-Phänomen betroffen sind, um. Egal wie erfolgreich sie sind, egal wie gut das Feedback ist, egal wie viele Qualifikationen sie vorweisen können – sie glauben nicht an ihre Fähigkeiten und leben mit der ständigen Angst, als Versager*in entlarvt zu werden und somit als Hochstapler*in dazustehen. 

„Es gibt eine wissenschaftliche Studie, die schätzt, dass 70 Prozent der Menschen solche Gedanken kennen“, sagt Sabine Magnet. Die Journalistin und Autorin weiß, wovon sie spricht, sie recherchierte ursprünglich aus eigenem Interesse und schrieb anschließend ein Sachbuch über das sogenannte Impostor-Phänomen. Wir haben uns mit ihr über diese Verschiebung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unterhalten und gefragt, was Betroffene dagegen tun können. 

In deinem Buch beschreibst du das sogenannte Impostor-Phänomen. Genauso häufig begegnete mir bei der Recherche auch der Begriff Hochstapler-Syndrom. Was ist der Unterschied?

„Obwohl ,Syndrom‘ weit verbreitet ist, vermeide ich diesen Begriff. Er pathologisiert das Impostor-Phänomen, obwohl es sich dabei nicht um eine Krankheit handelt. Die Betroffenen sind nicht per se krank, es handelt sich vielmehr um ein Phänomen, mit dem die meisten Menschen in ihrem Leben in Berührung kommen. In der Wissenschaft spricht man von einem Phänomen oder auch vom Hochstapler*innen-Selbstkonzept. Ich habe für mein Buch den Begriff ,Impostor-Phänomen‘ gewählt, weil ich ,Hochstapler*innen-Phänomen’ irreführend finde. Dabei denkt man an Krankheiten wie das Münchhausen-Syndrom oder geht fälschlicherweise davon aus, dass die betroffene Person hochstapelt. ,Impostor‘ hingegen ist im Deutschen quasi ein neues, nicht vorbelastetes Wort.“

Es handelt sich also nicht um eine Krankheit, aber was ist das Impostor-Phänomen?

„Die Wissenschaft ist sich da noch nicht einig. Pauline Clance, die gemeinsam mit Suzanne Imes das Phänomen zum ersten Mal beschrieben hat, sagte Jahre später, sie wünschte, sie hätte es als ,Impostor-Experience‘, also als Erfahrung statt als Phänomen beschrieben. Eigentlich handelt es sich um einen Zustand, in dem sich Menschen befinden; sie erfahren das Impostor-Phänomen – in unterschiedlichen Belastungsgraden.

Wie die meisten psychologischen Phänomene findet es auf einer Skala statt und bewegt sich zwischen ,Ich fange einen neuen Job an und verspüre in den ersten Wochen so ein Magengrummeln, aus Angst nicht qualifiziert genug zu sein‘ bis hin zu einem jahrelangen oder lebenslangen Gefühl von ,Ich bluffe doch nur, kann eigentlich nichts und wenn das jemand rausfindet, ist alles aus‘. Es handelt sich, wie gesagt, nicht um eine Krankheit, kann jedoch, je nach Belastungsgrad, zu körperlichen und seelischen Krankheiten wie Burnout oder Depressionen führen.“

Wie äußert sich das Impostor-Phänomen bei Betroffenen?

„Das ist relativ unterschiedlich. Allen gemein ist die Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten, die Überschätzung der Fähigkeiten anderer und dieses Gefühl, dass man eigentlich nur blufft und früher oder später dabei erwischt wird. Im Endeffekt internalisieren Betroffene die eigenen Erfolge nicht. Das bedeutet, sie führen ihre Erfolge nicht auf die eigenen Talente und Fähigkeiten zurück, sondern auf externe Faktoren wie Glück, ,die Sterne standen gut‘ oder ,die mochten mich halt‘. Also auf alles, außer darauf, was sie tatsächlich selbst können und geleistet haben. Und daraus ergibt sich ein Zyklus, denn: Wenn man eine gute Leistung oder einen erreichten Erfolg auf Glück zurückführt, steht man anschließend unter noch größerem Druck, die gleiche Sache erneut leisten zu können, obwohl man das vermeintlich schon beim ersten Mal nicht konnte. Dieser Druck ist immer begleitet von der Angst, andere könnten herausfinden, dass man eigentlich gar nichts kann.“

Es handelt sich dabei also um eine grobe Verschiebung zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung?

„Das Interessante an diesem Phänomen ist eigentlich, dass es sich dabei um ein Überschätzungs- und Unterschätzungsdilemma handelt. Wenn ich vom Impostor-Phänomen betroffen bin, unterschätze ich meine eigenen Fähigkeiten und überschätze, was die anderen können, im Stil von ,Woah, die sind alle so gut und ich nicht‘. Gleichzeitig überschätze ich mich bzw. meine Fähigkeit beurteilen zu können, was die Menschen um mich herum tatsächlich können. Und obwohl ich auf der einen Seite überschätze, was die anderen können, unterschätze ich sie gleichzeitig auch, weil ich davon ausgehe, dass sie nicht bemerken, wie wenig ich kann. Beim Impostor-Phänomen handelt es sich quasi um eine Verschiebung der Wahrnehmung auf allen Ebenen, nach innen und außen.“

Den Gedanken, bei einer Prüfung oder im Bewerbungsgespräch vor allem großes Glück gehabt zu haben, kennen wahrscheinlich die meisten Menschen. Wo hört normale Unsicherheit auf?

„Das ist eine individuelle Einschätzung, die abhängig vom persönlichen Leidensdruck ist. Die Grenze des Ertragbaren liegt bei uns allen woanders. Meiner Meinung nach werden diese Gedanken dann zum Problem, wenn man sich über einen längeren Zeitraum hinweg schlecht fühlt und Angst verspürt. Wenn du bspw. nicht gern zur Arbeit gehst, obwohl du deinen Job eigentlich magst. Aber auch da muss man unterscheiden: Wir sind fast alle nervös, wenn wir einen neuen Job anfangen, Eltern werden, den ersten Artikel schreiben oder zum ersten Mal am offenen Herzen operieren. Die Krux an der Sache ist ja, dass wir alle bluffen müssen. Das gehört zum Leben. Wir alle müssen Dinge tun, die wir noch nie zuvor gemacht haben, um sie früher oder später zu beherrschen. Dieses Gefühl zu bluffen, kommt also nicht von ungefähr. Zum Problem wird es dann, wenn diese schlechten Gefühle, die Angst oder Stress-Symptome wie Magengrummeln, Hautausschlag oder Herzklopfen länger andauern als bspw. nur die ersten Wochen im neuen Job. Das ist der Punkt, an dem man sich näher anschauen sollte, was da los ist.“

Wie kann das aussehen?

„Es ist unterschiedlich, was betroffenen Menschen hilft. Mir hat es geholfen, zu wissen, dass es anderen auch so geht. Ganz am Anfang meines Buches beschreibe ich den Moment, in dem ich mir dieser Gedanken überhaupt erst bewusst werde. Das Problem: Weil wir schon so lange in diesem Gefühlsmeer schwimmen, realisieren wir überhaupt nicht, dass das nicht ,normal‘, nicht gesund ist. Wir sind derart an diesen Zustand gewöhnt, dass wir gar nicht mehr verstehen, dass es auch noch eine leichtere, freiere Version des Lebens gibt.

Der Moment, in dem mir eine befreundete Fotografin erzählte, sie habe große Angst davor, dass alle merken, dass sie eigentlich nur Glück hat, wenn bei ihren Shootings gute Fotos entstehen, hat mich ins Mark getroffen. Es war ein Wahnsinnsgefühl zu realisieren, dass es nicht nur mir so geht. Als ich bei der anschließenden Recherche herausfand, dass es einen Namen für diese Gefühle und Gedanken gibt, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Weiß man um dieses Phänomen, hilft es, sich selbst zu beobachten, mit anderen darüber zu sprechen und mehr über mögliche Strategien zu erfahren, damit umzugehen.“

Was sind das für Strategien?

„Das ist sehr individuell. Wenn du große Schwierigkeiten hast und merkst, dass du kurz vor einem Burnout stehst, ist es sicher ratsam, dich so rasch wie möglich in die Hände einer Fachperson zu begeben. Man fährt ja auch nicht mit einem Auto, das einen Platten hat, sondern bringt es in die Werkstatt. Manchen Menschen hilft es, mit einer Psychologin zu sprechen, andere wiederum machen ein Coaching.“

Gibt es darüber hinaus Tricks und Tipps, die du heute noch anwendest?

„Meditation ist eine großartige Sache – das hilft ja für und gegen alles (lacht). Man ist mit sich, bleibt im Jetzt und auf den eigenen Atem konzentriert. Das hilft total, wenn der Kopf mal wieder rast und sich mit Gedanken wie ,Oh, was habe ich denn da wieder gemacht‘ und ,Das ist scheiße‘ füllt. Durch Meditation lernt man, dieses Gedankenkarussell zu kontrollieren. Die meisten Menschen leben relativ unbewusst. Ich habe gar nicht realisiert, dass in meinem Kopf den ganzen Tag die Gedanken rasen und ich dabei wahnsinnig schlecht über mich rede. Meditation ist ein Mittel, dir dessen bewusst zu werden und etwas Kontrolle über diesen Gedankenwahnsinn zu bekommen, der sich früher oder später auch im Körper manifestiert.

Diese ständige Angst, nicht gut genug zu sein, versetzt uns in einen dauerhaften Stresszustand. Und so ein permanent hohes Stresslevel hält kein Mensch lange aus. Zudem ist es empfehlenswert, an der Dankbarkeit zu arbeiten, ein Erfolgstagebuch zu führen und das Selbstbewusstsein bzw. Selbstmitgefühl zu stärken. Ich bin großer Fan von sogenannten geführten Meditationen, die sich dem Selbstmitgefühl widmen. Man hat nämlich festgestellt, dass es gar nicht unbedingt möglich ist, den Selbstwert an sich zu stärken. Natürlich kann man in den Spiegel schauen und sagen ,Du bist toll, du bist toll, du bist toll‘, aber ob ich das dann wirklich glaube, ist eine andere Sache. Wenn ich aber mein Selbstmitgefühl – also die Empathie mit mir selber – stärke und lerne, mir zu verzeihen, mich zu akzeptieren, stärkt das automatisch auch mein Selbstwertgefühl.

Inwiefern hilft das gegen Impostor-Ängste?

„Wenn du dieses Gefühl stärkst – ,du bist ok, auch wenn du scheiterst‘ – verminderst du dadurch auch diese Ängste. Scheitern ist dann nicht mehr so bedrohlich. Du magst dich ja trotzdem, und wenn du dich selbst magst, hast du eben auch nicht dieses krasse Bedürfnis, Bestätigung von außen zu bekommen. Natürlich hilft das nur bis zu einem gewissen Grad, aber du weißt, es gibt in jedem Fall einen Menschen, der dich liebt, und dieser Mensch bist du. In dem Moment, in dem du deine eigene Sicht aufs Leben änderst, in dem du Scheitern an sich nicht mehr so schlimm findest, lässt du los.

Im Zuge der Buchrecherche habe ich gelernt, dass Scheitern schlicht und einfach dazu gehört; ja, dass wir scheitern müssen. Leider haben wir keine besonders gute Scheiterkultur in Deutschland. Es ist uns peinlich, wenn wir etwas versucht haben, aus dem nichts geworden ist. Das ist in anderen Ländern anders. In den USA bspw. ist Scheitern ein Nachweis dafür, dass man Erfahrung hat. Scheitern gehört einfach zum Leben dazu, nur leider lernen wir das nicht in der Schule.“

„Über die Angst, nicht gut genug zu sein“ – ist der Untertitel deines Buches. Klingt, als hätte das Phänomen auch mit dem Streben nach Perfektion zu tun.

„Die Korrelation zwischen gewissen Charakter-Eigenschaften und dem Impostor-Phänomen ist hoch. Perfektionismus ist so eine Eigenschaft, oder auch Introversion. Man weiß jedoch nicht, ob diese Eigenschaften ein Ausdruck des Impostor-Phänomens sind oder umgekehrt. War ich zuerst perfektionistisch und introvertiert, was das Auftreten des Impostor-Phänomens begünstigt, oder hatte ich das Impostor-Phänomen bereits und im Zuge dessen entsteht das Gefühl, perfekt sein zu müssen.“

Sabine Magnet kennt das Impostor-Phänomen auch aus persönlicher Perspektive, die Auseinandersetzung mit dem Thema hat ihr geholfen, von den Selbstzweifeln und Sorgen Abstand zu nehmen. Foto: Christina Papakyriacou

Kennt man die eigentlichen Ursachen für das Auftreten des Impostor-Phänomens?

„Dieses Phänomen ist überdeterminiert. Das bedeutet, dass es sehr viele Gründe gibt, warum es auftreten kann. Von gesamtgesellschaftlichen Aspekten wie unserem Umgang mit Scheitern in der Schule und im Arbeitsleben, bis hin zu einem ganz individuellen Level wie die Rolle, die man in der Familie innehatte oder die Erziehung. Warst du bspw. immer die Kreative in der Familie und plötzlich stellt sich heraus, dass du total gut in Mathe bist, wird das zu einem Problem, denn das entsprichst nicht der dir zugeteilten Rolle. Auch Phänomene wie Helikopter- oder Curling-Parenting begünstigen das Impostor-Phänomen. Räumen Eltern ihren Kindern alle Steine aus dem Weg, nehmen sie ihnen die Möglichkeit, die Fähigkeit zu entwickeln, mit dem Scheitern umzugehen.

Und lobt man Kinder für jeden kleinen Quatsch, haben sie spätestens in der Schule ein Problem, wenn sie das erste Mal eine Fünf bekommen. Für ein Kind, das bisher nur Lob erfahren hat, bricht dann eine Welt zusammen. Das mag sich total banal anhören, aber für das Kind ist das traumatisch. Ebenfalls eine Rolle spielen kann die Tatsache, wie in deiner Familie Intelligenz definiert wurde. Erzählen Eltern bspw., dass intelligente Menschen kaum lernen müssen, zweifelt ein Kind ab dem Moment an sich, an dem es dann eben doch lernen muss. Es geht dann fälschlicherweise davon aus, nicht intelligent zu sein.“

Und welche gesellschaftlichen Ursachen sind dir bei der Recherche begegnet?

„Teil einer Minderheit zu sein, ist ebenfalls ein Faktor, der das Impostor-Phänomen begünstigt. An Orten, an denen du unterrepräsentiert bist, bekommst du – ob absichtlich oder unabsichtlich – gespiegelt, dass du nicht dazu gehörst. Das betrifft Frauen, die in männderdominierten Branchen arbeiten oder, wie in meinem Fall, Arbeiter*innen-Kinder, die als Erste in ihrer Familie eine Universität besuchen. Zudem gibt es Studien aus den USA, die belegen, dass Schwarze Menschen und People of Color an Universitäten zu einer viel größeren Prozentzahl das Impostor-Phänomen erleben als weiße Menschen.

Im Zuge meiner Buch-Recherche ist mir auch das Racial-Impostor-Phänomen begegnet, das besagt, dass Menschen, die bi/multi-racial sind, sich in allen ethnischen Gruppen, denen sie angehören, wie Impostor vorkommen. Das heißt, wenn du bi-racial bist, bspw. dein Papa ist schwarz und deine Mama weiß, wirst du häufig weder als schwarz noch als weiß akzeptiert. Inzwischen weiß man, dass es ganz unterschiedliche Ausprägungen des Impostor-Phänomens gibt und es insbesondere im privaten Bereich noch sehr unerforscht ist.“

Das Phänomen kann sich also in ganz unterschiedlichen Bereichen äußern und auswirken, sei es auf die Psyche, im Privatleben sowie im Beruf. Wie äußert sich das Impostor-Phänomen bei Letzterem?

„Es gibt zwei grobe Richtungen: Die eine Gruppe Menschen schießt dennoch die Karriereleiter hoch, aber fragt sich die ganze Zeit, wie das möglich ist und entwickelt dabei ein Burnout. Sheryl Sandberg beschreibt in ihrem Buch, wie sie genau darunter gelitten hat. Und dann gibt es die Gruppe Menschen, die sich bewusst nicht auf Stellen bewirbt oder an einem bestimmten Punkt aussteigt. Das fängt jedoch schon früher an, wenn sich Angestellte bspw. in Konferenzen nicht zu Wort melden, ihre Ideen für sich behalten. Das ist sowohl für den*die Arbeitnehmer*in als auch für das Unternehmen ein großer Verlust.

Zahlreiche Menschen fahren unter dem Radar und leben ihr Leben nicht so, wie sie es eigentlich könnten. Das ist auch aus wirtschaftlichen Gründen schade, weil dadurch viele gute Ideen nie umgesetzt werden. Tatsächlich gibt es immer mehr Unternehmen, die ihre Unternehmenskultur dahingehend umkrempeln. Sei es, dass Arbeitgeber*innen offen über dieses Phänomen sprechen, Coachings anbieten oder an ihrer Fehlerkultur arbeiten.“

Interessant fand ich, dass man zwar häufiger von betroffenen Frauen liest, du in einem Interview aber erzählt hast, dass die Mehrheit der Studien belegt, dass alle biologischen Geschlechter gleichermaßen vom Phänomen betroffen sind.

„Das hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie Studien durchgeführt werden. Eine neue Studie hat gezeigt, dass es nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun hat, ob man vom Impostor-Phänomen betroffen ist, sondern vielmehr mit Attributen, die einem bestimmten Geschlecht zugeschrieben werden. Attribute, wie ,liebevoll‘, ,fürsorglich‘ sind eher weiblich konnotiert, Attributte wie ,aggressiv‘, ,mutig‘ sind eher männlich konnotiert. In der Wissenschaft geht man davon aus, dass jene Leute, die sich stereotyp weibliche Attribute zuschreiben, eher vom Impostor-Phänomen betroffen sind als Leute, die sich stereotyp männlich konnotierte Attribute zuschreiben.

Tatsächlich gibt es eine Studie, die schätzt, dass mindestens 70 Prozent der Menschen das Impostor-Phänomen mindestens einmal in ihrem Leben erfahren. Es scheint also eine relativ gängige, menschliche Erfahrung zu sein. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob sich das Phänomen und die entsprechenden Auswirkungen bei einer Person festsetzen oder wieder verabschieden.“

Was hat sich für dich verändert, seit du dich so intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hast?

„Ich habe während der Recherche-Phase für mein Buch das Projekt ,Poetry to go‘ gestartet. Obwohl ich schon lange Gedichte schreibe, habe ich mich damit kaum an die Öffentlichkeit getraut. Während dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Impostor-Phänomen habe ich mir eine Schreibmaschine gekauft und im Pop-up-Store einer Freundin Gedichte auf Bestellung geschrieben, aus dem Stegreif und innerhalb weniger Minuten. Etwas schreiben zu müssen, bei dem von Anfang an klar ist, dass es in so kurzer Zeit gar nicht perfekt werden kann, half mir, diesen Anspruch loszuwerden. Ich habe mich in eine Situation begeben, in der ich scheitern musste und dadurch gemerkt: Das ist gar nicht schlimm. Als ich einer Freundin angeboten habe, das in so kurzer Zeit entstandene Gedicht nochmal neu, ohne Fehler abzutippen, meinte sie zu mir: ,Nein, das ist ja gerade das Schöne.‘ Das war eine Offenbarung für mich.

Ich bin so froh, dass ich es gewagt habe, zu scheitern. Dadurch hat sich mein ganzes Leben verändert. Heute verdiene ich mit dem Schreiben von Gedichten sogar Geld. Ich glaube, wenn man sich der Welt zeigt – und das ist ja die Angst, dass man sich der Welt zeigt und die dann sagt, du bist nicht genug – überwiegt das Gute, das aus dieser mutigen Entscheidung entsteht. Es ist befreiend, weil du auf einmal so sein kannst, wie du wirklich bist.“

Sabine Magnet arbeitet seit zwanzig Jahren als freiberufliche Journalistin, Autorin und Kolumnistin. 2017 startete sie zudem das Projekt „Poetry to go“, eine Poesieperformance, die auf der jahrhundertealten Tradition der Auftragsdichtung beruht.

In ihrem Buch „Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann?: Über die Angst, nicht gut genug zu sein.“ beschreibt Sabine Magnet das Impostor-Phänomen in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und zeigt Lösungswege und Strategien auf.

Dieser Artikel erschien erstmals am 29. August 2020 im Magazin von EDITION F (Plus).

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